Wie viel ist eine Rose auf TikTok wert?

"Bei 100 Pandas folge ich zurück", erklärt sie in einem ihrer TikTok-Livestreams, bevor sie sich mit einer Haarbürste als Accessoire zum Song "Gangsta's Paradise" bewegt. "Bei 'nem Konzert folge ich zurück, bei 'nem 'I'm very rich' gibt es ein Duett, bei der Drama Queen kriegt ihr meine Handynummer. Bei zwei Drama Queens kommt ihr in meine Bio und bei fünf habt ihr 'nen Wunsch frei."

Influencer-Preislisten wie diese begegnen TikTok-Nutzern häufiger: mal direkt in Livestreams, mal in deren Beschreibungen. Die App der chinesischen Firma ByteDance dreht sich zwar primär um Kurzvideos mit bis zu 15 oder 60 Sekunden Länge. Es gibt aber auch einen Livestreaming-Teil, in dem Nutzer Streamern virtuelle Geschenke machen können. Dabei werden teils binnen Minuten Geschenke mit einem Kaufpreis in Höhe von zusammen mehreren Hundert Euro verschickt - manchmal sogar von einzelnen Nutzern.

Vom SPIEGEL gefragt, ob sie beim Runterrattern ihrer Deal-Angebote ein gutes Gefühl habe oder ob sie dies selbst komisch finde, antwortet Michelle Melody: "Ich habe ein gutes Gefühl. Das machen alle Influencer so."

Fan-Namen auf Wänden und Wangen

Manche Angebote sind noch sonderbarer als die von Melody. "Leute, ich habe einen Namen auf meiner Backe, weil jemand 'ne Drama Queen gesendet hat", erklärt an einem Dezemberabend ein 17-jähriger TikToker mit beinahe 300.000 Followern, das Pseudonym einer Nutzerin im Gesicht. "Und ich schreib jeden, der 'ne Drama Queen schickt, hier auf meine Backe."

Die augenscheinlich junge Nutzerin nennt er "Ehrenfrau" - und er hat, nachdem er sich für bereits sieben Drama Queens von ihr bedankt hat, noch eine Offerte. "Wenn du da oben dranmöchtest", sagt der Streamer und zeigt eine weiße Fläche an der Fensterfront des Zimmers. "So richtig groß von der Seite bis auf die Seite da, musst du auf jeden Fall noch 19 Drama Queens schicken. Dann kommst du auf jeden Fall da oben dran, Mann - richtig groß." 19 Drama Queens, das entspräche Ausgaben von 950 Euro - zusätzlich zu den vorherigen Drama Queens.

Drei geschickte Drama Queens später spricht der Streamer die Nutzerin auch noch einmal an. Sie müsse jetzt nur noch 16 Drama Queens schicken, sagt er. "Ey, nur noch 16, Mann, von 26."

"Ey Leute, soll ich armen Kindern was zu essen kaufen?"

TikTok-Videomacher berichten, dass Streamer pro empfangener Drama Queen ein auszahlbares Guthaben im Wert von rund 25 Euro erhalten. Dieses Guthaben liege in Form sogenannter Diamanten vor, einer weiteren TikTok-Währung. Das restliche Geld bleibt dementsprechend also bei TikTok, beziehungsweise geht wohl zu einem Teil an Google oder Apple, über deren Stores Nutzer die Münzen kaufen.

Die Livestream-Geschäfte sind auf TikTok eine Nische, Hauptschwerpunkt der App sind Kurzvideos. Doch die Streams sind finanziell attraktiv - für das Unternehmen, aber auch für die Streamer. Sie brauchen nicht einmal besonders viele Zuschauer, wenn sie einige wenige haben, die ihnen viel schenken - für was auch immer.

"Also das ganze Geld, was ich in diesem Stream hier bekomme, geht nicht alles an mich", behauptet der 17-Jährige irgendwann einmal in seiner Übertragung. "Ich habe mich jetzt gerade eben beschlossen, also: dazu entschlossen, dass ich das an arm..." In diesem Moment erblickt er eine neue Drama Queen: "Oh mein Gott! Oh. Mein. Gott." Dann haut er sich ein zusammengeknülltes T-Shirt gegen die Stirn und nennt den Spender "Ehrenmann": "Oder Ehrenfrau. Weiß ich jetzt gerade nicht."

An anderer Stelle fragt der Streamer: "Ey Leute, soll ich armen Kindern morgen mal was zu essen kaufen? Also nicht morgen, aber Freitag auf jeden Fall."

Ein Screenshot für die Ewigkeit

Einen Popularitätslevel höher ist alles lauter und schneller. Einer der beliebtesten TikTok-Streamer ist Spencer X, ein junger Mann aus den USA, der Beatbox-Videos macht und dessen Kanal fast zwölf Millionen Nutzer folgen. In einer der Übertragungen von Spencer X schickt ihm ein einzelner Nutzer, der in eigenen Clips wie ein Kind klingt, 30 Drama Queens. Kaufpreis also um die 1500 Euro.

Spencer X beschwört in seinen Videos den Zusammenhalt eines angeblichen "Team X", man könnte aber auch sagen: Er heizt seine Spender-Armee an und beatboxt ein wenig. Nutzer, die ihm wertvolle Geschenke schicken, schreibt Spencer X auf Boards im Videohintergrund, wo sie nur schwer zu entziffern sind.

Und wie der deutschsprachige 17-Jährige hält sich auch Spencer X mit Anreizen für seine Zuschauer, immer noch etwas mehr Geld ausgeben, nicht zurück. Einmal, als ihm ein anderer jung wirkender Nutzer bereits ein Dutzend Drama Queens geschickt hat, verspricht er vor 20.000 Live-Zuschauern, den nächsten Drama-Queen-Schenkenden in einem Screenshot zu verewigen, den er "für den Rest seines Lebens" teilen werde. Kurz darauf treffen von jenem Nutzer gleich sechs neue Drama Queens ein. Auf eine SPIEGEL-Anfrage reagierte Spencer X nicht.

Besonders skurril macht die TikTok-Livestreams, dass sich viele nur um eins drehen: um das Abfeiern, aber auch Anfeuern der Schenkenden. Um Namen im Videohintergrund. Um die Frage, wer wen für was liked. Zwischendurch werden in den meisten Nutzer-Übertragungen zwar noch Grüße verteilt, Fragen von Fans beantwortet oder simpelste Chat-Spiele gespielt - oder es wird mal ein wenig Musik gemacht, wie bei Spencer X. Origineller aber wird es selten.

Auch ein Treffen wird den unbekannten Spendern in Aussicht gestellt

Fragwürdige Spendenfunktionen gibt es auch auf anderen Plattformen. Bei TikTok fällt jedoch noch ins Gewicht, dass die App vergleichsweise viele minderjährige Nutzer hat. Und: Offiziell ist TikTok ab 13 Jahren, die Plattform hat aber - das hört man von Videomachern - auch Nutzer, die noch jünger sind.

Generell sind viele Geschenk-Deals wohl vor allem für Kinder und Jugendliche ernsthaft interessant: "Wenn ihr 'ne Drama Queen reinschickt, bekommt ihr meine Nummer", sagt der 17-jährige Streamer einmal. "Wir werden Kontakt aufbauen, Internet-Best-Friends und so weiter, uns irgendwann dann mal treffen."

Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, sagt zu solchen Szenen, dass es bedenklich sei, Kinder und Jugendliche emotional unter Druck zu setzen: "Erschwerend kommt nun hinzu, dass das hier offenbar geschieht, um mit den Gefühlen von Kindern Geld zu verdienen. Eine inakzeptable Praxis, wenn Sie mich fragen."

Auch mit Blick auf die Rechtslage äußert Schmid Bedenken: "Streams dieser Art unterliegen der Impressumspflicht sowie dem Verbot, Kinder und Jugendliche mit Kaufappellen anzusprechen", sagt er dem SPIEGEL. "Vor allem aber darf die Leichtgläubigkeit von Kindern und Jugendlichen nicht ausgenutzt werden - und das schon gar nicht in Verbindung mit emotionalem Druck. Wer dagegen verstößt, wird früher oder später Post von uns oder vielleicht einer unserer Schwesterbehörden in den anderen Bundesländern bekommen."

TikTok selbst scheint mit der Zeit realisiert zu haben, dass das jetzige Livestreaming- und Geschenke-System seine Tücken hat. Ab dem 20. Dezember gelten nun neue Regeln. Künftig soll es etwa nur noch Nutzern ab 18 Jahren möglich sein, Geschenke zu senden oder zu empfangen. Bislang können auch Nutzer unter 18 Münzen erwerben - mit "vorheriger Einwilligung der Eltern", heißt es.

"Obwohl die Funktion mit überwältigender Mehrheit positiv genutzt wurde, wissen wir, dass wir die Verantwortung haben, unsere Funktionen und Richtlinien gegen Missbrauch zu verbessern", erklärte TikTok die Systemanpassung in einem Blogpost . Man führe neue Altersbeschränkungen ein, "um zu sehen, dass die Geschenkfunktion weiterhin angemessen und respektvoll verwendet wird".

Die neuen Kriterien liegen im Ermessen des Unternehmens

Nach Auskunft mehrerer TikTok-Streamer haben Videomacher bislang keinerlei Möglichkeit, die Geschenkfunktion bei ihren Übertragungen auf Wunsch auszulassen - etwa, um einfach ohne optische Ablenkung oder Abzocke-Vorwürfe im Chat zu streamen. Wer live geht, kann jederzeit Pandas oder Drama Queens geschickt bekommen, selbst ohne angebotene Gegenleistungen. TikTok will es so.

Vom 17-Jährigen heißt es dazu auf SPIEGEL-Nachfrage: "Natürlich sollte beim Streamen die Geschenkfunktion immer an sein. Wie sollte man sonst Spenden generieren können?" Auf die Frage, ob die Geschenke der Nutzer für ein wenig Internetruhm nicht etwas teuer seien, antwortet er, er finde, "dass jeder Mensch selber entscheiden sollte, wie und was er macht oder schenkt".

Man darf gespannt sein, wer bei TikTok ab dem 20. Dezember noch in welcher Form live gehen darf. Bisher stand die Funktion in der Regel jedem Nutzer mit 1000 oder mehr Followern offen, berichten Streamer. In seiner neuen Richtlinie für Geschenke  betont TikTok nun aber, dass künftig nur noch "ausgewählte Nutzer", die mindestens 16 Jahre alt sind, eine Übertragung starten könnten. Zudem gelte es, bestimmte Kriterien zu erfüllen, wozu "eine gewisse Anzahl von Followern und/oder Erfahrungen im Hinblick auf die Erstellung qualitativ hochwertiger Inhalte" zählten. Die Kriterien, so heißt es auch noch, stehen dabei im Ermessen des Unternehmens.

Übrigens: Einer unserer Test-Accounts - bis dahin mit mickrigen sieben Followern irgendwo in der Irrelevanz unterwegs - hat im Zuge dieser Recherche einen prominenten Follower hinzugewonnen. Dem Account folgt seit fast vier Wochen Lauren Godwin, ein TikTok-Star mit 17 Millionen Fans. Ihr Klick ließ sich kaufen - für ein Konzert, also für fünf Euro.

Wie viel kosten Geschenke bei TikTok?

Freigeschaltet werden die Geschenke mit sogenannten TikTok-Münzen, einer Währung innerhalb der App, für die man echtes Geld ausgibt. Eine Münze entspricht dabei einem Cent.

Was bedeuten die Geschenke bei TikTok?

LIVE-Geschenke sind eine Funktion, über die deine Zuschauer auf deine TikTok-Videos reagieren und dich für deine Inhalte belohnen können, wenn sie für dein Konto aktiviert ist. Durch LIVE-Geschenke kannst du bei TikTok Diamanten sammeln. Diamanten können dann bei TikTok gegen Geld eingelöst werden.