Babys gleich tier australier geselslchaft

Während ich diesen Essay in meinen Laptop tippe, schauen meine Augen auf eine berühmte Radierung von Rembrandt: Abraham, Isaak und Gottes Engel auf dem bewussten Berg im Lande Moriah. Über den drei Gestalten ein wild bewegter Himmel aus dunklen Wolken und Licht. Helligkeit und Finsternis brechen schräg von oben herein. Das versteinerte Gesicht des bärtigen Alten wendet sich ab von dem, was er da gerade tut. In der Linken hält er das Schlachtmesser, mit seiner rechten großen Männerhand hält er seinem Sohn Isaak die Augen zu. Isaak kniet. Er ist demütig. Er wartet darauf, dass sein Vater ihm das scharfe Metall in die weiche Kehle stößt.

Unerträglich wäre diese Szene, wenn da nicht die Erlösung wäre, der Engel, der seine Flügel ausbreitet. Im biblischen Text ruft er Abraham nur etwas zu, er sagt: Al tischlach jadecha el ha na’ar we al ta’as lo m’umah, „schicke deine Hand nicht aus gegen den Jungen, noch tue ihm etwas an“. Bei Rembrandt begnügt der Engel sich nicht mit Rufen, er hält Abrahams Unterarm fest. Nicht den Unterarm mit dem Messer, sondern den anderen, jenen, der zu der Hand gehört, mit der er Isaaks Augen bedeckt.

Von der anderen Seite her umfasst der Engel sanft Abrahams rechten Oberarm unterhalb der Schulter. Er scheint ihm seine Botschaft ins Ohr zu flüstern – und wir spüren: Sie kam keinen Augenblick zu früh. Mich erschüttert Rembrandts Radierung immer noch so tief wie damals, als ich sie zum ersten Mal sah. Ich glaube: Hier ist der Moment festgehalten, in dem die menschliche Zivilisation begann.

Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch

Auf der Internetplattform „Perlentaucher“ ist gerade eine Diskussion über die „mosaische Unterscheidung“ entbrannt. Dieser Begriff stammt von dem Ägyptologen Jan Assmann – er meint damit die Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ in der Religion. Nach seiner Meinung kam sie mit dem Judentum in die Welt – in der hebräischen Bibel werden die Götter der anderen Völker ja zu „Nichtsen“ heruntergestuft – und verknüpft sich mit der biblischen Figur des Moses. Es ist eine spannende Diskussion, Jan Assmann ist ein scharfsinniger Denker. Hier soll von einem anderen, wenn auch verwandten Thema die Rede sein. Nennen wir dieses andere die abrahamitische Unterscheidung.

Ich habe im hebräischen Originaltext nachgezählt: 242 Wörter. So lange dauert es von waihi achar ha-dewarim ha-ele, „und es geschah nach diesen Dingen“, bis zu b’har haschem jireh, „auf diesem Berg wird Gott gesehen werden“. Die hebräische Bibel ist keine Kinderliteratur: Inzest, Krieg, Völkermord, erotische Gedichte, Selbstmordattentate, eigentlich wird nichts ausgelassen.

Eine der verstörendsten Passagen der Bibel

Aber die biblische Geschichte von der Opferung Isaaks (wie sie in christlichen Quellen genannt wird – bei Juden ist immer nur von seiner „Aufbindung“ die Rede) gehört ohne Zweifel zu den verstörendsten Passagen. Ein Gott, der von einem Vater fordert, er solle ihm seinen Sohn zum Brandopfer bringen; ein Vater, der jenem Gott ohne Widerworte gehorcht. Jede moralische Faser in uns sträubt sich dagegen, und so soll es auch sein.

Das Verstörende an der Geschichte ergibt sich aus etwas, das der biblische Erzähler voraussetzt: dass Gott etwas fordert, was er fordern darf. Isaaks Leben gehört ihm ohnehin schon, also kann er selbstverständlich auch verlangen, dass Abraham ihm dieses Leben zurückgibt. Das sagt uns die herzlose Logik.

Trotzdem dürfen wir auf Isaaks „Aufbindung“ ein wenig so reagieren, wie es nach einem Midrasch (einer jüdischen Interpretation) die Mutter des Jungen tat: Als Sarah hörte, dass Abraham um ein Haar wirklich ihren Sohn getötet hätte, soll sie vor Schreck sechs schrille Schreie ausgestoßen haben und auf der Stelle tot umgefallen sein.

Gott ist nicht lieb, sondern unberechenbar

Gott ist alles Mögliche, aber eines ist er mit Sicherheit nicht: lieb. (Sondern unberechenbar.) Trotzdem tritt der Gott der hebräischen Bibel in diesen 242 Wörtern aus dem Schatten der heidnischen Götzen heraus. Denn jene haben eben nicht im letzten Augenblick einen Engel geschickt, der seine Flügel schützend über Vater und Kind gebreitet hätte.

Just auf jenem Hügel im Lande Moriah, auf dem Abraham anstelle seines Sohnes Isaak dann einen Widder zum Opfer darbrachte, soll nach der jüdischen Überlieferung der Tempel gestanden haben. Dort hat das Blut der Tieropfer dann nicht mehr zu strömen aufgehört – aus Dankbarkeit darüber, dass den Kindern Israels das Menschenopfer von Gott erlassen worden war.

Die Zicklein und Lämmer wurden am achten Tag nach der Geburt geopfert. Der achte Tag nach der Geburt steht im jüdischen Kalender aber auch noch für ein anderes Fest: die Beschneidung. Sie ist das sichtbare Zeichen, dass ein jüdischer Knabe in den Bund Abrahams aufgenommen ist, jenes Mannes, der seinen Sohn am Leben ließ. Das Judentum ist also nicht nur implizit, sondern ganz explizit gegen das Menschenopfer gegründet worden.

Geburtenkontrolle durch Kindstötung

Der Zivilisationsforscher Gunnar Heinsohn hat uns daran erinnert, wie radikal diese Distanzierung vom Menschenopfer ausfiel: Die Juden waren das einzige Volk der Antike, das keine Geburtenkontrolle durch Infantizid praktizierte.

Der Ritus bei den Römern war so: Wenn ein neues Kind geboren worden war, wurde es dem pater familias, dem Familienvorstand, vor die Füße gelegt. Entweder der pater familias nahm das Kind auf, dann wurde es aufgezogen. Oder er ließ es liegen, dann wurde das Kind getötet. Dies war die potestas vitae necisque, die Macht über Leben und Tod, das Menschenrecht des freien römischen Bürgers.

Eines der größten Dramen der Literaturgeschichte handelt in seinem Kern von nichts anderem: „Oidipous Tyrannos“ von Sophokles. Wie kam Ödipus, dessen Name „Lahmfuß“ bedeutet, dazu, seine eigene Mutter zu heiraten und seinen Vater zu erschlagen? Weil er als Baby einer ungünstigen Prophezeiung wegen mit durchbohrten Fußknöcheln ausgesetzt worden war, damit die wilden Tiere ihn fressen sollten. Die Tragödie kommt durch einen Akt der Barmherzigkeit in Gang: Ein Schäfer findet den Kleinen, nimmt ihn mit nach Hause und zieht ihn auf.

Nota bene: Die Römer waren kein unkultiviertes Volk. Auch die Griechen, alten Perser, Skythen und Babylonier waren keine Barbaren. Sie teilten nur die jüdische Überzeugung nicht, dass menschliches Leben heilig sei und dass es darum schon verboten sein soll, Neugeborene zu töten. Die jüdische Weigerung, Geburtenkontrolle durch Infantizid zu praktizieren, haben sie darum mit großem Staunen wahrgenommen. Diese Juden zogen ja sogar Krüppel auf, statt sie gleich nach der Geburt umzubringen! Dafür konnten heidnische Schriftsteller der Antike sich eigentlich nur einen rationalen Grund denken: Offenbar wollten die Juden mit allen Mitteln ganz viele werden. Jede andere Erklärung wäre ihnen absurd vorgekommen.

Kaiser Konstantin verbietet 312 die Kindstötung

Dies ist also die abrahamitische Unterscheidung: Hier jene, die ihre Kinder im Notfall den Göttern opfern – oder selbst über Leben und Tod ihrer Kinder entscheiden wollen. Dort die anderen, die einem Gott die Entscheidung über Leben und Tod ihrer Kinder überlassen, der keine Menschenopfer will: Abrahams Gott.

Die Christen waren zu Anfang bekanntlich nichts weiter als eine jüdisch-messianische Sekte, der sich ein paar heidnische Intellektuelle angeschlossen hatten. Sie haben die Tradition Abrahams einfach fortgeführt. Und auch sie wurden von ihrer heidnischen Umwelt recht entgeistert angestaunt.

Im Jahr 318 hat Kaiser Konstantin, der als erster christlicher Kaiser Roms gilt, das Verbot der Kindstötung zum Gesetz des gesamten Imperium Romanum gemacht. (Der Kaiser hob damit selbstherrlich das Menschenrecht des freien Römers, die potestas vitae necisque, auf, was ihm viel Empörung eintrug.)

Gunnar Heinsohn macht darauf aufmerksam, dass das Verbot der Kindstötung für die heidnischen Römer so unerhört neu war, dass es nur unter Androhung besonders grausamer Todesstrafen durchgesetzt werden konnte. Ein pater familias, der sich dabei erwischen ließ, dass er seine Neugeborenen in der Wildnis aussetzte, wurde mit Schlangen in einen Sack eingenäht und dann mit ihnen zusammen ersäuft.

Mädchenmorde in Indien und China

Die abrahamitische Unterscheidung schneidet bis heute ziemlich scharf. Eine Meldung, die meistens in den hinteren Spalten von Zeitungen verschwindet, lautet, dass jedes Jahr mehrere Millionen Säuglinge (vor allem weibliche) in China und Indien verloren gehen. Sie werden getötet, wie das schon zu jenen Zeiten der Fall war, als die ersten christlichen Missionare ins Reich der Mitte kamen.

Aus der islamischen Welt erreichen uns viele Schreckensmeldungen: Christenverfolgungen, Unterdrückung von Frauen, religiöser Terror – aber Infantizid wird dort nicht praktiziert (jedenfalls nicht straflos). Die Muslime, die Abraham als Ibrahim verehren und ihn für einen Muslim halten, haben das jüdische Gesetz von der Heiligkeit des menschlichen Lebens übernommen.

Nicht nur nach außen schneidet die abrahamitische Unterscheidung scharf, sondern auch nach innen. Nehmen wir Peter Singer, einen Australier, der sich als Fachmann für Fragen der Ethik einen Namen gemacht hat. Singer ist jüdischer Herkunft, lehnt die Religion seiner Vorfahren aber radikal ab: sowohl die herausragende Rolle des Menschen als Krone der Schöpfung wie auch die Idee, dass menschliches Leben unter allen Umständen geschützt werden muss.

Peter Singers Unterschied zwischen Mensch und Tier

Singer ist also dafür, Schimpansen aus den Zoos zu befreien und ihnen Menschenrechte zu geben; gleichzeitig spricht er sich für die Euthanasie von Schwerbehinderten aus. Die Tötung von Neugeborenen, schreibt Singer, sei „mit einer stabilen, gut organisierten menschlichen Gesellschaft … vereinbar“. Das ist ohne Zweifel richtig.

„In den meisten Gesellschaften mit praktiziertem Infantizid besaßen Kinder einen hohen Stellenwert und wurden zärtlich und liebevoll umsorgt.“ Auch dagegen gibt es nichts zu sagen. Singer referiert die These eines Anthropologen, eigentlich sei es der Infantizid, der den Menschen von den Tieren unterscheide, da Tiere so etwas nicht machen.

Singer nennt diese These zwar abwegig, schließt dem aber an, sie sei nicht absurder als das Verbot der Kindstötung selbst. „Das Prinzip von der Heiligkeit menschlichen Lebens“, schreibt er dann, „ist ein Erbe jener Tage, als man die Religion als Quelle aller ethischen Weisheit akzeptierte. Innerhalb des Rahmens jüdisch-christlichen Glaubens hat das Prinzip einen gewissen Sinn (wenngleich sich dem forschenden Geist auch innerhalb des Rahmens bald Fragen stellen, auf die es keine Antworten gibt).

Nun, da die Religion kaum mehr als die Quelle moralischer Autorität im öffentlichen Leben gelten kann, benutzt man das Prinzip ohne den Rahmen, innerhalb dessen es sich entwickelt hat. Wir entdecken gerade, dass es ohne diesen Rahmen nicht bestehen kann.“ Könnte Singer recht haben?

Das Recht der Frauen auf Abtreibung – und mehr

Ich habe in New York eine Freundin, mit der ich viele Überzeugungen teile. Sie ist eine Liberale im europäischen Sinn mit anarchistischen Neigungen, lehnt also jede Form des Zwangskollektivismus ab, unterstützt den Staat Israel vor allem deshalb, weil er seit seiner Gründung gut gearbeitet hat, ist für vollkommene Freiheit der Meinungsäußerung.

Und sie ist dafür, dass Frauen nicht nur das Recht auf Abtreibung haben sollen, sondern auch das Recht, ihre Neugeborenen nach der Geburt umzubringen, wenn sie dies wünschen. Das Menschenrecht des freien Römers, die potestas vitae necisque, soll also nach Meinung meiner Freundin auf die Mutter übergehen; erst dann sei die Emanzipation der Frau von der patriarchalen Vorherrschaft vollzogen.

Als sie mir dies erklärte, fiel mir nichts Gescheites ein, das ich hätte erwidern können. Ich dachte an Rembrandts Radierung, an die schwere Männerhand, mit der Abraham die Augen seines Sohnes Isaak verdeckt. Ich dachte an die sechs schrillen Schreie, die Sarah, unsere jüdische Urmutter, ausstieß, als sie erfuhr, was ihrem Kind um ein Haar geschehen wäre. Ich dachte an den Engel.

Al tischlach jadecha el ha na’ar we al ta’as lo m’umah. So begann die Zivilisation, glaube ich. Aber ich weiß wohl: Das ist kein rationales Argument.

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