Alle menschen sind gleich ohne haut

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Rassismus

Gibt es Rassismus gegen Weiße?

Um das zu beantworten, muss man sich die Wirkweisen, die Verbreitung und die Geschichte des Rassismus anschauen.

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Inhalt

Artikel Abschnitt: Richtet sich Rassismus immer nach der Hautfarbe?

Richtet sich Rassismus immer nach der Hautfarbe?

In der Forschung herrscht große Einigkeit, dass sich Rassismus nicht nur nach der Hautfarbe richtet. So gibt es unterschiedliche Formen des Rassismus – Anti-Schwarzen-Rassismus, antiasiatischen Rassismus, antimuslimischen Rassismus, Rassismus gegen Menschen aus Osteuropa oder Rassismus gegen Sinti und Roma. Manche Forscher:innen betrachten auch Antisemitismus als eine Form von Rassismus, andere klassifizieren ihn als eigenständige Form der Diskriminierung.

Das heißt also: Auch Menschen mit weißer Hautfarbe können rassistisch diskriminiert werden – etwa wegen ihrer Religion, ihrer vermeintlichen Herkunft oder auch wegen eines Akzents.

Die Diskussion um “Rassismus gegen Weiße” hat aber oft einen anderen Hintergrund. Vor allem unter Posts mit rassismuskritischen Inhalten findet man viele solcher Aussagen:

  • „Es tut aber auch weh, scheiß Deutscher genannt zu werden.“
  • „Man soll mich nicht als Köterrasse, Alman, Kuffar oder Kartoffel bezeichnen. Und die Gesellschaft soll endlich akzeptieren, dass es okay ist, weiß zu sein.“
  • „Mich fragen die Leute im Namibia-Urlaub auch, woher mein Name kommt! Das zeigt freundliches Interesse und wir beide sind im Gespräch.“
  • „Wenn die Deutschen rassistisch beleidigt werden, soll man das stillschweigend hinnehmen?“

Zu allererst: Beleidigungen, Angriffe – diese Erfahrungen sollte niemand machen müssen, keine Frage. Aber sind Aussagen und Situationen wie die oben rassistisch? Um das zu beantworten, muss man sich Rassismus in seiner ganzen Komplexität anschauen.

Artikel Abschnitt: Woher kommt Rassismus eigentlich?

Woher kommt Rassismus eigentlich?

Spuren davon gehen zurück bis in die Antike, wo schon Aristoteles versucht hat, anhand von angeblichen Rassemerkmalen zu begründen, warum die Griechen anderen Völkern überlegen seien. Im Mittelalter wurde Europa dann zum christlichen Kontinent ernannt, auf dem etwa der Islam nichts zu suchen haben sollte. Der Rassismus nahm zu dieser Zeit richtig Fahrt auf, als die Christen einen Jahrhunderte andauernden Kampf um die iberische Halbinsel gewannen und Muslime und Juden vertrieben.

Biologische Merkmale, Wesenszüge, Abwertung

Um der Vertreibung zu entkommen, konvertierten viele Juden zum Christentum, doch das schützte sie nicht lange. Da viele von ihnen gebildet und wohlhabend waren und davon sogar der Adel eingeschüchtert war, wurde ein Gerücht in die Welt gesetzt, das lange überdauern sollte: Ihr jüdisches Blut mache sie gierig. Und sie seien eine Gefahr für alle mit reinem – also christlichem – Blut.

Es wurde also ein kultureller Unterschied (in diesem Fall die Religion vor der Konversion) zu einer erblichen Eigenschaft gemacht – und abgewertet. Zusammen mit biologischen Eigenschaften, die mit bestimmten Wesenszügen verknüpft und abgewertet werden, ist das noch immer der Kern des Rassismus.

Ungefähr zeitgleich zu diesen Entwicklungen begann die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents. Da das neue Land genutzt werden sollte, aber die Mehrheit der Indigenen eingeschleppten Krankheiten zum Opfer fielen, wurden versklavte Menschen aus Afrika geholt.

Rassismus wird zur wissenschaftlichen Lehre

Während die Hierarchisierung der Rassen bis dahin eher Mittel zum Zweck war, damit zum Beispiel Christen die Oberhand behielten, wurde sie im 18. Jahrhundert zu einer wissenschaftlichen Lehre entwickelt: der sogenannten Rassentheorie. Sie diente dazu, Menschen aufgrund von Herkunft und Äußerlichkeiten wie Haut-, Augen- oder Haarfarbe in Kategorien einzuteilen, in Rassen. Und ihnen dann bestimmte Wesenszüge oder Eigenschaften zuzuschreiben.

Da hieß es dann: Schwarze Menschen seien zum Beispiel schnell, stark und wenig schmerzempfindlich, aber auch faul, aufbrausend – und wenig intelligent. Während weiße Menschen vollkommen, schön, lebhaft und klug seien.

Eins war in dieser Lehre immer gleich: Weiße waren ganz oben

Und so wurden die Menschen dann hierarchisch sortiert: oben die Europäer, dann Indigene, Asiaten und unten die Afrikaner. Die Reihenfolge der Gruppen variierte immer mal wieder, zum Teil gab es auch detailliertere Differenzierungen zwischen den angeblichen „Rassen“. Aber eins war in dieser Lehre immer gleich: Weiße waren ganz oben.

Um das zu begründen, wurden wissenschaftliche Belege konstruiert. Schädelvermessungen sollten zum Beispiel belegen, dass schwarze Menschen primitiver seien als Weiße. Nur um das klarzustellen: All das ist längst widerlegt. Doch es wurde genutzt, um Sklavenhandel, Kolonialisierung, Völkermorde zu legitimieren – und schaffte die Grundlage für ganze Gesellschaftsstrukturen wie die Rassentrennung oder das Apartheidsystem. In der Nazizeit wurde die Rassenideologie der Nazis in den Nürnberger Gesetzen festgeschrieben – und endete in der Massenvernichtung von Menschen vermeintlich minderwertiger “Rassen”.

Weg von den Genen, hin zur Kultur

Dass Weißsein heute bei uns noch immer in der Regel als „Standard“ angesehen wird, geht auf all das zurück – dass Menschen lange Zeit anhand ihrer äußerlichen Merkmale und ihrer angeblichen “Rasse” kategorisiert und hierarchisch sortiert wurden.

Die Begründungen rassistischer Diskurse allerdings haben sich verschoben – weg von den Genen und der Hautfarbe allein, stärker hin zur Kultur. Es wird heute also eher, aber nicht nur, nach Sprachen, Kulturen und Religionen klassifiziert, die als höher- oder minderwertig wahrgenommen werden und die, ähnlich wie bei den konvertierten Juden des Mittelalters, als erblich angesehen werden. Das nennt man Kultur- oder Neorassismus.

Artikel Abschnitt: Was bedeutet „weiß“ überhaupt?

Was bedeutet „weiß“ überhaupt?

Wenn es heißt, Rassismus gegen „Weiße“ gebe es nicht, hängt das meist mit der Definition des Begriffs „weiß“ zusammen.

Von vielen Rassismusforscher:innen wird „weiß“ als mehr als nur eine Hautfarbe gelesen. Der Begriff “weiß” meint demnach nicht alle Menschen mit heller Haut. Er umschreibt – und hier wird es etwas komplizierter – eine soziale Kategorie. Diese bezieht sich nicht allein auf weiße Haut, sondern bezeichnet eine gesellschaftliche Positionierung: Mit „weiß“ ist in Deutschland die Mehrheit an Menschen gemeint, die keiner rassistischen Diskriminierung ausgesetzt sind. 

Der Rassismusforscher Karim Fereidooni beschreibt „Weißsein“ so: “Weißsein ist eine gesellschaftliche Positionierung. Je mehr eine Person dem globalen Schönheitsideal des Weißseins entspricht, desto weniger rassistische Diskriminierung erfährt diese Person. Weißsein ist dabei nicht nur auf die Hautfarbe bezogen. Weißsein bezieht sich auch auf historische Verhältnisse und Erfahrungen der Unterdrückung bzw. der Privilegierung. Weißsein kann unter anderem damit übersetzt werden, dass Menschen unhinterfragbar als gleichwertige Menschen anerkannt werden, ohne sich rechtfertigen oder ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen zu müssen.”

Manche Wissenschaftler:innen sprechen sich allerdings für andere Begrifflichkeiten aus. Die Soziologin Anja Weiß schlägt etwa “rassistisch Dominante” vor – auch, um deutlicher zu machen, dass Rassismus sich eben nicht nur auf die Hautfarbe bezieht, sondern gerade in Deutschland auch an anderen Unterscheidungslinien entsteht, an Kategorien wie nicht-christlich, vermeintlich “nicht-deutsch” oder vermeintlich “migrantisch”.

Die Historiker Hans-Christian Petersen und Jannis Panagiotidis plädieren deshalb in einem Debattenbeitrag dafür (in dem sie auch eine frühere Version unseres Textes kritisch erwähnen), in der hiesigen Diskussion um Rassismus nicht nur in den Kategorien “nicht-weiß” und “weiß” zu argumentieren.

„Die Hautfarbe stellt im Alltag den primären und offensichtlichen Marker für rassistische Diskriminierung dar, entsprechend erfahren Menschen, die schon rein äußerlich als ‚anders‘ wahrgenommen werden können, häufiger und direkter Rassismus als solche, für die das ‚auf den ersten Blick‘ nicht gilt. Diese Differenzierung tut not, analytisch wie aus Sicht der Betroffenen”, schreiben sie. “Sie kann aber nur getroffen werden, wenn wir Rassismus nicht auf eine allumfassende Dichotomie verkürzen.“

Um stärker zu differenzieren und ersichtlich zu machen, wann wir von Weißsein als gesellschaftlicher Position sprechen, schreiben wir das Wort dann im Rest des Textes in Anführungsstrichen: “weiß”.

Artikel Abschnitt: Wie ist Rassismus definiert?

Wie ist Rassismus definiert?

Für die Diskussion um Rassismus ist zentral, was mit Rassismus eigentlich genau gemeint ist. Häufig wird in diesem Zuge die Definition der UN genannt.

Danach ist Rassismus “jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.”

Oft heißt es dann: Die Definition zeige ja, dass etwa Beleidigungen (wie in unseren Ausgangsbeispielen) eben doch rassistisch seien – das haben auch einige von euch uns geschrieben. Allerdings unterstreicht die zweite Hälfte der Definition: Nicht jegliche Beleidigung entlang von Kultur und Nationalität ist rassistisch, sondern nur solche, die die Gleichberechtigung im öffentlichen Leben untergraben.

Rassismusdefinition nach Philomena Essed

Eine anerkannte Definition, auf die viele Rassismusforscher:innen verweisen, stammt von Philomena Essed und lautet wie folgt: 

Rassismus ist „eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige „Rassen“ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.“

In der politischen und in der wissenschaftlichen Diskussion wird also unterstrichen, dass nicht jede Beleidigung oder Ungleichbehandlung als Rassismus zu bezeichnen ist, selbst wenn sie aufgrund der Hautfarbe oder der Herkunft geschieht.

Rassismus hat verschiedene Ebenen

Der Rassismusforscher Karim Fereidooni betont in diesem Kontext auch den Faktor Machtstrukturen – also die „gesellschaftliche Macht, seine eigenen Vorurteile auf wichtige Teilbereiche der Gesellschaft zu übertragen wie den Wohnungs-, Arbeits- und Bildungsmarkt und systematisch andere Menschen auszuschließen“.

Und auch die Traditionslinie der Rassenkonstruktion gehöre zum Rassismus dazu: “Neben dem klassischen biologistischen Rassismus sprechen wir hier auch vom Neo- oder Kulturrassismus, der mit der Höherwertigkeit von Sprachen, Kulturen und Religionszugehörigkeit operiert”, so Fereidooni.

Daher macht die Politologin Emilia Roig Rassismus nicht nur an der individuellen Ebene, sondern auch an weiteren Ebenen fest: einer historischen – und an einer strukturellen beziehungsweise institutionellen Ebene. Darauf gehen wir gleich noch konkreter ein. 

Rassismus ist ein stabiles System der Ungleichstellung

Also zurück zur Ausgangsfrage: Es kann passieren, dass ein “weißer” Deutscher wegen seiner Hautfarbe oder seines Deutschseins auch mal anders behandelt, beleidigt oder sogar angegriffen wird – und somit situativ Diskriminierung erfährt. Aber, schreibt Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Wozu Rassismus?“: “Dass dies […] irgendwo auf der Welt systematisch passiert, kann nicht nachgewiesen werden.” 

Und das ist ein springender Punkt. Denn wenn die “weiße” Person diese spezielle Situation verlässt, findet sie sich in einer Gesellschaft wieder, in der sie weder wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrer vermeintlichen Herkunft als minderwertig abgewertet, noch systematisch in wichtigen Bereichen der Gesellschaft diskriminiert wird – etwa bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem. Sondern in einer Gesellschaft, in der sie von den Strukturen profitiert. 

Rassismusforscher Fereidooni beschreibt es so: „Wenn jemand zu dir Kartoffel sagt oder dich als Weißen beleidigt, erfährst du situativ eine Diskriminierung. Aber das Wort Kartoffel hat keine rassistische Traditionslinie. Wenn du diese spezifische Situation verlässt, dann weißt du ganz genau: Maximilian, wenn du eine Wohnung suchst, bist du privilegierter als Karim. Wenn du eine Ausbildung suchst, bist du privilegierter, wenn du auf dem Bahnhof stehst, wirst du nicht kontrolliert, zumindest nicht so häufig wie Karim. Du musst deine Daseinsberechtigung nicht unter Beweis stellen.”

Artikel Abschnitt: Was ist mit Menschen, die weiße Haut haben, aber trotzdem Rassismus erfahren?

Was ist mit Menschen, die weiße Haut haben, aber trotzdem Rassismus erfahren?

Um Rassismus durchzusetzen, sei zumindest zeitweise extreme physische Gewalt notwendig, sagt die Soziologin Anja Weiß. Diese Gewalt findet sich in historischen Ereignissen wieder: In Sklavenhandel, Kolonialisierung, Völkermord, in der jahrhundertelangen systematischen Versklavung bis hin zur Ausrottung einzelner Gruppen.

Solche extreme Gewalt findet sich auch hier in Europa: Im Holocaust mit der Ermordung von Millionen Juden und dem Genozid an Sinti und Roma, sie findet sich aber auch in der gewaltvollen Unterdrückung der Bevölkerung im Osten Europas, von den Nazis zu “slawischen Untermenschen” deklassiert – der Vernichtungsfeldzug im zweiten Weltkrieg wird oft auch als koloniales Projekt der Deutschen bezeichnet. 

Rassistische Exzesse haben sich also nicht nur entlang der Hautfarbe entsponnen, auch Menschen mit weißer Hautfarbe wurden rassifiziert – etwa Menschen aus Osteuropa. “Doch diesen Menschen wurde ihr ‘Weißsein’ aberkannt, indem eine “slawische Rasse” konstruiert wurde, die systematisch als minderwertig und weniger intelligent abgewertet wurde”, so beschreibt es der Rassismusforscher Karim Fereidooni. Noch heute sei auch der Rassismus gegen Menschen aus Osteuropa in unserer Gesellschaft verankert, würden Menschen als nicht “weiß” genug, als nicht deutsch genug gelesen – etwa wegen eines polnischen Akzents. 

Aladin El-Mafaalani formuliert es anders: “Hier (und in anderen Teilen Europas) müsste man sagen: ‚Menschen mit Wurzeln in Ost- oder Südeuropa erleben Rassismus, aber nicht weil, sondern obwohl sie weiß sind.“ Während sie in den USA einfach Weiße seien – und nicht von Rassismus betroffen.

Rassismus über Sprache

Rassistische Diskriminierung beziehe sich hier oft auf Sprache, sagt Karim Fereidooni – etwa wenn Lehrkräfte sagen, Kinder sollen in der Schule kein Polnisch sprechen. Das nennt man Neolinguizismus. “Es kommt aber nicht nur darauf an, dass jemand mit Akzent spricht, sondern es kommt drauf an, welcher Akzent es ist.”

So korreliert in der Dissertation von Fereidooni etwa ein russischer oder ein türkischer Akzent mit Diskriminierungserfahrungen, ein englischer Akzent nicht. “Bestimmte Sprachen werden in unserer Gesellschaft abgewertet, andere Sprachen nicht. Es ist ein Traum eines jeden Schulleiters, einen Native Speaker Englisch oder Französisch zu haben, weil diese Sprachen einen hohen Bildungswert besitzen, aber eine Lehrkraft, die Native Speaker Türkisch ist, löst keine Freudentränen bei Schulleitungen aus.”

Position auf dem Arbeitsmarkt

Rassismus gegen Menschen aus Osteuropa äußere sich auch in „verankerten kulturellen Stereotypen, wie sie zum Beispiel in „Polenwitzen“ zum Ausdruck kommen“ oder in sexualisierten Zuschreibungen gegenüber osteuropäischen Frauen vor allem aber auch in der Position osteuropäischer Menschen auf dem Arbeitsmarkt, sagt Jannis Panagiotidis, Historiker und Migrationsforscher.

Er verweist auf die „Ausbeutungsverhältnisse in Bereichen wie der Fleischindustrie, der Landwirtschaft (Spargel!) und der Pflege, die Selbstverständlichkeit, wie in diesen Branchen während Corona die Gesundheit der dort arbeitenden Menschen aufs Spiel gesetzt wurde und auch die zum Teil zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine geäußerte Sorge, wer denn nun „unseren Spargel“ ernten solle.“

Panagiotidis kritisiert, dass diese Form des Rassismus in der Debatte oft unterginge – man müsse sie aber sehr ernst nehmen, um den deutschen Rassismus zu analysieren, schreibt er in seinem Debattenbeitrag: „Ein Rassismus, der die Menschen nicht trifft, weil sie ‚weiß‘ sind, sondern weil andere rassistische Hierarchisierungen äußerlich ‚weiße‘ Menschen treffen.“

Weitere Angaben zum Artikel:

Antisemitismus – oder warum der Begriff “weiß” nicht immer funktioniert

Weil viele von euch uns danach gefragt haben: Der Historiker Uffa Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung ist der Überzeugung, dass man den Holocaust nur unvollständig verstünde, wenn man ihn ausschließlich als rassistisch verstehe – und nicht als auch andersgelagertes antisemitisches Projekt. Aus der Sicht der Antisemitismusforschung machen demnach Kategorien wie „weiß“ weniger Sinn.

Jensen sagt: “Es ist historisch schwierig, Juden einfach als Weiße zu klassifizieren, gerade auch angesichts der durchaus vorkommenden Behauptung in den Quellen, dass die Juden schwarz seien. Rassisten kennzeichneten Juden natürlich meist als orientalisch oder osteuropäisch, was in beiden Fällen nicht-„arisch“ und somit – wobei diese Hautfarben-Kategorie selten explizit genutzt wurde – nicht-weiß meinte.”

Biologistische Zuschreibungen wie schwarze Haare, dunkle Augen, schlechte Körperhaltung hätten laut Jensen dabei eine große Rolle gespielt. Allerdings würde er nicht davon sprechen, dass Juden ihr Weißsein abgesprochen wurde. “Im Kern wurde ihnen ihr Menschsein abgesprochen. Deshalb enthumanisierte sie die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ziemlich systematisch.”

Und: “Gerade weil ‘Weißsein’ in den Diskussionen und in der Rassismusforschung zumeist mit einer privilegierten und superioren Position assoziiert wird, ist dies eine verfälschende Perspektive für die vielfältigen Abgrenzungen und Diskriminierungen von Juden”, so die Sicht von Jensen.

Artikel Abschnitt: Werden Menschen strukturell benachteiligt, weil sie weiß sind?

Werden Menschen strukturell benachteiligt, weil sie weiß sind?

Diese Frage lässt sich klar mit Nein beantworten. “Weiße” Menschen erfahren keine strukturelle Diskriminierung, weil sie eine weiße Hautfarbe haben. Dass “weiße” Menschen durchschnittlich mehr Bewerbungen verschicken müssen, bis sie einen Job bekommen oder es schwerer auf der Wohnungssuche haben, nur weil sie “weiß” sind, kommt nicht vor. Auch wird ein deutscher Name auf einer Bewerbung eher selten für Benachteiligung sorgen, ein türkischer Name und ein Kopftuch dagegen schon. Das zeigen Studien.

Dass weiße Menschen bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz oder in medizinischen Büchern nicht mitgedacht werden – auch das kommt nicht vor. Es gäbe etlicher solcher Beispiele.

Racial Profiling bei “weißen” Menschen?

Mal ein Gedankenspiel: Racial Profiling. Ob Racial Profiling bei der Polizei existiert, wird immer wieder kontrovers diskutiert. Vonseiten der Polizei und der Politik heißt es, die Beamt:innen würden keine Anweisung bekommen, Menschen bestimmten Aussehens gezielt zu kontrollieren.

Beschwerden bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigen, dass das aber trotzdem geschieht. Eine Studie, die zeigen sollte, wie verbreitet Racial Profiling in Deutschland wirklich ist, wurde vom ehemaligen Innenminister Horst Seehofer abgelehnt.

Ist diese ganze Debatte in Bezug auf “weiße” Menschen überhaupt vorstellbar? Dass wir eine Studie brauchen, die untersucht, ob “weiße” Menschen, weil sie “weiß” sind, von der Polizei kontrolliert werden? 

Aber andere Formen der Diskriminierung können wirksam sein

Natürlich können auch “Weiße” strukturell benachteiligt sein, beispielsweise aufgrund von Armut oder schlechter Bildung. Struktureller Rassismus bedeutet aber: Wenn eine “weiße” Person und eine rassistisch marginalisierte Person durch Armut vergleichbar schlechte Startchancen im Leben haben, wird die rassistisch marginalisierte Person zusätzliche Nachteile haben – aufgrund ihres Aussehens oder ihrer vermeintlichen Herkunft.

Aladin El-Mafaalani etwa verweist in seinem Buch auch auf die These, dass sich ungleiche Chancen für rassistisch marginalisierte Menschen heute nicht mehr mit Rassismus, sondern vor allem mit Klassismus erklären lassen. Also dass vor allem die soziale Herkunft bestimmt, wie viel Teilhabe eine Person im Leben hat.

Berücksichtige man jedoch, dass rassistisch marginalisierte Menschen in der Unterschicht immer noch deutlich über- und in der Oberschicht deutlich unterrepräsentiert seien – und das ist nun mal auch eine Folge von Rassismus – werde klar, dass sich die rassistische und klassistische Geschichte überschneiden und vermengen.

Ein “weißer” Mensch müsste sich nicht fragen: Bin ich arm, weil ich “weiß” bin?

So sehr, dass man das eine nicht mehr vom anderen trennen könne – und dass selbst rassistisch marginalisierte Menschen den Unterschied selbst oft nicht ausmachen können. „Konkret: Kein rassifizierter oder migrantisierter Mensch kann die Frage beantworten, ob er schlecht behandelt wird oder sich in prekärer Lage befindet, weil er schwarz oder migrantisch ist oder etwa weil er arm ist, und ob er vielleicht arm ist, weil er schwarz und migrantisch ist“, schreibt El-Mafaalani.

Kurz: Natürlich können “weiße” Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft diskriminiert werden. Aber sie werden sich nicht fragen müssen: Bin ich in dieser Situation, weil ich “weiß” bin?

Artikel Abschnitt: Kann ich prüfen, ob ich von Rassismus betroffen bin?

Kann ich prüfen, ob ich von Rassismus betroffen bin?

Die Ebenen, die wir in diesem Text beschrieben haben, können dazu dienen, für sich selbst zu prüfen, ob man wirklich von Rassismus betroffen ist. Die Antirassismus-Trainerin Tupoka Ogette nutzt in ihren Workshops dafür eine Checkliste.

Demnach könne man anhand von vier Fragen ausmachen, ob man tatsächlich Rassismuserfahrungen macht:

  • Gibt es für diese benachteiligende Erfahrung einen historisch gewachsenen Hintergrund?
  • Spiegelt sich diese benachteiligende Erfahrung in ähnlicher Form auf struktureller oder institutioneller Ebene wider?
  • Existiert eine passende Ideologie, wie zum Beispiel die Rassenlehre?
  • Und: Hinterlassen die Erfahrungen eine verinnerlichte Wirkung?

Wenn jemand all diese Fragen mit Ja beantworten kann, könne man sagen: Es ist eine rassistische Erfahrung. Die ersten drei Fragen erklären sich aus allem, was wir in diesem Text schon besprochen haben. Auf die vierte Frage wollen wir hier noch näher eingehen.

Was bedeutet verinnerlichte Wirkung?

Wie die Soziologin Anja Weiß schreibt, hat sich Rassismus mit der Zeit zu einem „selbstverständlichen Klassifikationssystem“ entwickelt, das gesellschaftsübergreifend wirksam wird. Das heißt: Nicht nur “Weiße” haben ihn verinnerlicht, sondern alle Menschen – auch die, gegen die sich Rassismus richtet.

Weil er uns schon so lange begleitet und so fest in allen Bereichen unserer Gesellschaft verankert ist, diktiert er für alle Menschen eine „Norm“, in der Überlegenheit und Macht typischerweise “weißen” Menschen zugeordnet werden. 

Rassismus als Normalzustand

Das äußert sich dann zum Beispiel so, dass gar nicht auffällt, wenn wichtige Positionen in unserer Gesellschaft überdurchschnittlich „weiß“ besetzt sind. Und rassistisch marginalisierte Personen bereits als Kinder den Eindruck bekommen, dass ihnen bestimmte Berufe nicht zugänglich sind, weil sie diese immer nur von „Weißen“ ausgeübt sehen.

Die Wirkung von Rassismus prägt die gesamte Gesellschaft so sehr, dass er selbst für viele von Rassismus Betroffene, die ja auch in dieser Gesellschaft aufwachsen und leben, der Normalzustand ist. Das heißt aber nicht, dass er sich für sie normal anfühlt. Vielmehr führt das dazu, dass viele – und das lässt sich messen – sogar Vorurteile gegen sich selbst verinnerlicht haben. Dann nutzen manche schwarze Frauen nicht nur deshalb Bleichcremes, weil sie hoffen, dann weniger diskriminiert zu werden, sondern denken mitunter selber, dass hellere Haut schöner sei. Eine Folge von Rassismus.

Dieser Text ist eine überarbeitete Version. Uns haben viele Fragen und Unverständnis zu der Frage erreicht, ob es Rassismus gegen Weiße gibt. Deshalb haben wir einige Passagen überarbeitet.

Quellenangaben zum Artikel:

Unsere Quellen

  • Anja Weiß, Universität Duisburg-Essen
  • Karim Fereidooni, Ruhr-Universität Bochum
  • Jannis Panagiotidis, Universität Wien
  • El-Mafaalani, Aladin: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand (KiWi-Verlag, 2021)
  • Ogette, Tupoka: Exit Racism: Rassismuskritisch denken lernen (Unrast-Verlag, 2020)
  • Weiß, Anja: Rassismus wider Willen (Springer VS, 2013)
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  • Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966

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