Warum ist ukraine nicht in der eu

Auch die Europäische Kommission empfiehlt, mit der Ukraine Verhandlungen über einen EU-Beitritt zu führen. Das letzte Wort hat dabei der Rat. Dass das Land im Schnellverfahren Mitglied wird, gilt aber als ausgeschlossen. Aus vielerlei Gründen.

Die EU ist schon da. Ganz im Südwesten der Ukraine, in der Nähe des Kurortes Jaremtsche, stehen vier grüne Fahrradbügel auf einer Wiese, unweit einer Bushaltestelle, seit Jahren. "Unterstützt von der Europäischen Union", steht auf einem der Bügel, daneben, gut sichtbar, ist die Europaflagge abgebildet. Ein kleines Symbol nur, aber die Botschaft ist klar: Die EU fördert die Entwicklung in der Ukraine – auch ohne dass das Land Mitglied der Gemeinschaft ist. Schon vor dem Krieg auf der Krim 2014 sind jährlich Milliardenbeiträge aus der EU gen Osten geflossen.

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"Unterstützt von der Europäischen Union": Fahrradbügel im Südwesten der Ukraine

© Daniel Wüstenberg / stern

67 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer würden bei einem Referendum für einen Beitritt ihre Landes zur Europäischen Union stimmen, ergab Ende 2021 eine repräsentative Umfrage des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew. Zehntausende gingen im Zuge der "Euromaidan"-Proteste 2013/2014 teils unter Einsatz ihres Lebens für die europäische Integration ihres Landes auf die Straßen und vertrieben ihren russlandtreuen Präsidenten Wiktor Janukowytsch aus dem Land.

Wolodymyr Selenskyj forciert EU-Beitritt der Ukraine

Seit 2019 sitzt Wolodymyr Selenskyj im Präsidentenpalast im Zentrum Kiews und treibt die EU-Beitrittspläne seines Landes voran, auch dafür wurde er gewählt. Kurz nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine sollte es schnell gehen: Anfang März machte die Regierung ihr Ziel offiziell und reichte den Beitrittsantrag bei der EU ein.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (M.) präsentiert den Antrag auf Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Union

© Ukrainian Presidency Press Office / AFP

EU-Kommissionspräidenten Ursula von der Leyen war seither zwei Mal in der ukrainischen Hauptstadt, um das Land bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Und am Donnerstag kam gleich ein ganzes Quartett nach Kiew: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron besuchten gemeinsam mit Rumäniens Präsident Klaus Johannis den ukrainischen Präsidenten. Thema auch hier: der EU-Beitritt der Ukraine. Das Land gehöre zur "europäischen Familie", sagte Scholz nach dem Treffen, die Bundesrepublik sei für eine Aufnahme der Ukraine. Auch Macron kündigte seine Unterstützung an, Draghi und Iohannis ebenso.

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Doch alle Beteiligten wissen: So schnell wird das nichts. Das liegt nicht nur an dem aufwändigen und komplizierten formalen Prozedere eines EU-Beitritts, das sich voraussichtlich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, ziehen wird, sondern auch daran, dass die Ukraine noch lange nicht fit für die Europäische Union ist – aus vielen Gründen. Das sind nur einige der Baustellen:

So ist es trotz Unterstützung der EU bis heute nicht gelungen, effektiv gegen die Korruption im Land vorzugehen, die dort im kleinen wie im großen Stil immer noch an der Tagesordnung ist. Im jüngsten Korruptionsindex von Transparency International belegt die Ukraine Platz 122 von 180 – nur Russland steht unter den europäischen Ländern schlechter da. Der Europäische Rechnungshof kam im vergangenen Jahr in einem Sonderbericht zu dem Schluss, dass es "unzureichende Ergebnisse" bei der Bekämpfung der Großkorruption in dem Lang gebe. Gemeint ist also nicht das kleine Schmiergeld, das Reisende vor Ausbruch des Krieges gelegentlich an Polizisten zahlen mussten, sondern als "Machtmissbrauch auf hoher Ebene, durch den sich einige wenige Personen auf Kosten der Allgemeinheit einen Vorteil verschaffen und dadurch einzelnen Personen und der Gesellschaft schweren und weitreichenden Schaden zufügen". Dem Bericht zufolge gibt es in der Ukraine ein Netzwerk von Oligarchen, die durch ihr Geld erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung, auf die Regierung, die Justiz und die Wirtschaft ausüben. "In der Praxis wird der Elite ebenso wie der Bevölkerung vermittelt, dass Korruption allenfalls selektiv bekämpft wird und dem Präsidenten nahestehende Personen von der Strafverfolgung aus­genommen werden", stellte die Stiftung Wissenschaft und Politik 2021 in einem Forschungsbericht fest.

Ukraine muss viele Hürden nehmen

Eng verknüpft mit der Korruption sind naturgemäß Defizite in puncto Rechtsstaatlichkeit. Nach Maßgabe der Europäischen Kommission sind "stabile Institutionen, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten garantieren" eine der Grundvoraussetzungen für einen EU-Beitritt. Doch auch in diesem Feld sind für die Ukraine nach Auffassung von Expertinnen und Experten dringend Reformen geboten. Im Demokratieindex 2021 der Zeitschrift "The Economist" rangiert das Land auf Platz 86 von 167. Vor allem in Fragen der Funktionsfähigkeit der Regierung und bei den Bürgerinnen- und Bürgerrechten gibt es demnach noch viel Luft nach oben. "Das Versprechen (...), für Rechtsstaatlichkeit zu sorgen, ist jedoch weitgehend unerfüllt geblieben", resümierte die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) 2020. Zwar gebe es formell eine Unabhängigkeit der Justiz, de facto gelte jedoch: "Die ambitionierte Umstrukturierung des Gerichtswesens hat in der Praxis nur wenige sichtbare Anzeichen eines Wandels gebracht." Einer der Gründe: Auch nach Selenskyjs Aufstieg zum Präsidenten habe sich "innerhalb der Justiz eine selbstgefällige und eingeschüchterte Richterschaft als nicht bereit und unwillig gezeigt (...), für signifikante Veränderungen in der Organisationsstruktur und der Arbeitsweise der Gerichte einzutreten". 

"Eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerb und den Marktkräften in der EU standzuhalten" sind weitere Kriterien für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Doch auch hier zeigt sich, dass die ukrainische Wirtschaft nicht konkurrenzfähig ist – und auch vor dem Krieg nicht war. Spätestens seit der Invasion Russlands kann das Land finanziell überhaupt nur noch durch kräftige Geldspritzen aus dem Ausland überleben. Zwar wurde die sozialistische Planwirtschaft ab 1991 schrittweise in eine kapitalistische Privatwirtschaft überführt, noch immer dominieren aber viele der rund 15.000 vom Staat oder den Kommunen geführte Unternehmen etliche Wirtschaftsbereiche. Mit mehr als 350.000 Mitarbeitenden ist die als marode geltende Staatsbahn größter Arbeitgeber des Landes. Ihre Bedeutung für das Funktionieren des Landes beweist sie auch im laufenden Krieg mit Russland.

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Bis zum Überfall des Nachbarn zeigten zwar viele Wirtschaftsindikatoren nach oben, aber das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf lag 2021 dennoch nur bei rund 4500 Euro und damit noch weit unter EU-Schlusslicht Bulgarien (9850 Euro). Zum Vergleich: Das deutsche BIP pro Kopf lag bei rund 43.000 Euro. Auch die Innovationskraft ist gering. Laut einem Bericht von "Capital" wurden 2018 nur 57 Patente je einer Million Einwohner/Einwohnerinnen angemeldet. Die Ukraine gilt mit seiner Getreidewirtschaft als "Kornkammer Europas" und ist reich an Bodenschätzen: Eisenerz, Lithium, Seltene Erden, Schiefergas. "Misswirtschaft, veraltete Strukturen, Korruption und die jahrelange Abhängigkeit von Russland haben immer wieder die Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft gebremst", bilanzierte die ARD-"Tagesschau" Anfang 2022. Ausländische Investorinnen und Inverstoren schätzen das Land mit hohem Risiko ein. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht in einer jüngsten Veröffentlichung, "dass die Ukraine ein niedrigeres Bruttoinlandsprodukt als die letzten drei EU-Beitrittsländer (Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Anm. d. Red.) aufweist und die Differenz zum Durchschnitt der EU am aktuellen Rand immer größer wird". Weitere wirtschaftliche Transformationen seien nötig. Daraus folge: "Mit Blick auf die schwache Wirtschaftsleistung und die Korruptionsproblematik würde die derzeitige Erfüllung der EU-Beitrittskriterien die Ukraine (...) vor große Schwierigkeiten stellen."

EU-Beitritt im Schnellverfahren dürfte scheitern

Allein diese drei Felder so umzubauen, dass einem EU-Beitritt nichts mehr im Wege stehen würde, erfordert eine immense Kraftanstrengung der Ukraine: einen radikalen Umbau von vielen Teilen des Staatswesens, der Justiz und der Wirtschaft. Das weiß man in Kiew genauso wie in Brüssel, Berlin, Paris oder Rom.

Ein EU-Beitritt im Schnellverfahren dürfte daran scheitern, jedoch auch am zurzeit herrschenden Krieg, dem größten Problem des Landes. Er erschwert oder verunmöglicht nicht nur den notwendigen Umbau des Landes, sondern sorgt auch von sich aus dafür, dass die Ukraine sich keine kurzfristige Hoffnung machen kann, EU-Mitglied zu werden. Denn kein bestehender EU-Staat wird sich direkt an diesem Konflikt beteiligen wollen – bei einer ukrainischen EU-Mitgliedschaft würde jedoch die Beistandsverpflichtung des EU-Vertrages von Lissabon gelten. "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung (...)", heißt es darin klipp und klar. Die kollektive EU-Verteidigung geht damit sogar noch über die Nato-Beistandsverpflichtung hinaus. Zu Ende gedacht heißt das: Solange Russlands Krieg in der Ukraine nicht beendet ist, wird sie nicht EU-Mitglied.

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Wohl auch in Kenntnis all dieser Fakten sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwochabend im "Heute journal" zu den Ambitionen der Ukraine: "Das ist kein einfacher, sondern ein sehr voraussetzungsvoller Weg, der auch sehr lange Zeit in Anspruch nehmen kann." Das wisse auch jeder in der Ukraine. Zum Zeithorizont sagte Scholz, das könne niemand seriös beantworten. "Aber es lohnt sich, das ist doch die Botschaft."

Mit der Entscheidung der EU-Kommission vom Freitag, für die Ukraine den Kandidatenstatus zu empfehlen, ist diese Botschaft noch etwas deutlicher geworden. Nach Auffassung der Kommission habe das Land deutlich das Bestreben und Engagement zum Ausdruck gebracht, den europäischen Werten und Standards gerecht zu werden. "Die Ukraine verdient eine europäische Perspektive", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel. Das letzte Wort in dieser Frage hat jedoch der Rat der Europäischen Union, also alle 27 Mitgliedsstaaten. Sie müssen sich einstimmig auf ein Verhandlungsmandat einigen – der nächste mögliche Fallstrick für Präsident Selenskyj. Denn längst nicht alle EU-Staaten sind der Meinung von Scholz, Macron, Draghi, Iohannis und von der Leyen. In der Staatengemeinschaft hat sich eine gewisse Erweiterungsmüdigkeit breit gemacht. Die EU gilt mittlerweile als etwas erweiterungsmüde, weil auch ihre Institutionen reformbedürftig sind. Das Prinzip der Einstimmigkeit lähmt die Union allzu oft. "Die EU muss auch in der Lage sein, neue Mitglieder zu integrieren", schreibt die Europäische Kommission.

Der Rat der Europäischen Union muss entscheiden – einstimmig

Sollte der Rat aber – womöglich schon in der kommenden Woche – grünes Licht für Verhandlungen zum EU-Beitritt der Ukraine geben, wird ein langer Prozess in Gang gesetzt. 36 Kapitel umfassen die offiziellen Verhandlungen. Es geht um die Freizügigkeit von Waren, Kapital und Menschen, es geht um Landwirtschaft und Lebensmittelsicherheit, um Energie und Wissenschaft und um vieles, vieles mehr. "Wegen der großen Menge an Vorschriften und Regelungen der EU, die jedes Land in sein innerstaatliches Recht umsetzen muss, erfordern die Verhandlungen bis zu ihrem Abschluss längere Zeit", so die EU-Kommission – und jeder Mitgliedsstaat muss jedem abgeschlossenen Kapitel einzeln zustimmen. Zurzeit zählen Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei zu den offiziellen Beitrittskandidaten und haben teils begonnen ihr Land und ihr Wirtschafts- und Rechtssystem so umzubauen, dass es mit den Grundsätzen der EU im Einklang steht – und auch sie sind noch lange nicht am Ziel.

Doch auch der Kandidatenstatus wäre für Selenskyj ein Erfolg, steht doch das Ziel des EU-Beitritts sogar in der Verfassung des Staates. "Dieser würde über das bestehende Assoziationsabkommen mit der Europäische Union hinausgehen und etwa weitere Heranführungsbeihilfen aus dem EU-Haushalt erlauben, um den Weg hin zur Mitgliedschaft weiterzugehen", sagte der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Gunther Krichbaum, kürzlich dem stern.

Die EU würde eine Beitrittskandidatin Ukraine bei ihren Reformen mit Know-how und mit mehr Geld unterstützen, das ist zugesichert. Dann würde es um deutlich mehr als grüne Fahrradbügel in einem Kurort im Südwesten des Landes gehen. Es wäre eine Weichenstellung für rund 40 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer – für die sie lange gekämpft haben und noch immer kämpfen.

Quellen: Internationales Institut für Soziologie Kiew, Transparency International, Europäischer Rechnungshof, Stiftung Wissenschaft und Politik, Europäische Kommission, "The Economist", Bundeszentrale für politische Bildung, Statistisches Bundesamt, Statista, "Capital", "Tagesschau", Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Vertrag der Europäischen Union, "Heute journal", Nachrichtenagenturen DPA und AFP

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