Wann und wo schlug Luther seine Thesen an?

Der rebellische Mönch schreitet entschlossen zur Tür. Er greift zum Hammer und nagelt ein Plakat fest, mit dem er die Welt verändern will. 95 Thesen hat er aufgeschrieben, eine Anklage gegen die römische Kirche und die Geburtsurkunde eines neuen Glaubens.

Die seit Jahrhunderten überlieferte Szene an der Tür der Wittenberger Schlosskirche ist großartig. Im Album der deutschen Momente nimmt Martin Luthers Thesenanschlag deshalb einen prominenten Platz ein. Aber so wuchtig und entschlossen, mit Hammer und Nagel, ist sein Auftritt am 31. Oktober 1517 sehr wahrscheinlich nicht gewesen.

Was damals passiert ist, weiß man nicht genau, obwohl man es lange Zeit zu wissen glaubte. Dann, im Jahr 1961, fand der Historiker Erwin Iserloh heraus: In sämtlichen Schriften Luthers gibt es keine einzige Stelle, in der von einem Thesenanschlag die Rede ist. Wenn aber der Reformator selbst kein Wort über seine heroische Tat verloren hat, dann hat sie vielleicht nie stattgefunden. Was nun?

Der Weg zur Quelle der berühmten Szene führt zu Philipp Melanchthon. Im Vorwort der gesammelten Werke Luthers schrieb er 1546, kurz nach dessen Tod, der Reformator habe seine Ablassthesen "öffentlich an der Kirche, die mit dem Wittenberger Schloss verbunden ist, am Vortag des Festes Allerheiligen 1517 angeschlagen".

Aus SPIEGEL GESCHICHTE 6/2015

Als gewissenhafter Gelehrter und enger Wegbegleiter Luthers ist Melanchthon ein guter Gewährsmann. Und der von ihm beschriebene Urknall der Reformation passte zu Luthers kernigem Charakter ebenso wie zum Ablauf der Ereignisse seit 1517, aus denen sich wunderbar eine große Erzählung formen ließ. Der 31. Oktober steht bis heute als Reformationstag im Kalender. Ein Makel bleibt jedoch: Melanchthon war an jenem Tag kein Augenzeuge, denn er kam erst 1518 nach Wittenberg.

Luthers langjähriger Sekretär Georg Rörer wohnte dort seit 1522. Obwohl also auch er kein Zeuge des Thesenanschlags war, hat vor einigen Jahren eine neu entdeckte handschriftliche Bemerkung Rörers für großes Aufsehen gesorgt. In einem Exemplar des Neuen Testaments in Luthers Übersetzung, das er gemeinsam mit dem Reformator zur Feinarbeit am Text benutzte, notierte er ganz am Ende: "Im Jahr 1517 am Vorabend von Allerheiligen sind in Wittenberg an den Türen der Kirchen die Thesen über den Ablass von Doktor Martin Luther vorgestellt worden."

Daraus, dass hier von "Türen" und "Kirchen" die Rede ist, lässt sich ein neues Szenario ableiten. Das Plakat mit den 95 Thesen wäre demnach zeitgleich an mehreren Orten in Wittenberg veröffentlicht worden.

Plausibel ist das. Gemäß den Statuten der Theologischen Fakultät war es vorgeschrieben, dass die Aufforderung zu einer akademischen Disputation an Wittenberger Kirchentüren anzubringen sei. Und zumindest formal verband Luther seine Ablasskritik mit der Einladung zu einer Fachdiskussion. In seinem Vorspruch heißt es: "Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen, soll über die folgenden Sätze disputiert werden."

Die akademischen Statuten regelten auch die praktische Frage, wer die Plakate anbringen soll: der Pedell, also der Hausmeister der Universität. Darauf hat der in Harvard lehrende Historiker Daniel Jütte im vergangenen Jahr noch einmal aufmerksam gemacht. Jütte ist spezialisiert darauf, alte Türen zum Sprechen zu bringen. Die Wittenberger Praxis war nach seinen Forschungen damals weitverbreitet: "Kirchentüren spielten eine zentrale Rolle als Informationstafeln im öffentlichen Raum." Eine gängige Methode war dabei das Ankleben der Plakate mit Leim oder Siegelwachs.

Vielleicht hat Luther deshalb nie über das Geschehen am 31. Oktober 1517 gesprochen. Was sollte ihn ein Pedell kümmern, der mit Kleber von Tür zu Tür gelaufen ist?

VIDEO: Calvin versus Luther

Diskussionsbedarf

Mit dem Ziel, die Wahrheit zu ergründen, sollen unter der Leitung von Theologieprofessor Martin Luther in Wittenberg die nachfolgenden Thesen zur Diskussion gestellt werden. Alle diejenigen, die nicht in der Lage sind, persönlich an den Debatten teilzunehmen, sind eingeladen, ihre Meinung schriftlich mitzuteilen.

Thesen 1–7: Buße und Schuld

Im Matthäus-Evangelium gibt Jesus Christus den Menschen den Auftrag, Buße zu tun. Die Gläubigen sollen ihr ganzes Leben als Buße ansehen. Buße ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht als Sakrament zu verstehen, über das nur Priester zu bestimmen haben, etwa bei der Beichte. Die Buße, die Christus meint, ist auch mehr als die innere Buße, die jeder Christ mit sich allein auszumachen hat. Die Buße muss nach außen wirken und als echte „Herzensbuße“ bis zum Lebensende bestehen bleiben.

„Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ usw. (Mt. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ (These 1, S. 21)

Der Papst kann einzig und allein Strafen erlassen, die er in seinem Amt als Kirchenoberhaupt und nach den Gesetzen der Kirche auferlegt, wenn jemand gegen diese Gesetze verstößt. Er darf Gläubigen eine Schuld nur im Namen Gottes erlassen, dessen Stellvertreter er ja ist. Den Gläubigen kann ohnehin nur durch die Vermittlung eines Priesters eine Schuld bei Gott erlassen werden.

Thesen 8–19: Der Tod und das Fegefeuer

Priester sind nicht berechtigt, Sterbenden oder Menschen in großer Not Bußen im Sinne der kirchlichen Bestimmungen aufzuerlegen. Tun sie es trotzdem, wissen sie es entweder nicht besser oder sie handeln absichtlich falsch. Ihrem Verhalten liegt die Annahme zugrunde, dass man kirchliche Strafen in solche Strafen umwandeln kann, die erst im Fegefeuer abgegolten werden. Diese Annahme ist falsch, doch sie verbreitet sich wie Unkraut. Früher war der Ablauf genau umgekehrt: Der Priester erlegte dem Sünder erst ein Buße auf, damit dieser beweisen konnte, dass er sein Vergehen ernsthaft bereute; erst dann erhielt der Sünder die Absolution. Sterbende dagegen erhielten in jedem Fall die Absolution, denn, wie oben gesagt, gelten die kirchlichen Gesetze für sie nicht mehr.

„Der Papst will und kann keine Strafen erlassen, außer solchen, die er auf Grund seiner eigenen Entscheidung oder der der kirchlichen Satzungen auferlegt hat.“ (These 5, S. 21)

Wenn jemand im Sterben liegt und seine Liebe zu Gott und sein Glaube nicht stark genug sind, dann fürchtet er den Tod. Das ist eine grauenvolle Situation voller Schrecken und einem Gefühl nahe an der Verzweiflung – und damit Strafe genug. Hölle, Fegefeuer und Himmel entsprechen den Gefühlen Verzweiflung, annähernde Verzweiflung und Sicherheit. Es wird deutlich, dass die Seelen, die sich im Fegefeuer befinden, vor allem zwei Dinge brauchen: mehr Liebe und weniger Grauen. Nirgendwo findet sich ein Beleg dafür, dass die Seelen in diesem Zustand statisch sind – vielmehr können sie noch immer etwas für ihr Schicksal tun. Womöglich wissen einige dieser Seelen gar nicht, dass sie sich ihrer Seligkeit sicher sein können.

These 20–37: Was ein Ablass kann und was nicht

Wenn der Papst vom „vollkommenen Erlass aller Strafen“ spricht, meint er damit nur jene Strafen, die er selbst verhängt hat. Es gibt jedoch Ablassprediger, die behaupten, dass die Ablässe für alle Strafen auch außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Papstes gelten. Das ist natürlich falsch. Im Fegefeuer können z. B. all diejenigen Strafen nicht erlassen werden, für die der Gläubige während seines Lebens hätte büßen müssen. Nur die Besten unter den Menschen hätten die Möglichkeit, einen Erlass wirklich aller Strafen zu erhalten, weil sie sich sehr wenig zuschulden kommen lassen. Das trifft aber auf die wenigsten zu. Die meisten Menschen werden also betrogen, wenn man ihnen verspricht, dass ihnen alle Strafen erlassen werden können.

„Die kirchlichen Bestimmungen über die Buße sind nur für die Lebenden verbindlich, den Sterbenden darf demgemäß nichts auferlegt werden.“ (These 8, S. 22)

Nicht nur der Papst hat Macht über das Schicksal der Seelen im Fegefeuer, auch jeder Bischof und Seelsorger besitzt dieselbe Macht – aber nicht etwa durch Ablass, sondern durch Fürbitte. Es wird behauptet, dass die Seelen dem Fegefeuer entkommen, sobald ausreichend Geld dafür bezahlt wurde. Doch durch erkaufte Ablässe vergrößern sich nur Gier und Gewinn. Außerdem kann niemand mit Bestimmtheit sagen, dass die Seelen selbst es gutheißen würden, wenn man sie freikauft. Der heilige Severin und Paschalis etwa wollten offenbar im Fegefeuer bleiben.

„Keiner ist der Echtheit seiner Reue gewiss, viel weniger, ob er völligen Erlass (der Sündenstrafe) erlangt hat.“ (These 30, S. 24)

Niemand kann sich jemals sicher sein, dass seine Reue ausreichend war. Noch viel weniger sicher kann man sich jedoch sein, dass man sich tatsächlich von allen Sünden freigekauft hat. Vor allen Menschen, die den Ablassbrief als ultimatives Mittel der Versöhnung zwischen Mensch und Gott propagieren, sollte man sich hüten. Ablässe erstrecken sich nämlich nur auf die von Menschen auferlegten Strafen für Verstöße gegen die kirchlichen Regeln. Es ist falsch, den Menschen weismachen zu wollen, sie müssten nichts mehr bereuen, sobald sie einen Ablassbrief besitzen. Denn jeder Christ hat die Möglichkeit, durch echte Reue alle Strafe und Schuld erlassen zu bekommen – ohne dafür zahlen zu müssen. Alle Christen haben von Gott im Leben und im Tod die gleichen Anteile an seiner Kirche erhalten.

These 38–48: Ablass vs. gute Taten

Bei aller Kritik am Ablasshandel muss festgehalten werden, dass der Erlass von Sünden nicht durchweg als schlecht zu bewerten ist. Der Erlass ist eine Erklärung, dass Gott dem Sünder vergeben hat. Nach der christlichen Lehre kann die Fülle der Ablässe aber kein gutes Zeichen sein: Ein wahrer Christ bereut aufrichtig und nimmt die Strafe für seine Sünde dankbar an. Heute werden aber so viele Ablassbriefe erworben, dass es den Eindruck macht, als sei den Menschen die Reue gleichgültig geworden und als würden sie die Strafe, die sie lieben sollten, eher hassen.

„Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief.“ (These 36, S. 24)

Manche Menschen könnten sich verleiten lassen, einen Ablass zu kaufen, statt sich durch Taten der Nächstenliebe auszuzeichnen. Deswegen sollte ganz klar gelehrt werden, dass barmherzige Taten den Wert von Ablässen immer überwiegen. Es ist immer besser, Armen zu helfen oder Bedürftigen etwas zu leihen, statt sein Geld für Ablässe auszugeben. Nur mit guten Taten wird die Liebe insgesamt vermehrt und die Menschheit besser – mit Ablässen kann dagegen niemand besser werden, sondern sich nur von Strafen befreien. Wer einen Ablass kauft, statt das Geld einzusetzen, um seinen Mitmenschen zu helfen, handelt gegen Gottes Willen. Diejenigen, die gerade genug zum Leben haben, sollten ihr Geld keinesfalls für einen Ablass ausgeben, sondern ihren Alltag damit finanzieren. Alles andere wäre Verschwendung. Es sollte allgemein bekannt gemacht werden, dass kein Christ gezwungen ist, Ablässe zu kaufen – es handelt sich um eine rein freiwillige Entscheidung. Dem Papst widmet man als Gegenleistung für einen Sündenerlass am besten ein Gebet, statt ihm Geld zu geben.

These 49–55: Die Vergehen der Ablassprediger

Einen Ablass zu erhalten, ist eine gute Sache, solange man sich nicht darauf verlässt und, nur weil man einen Ablass besitzt, die Gottesfurcht vergisst. Sicherlich wäre der Papst wütend, wenn er erführe, mit welchen Methoden die Ablassprediger die Menschen dazu bringen, ihnen ihr Geld zu geben. Bestimmt würde er nicht wollen, dass die Christen ihr letztes Geld dafür hergeben, dass er sich eine neue Kirche bauen kann. Ja, er wäre sogar bereit, den Petersdom zu verkaufen, wenn er damit den armen Menschen helfen könnte, denen die Ablassprediger ihr Erspartes abluchsen.

„Man soll die Christen lehren: Dem Armen zu geben und dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen.“ (These 43, S. 25)

Niemand kann nur wegen eines Ablassbriefes erwarten, dass er in den Himmel kommt – selbst wenn es ihm der Papst selbst verspricht. Und wenn in einigen Kirchen nicht mehr das Wort Gottes gepredigt, sondern nur für den Ablass geworben wird, kann das nicht in Gottes Sinne sein. Niemals sollte in einem Gottesdienst der Ablasspredigt mehr Raum gegeben werden als der Vermittlung des Evangeliums. Der Ablass ist hundertmal weniger wichtig als das Evangelium.

These 56–68: Was sind die „Schätze der Kirche“?

Das Volk weiß gar nicht genau, wie der Papst überhaupt Ablässe aus den so genannten „Schätzen der Kirche“ austeilen kann. Damit können ja keine Güter im eigentlichen Sinne gemeint sein – solche würden die meisten Kleriker nicht einfach so herausgeben. Es kann sich aber auch nicht um die Verdienste Jesu Christi und der Heiligen handeln – denn die kommen den Gläubigen auch ohne die Vermittlung des Papstes zugute. Dem heiligen Laurentius zufolge sind die Schätze der Kirche „ihre Armen“ – aber er verwendete den Begriff anders als hier und heute gemeint.

„Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.“ (These 50, S. 26)

Mit den Schätzen sind vielmehr die „Schlüssel der Kirche“ gemeint, die sie durch Jesus Christus’ Aufopferung erhalten hat. Der größte Schatz der Kirche ist aber das Evangelium, das von der Gnade und der Herrlichkeit Gottes berichtet. Dieser Schatz macht aus den Ersten Letzte – während der Ablass aus den Letzten Erste macht. Kein Wunder, dass er so beliebt ist. Das Evangelium kann selbst reiche Menschen in seinem Netz fangen und sie zum Christentum bringen, während der Ablass nur den Reichtum einzufangen vermag. Er kommt nur den Ablasspredigern zugute, die damit ein lohnendes Geschäft machen.

These 69–80: Warum man gegen die Ablassprediger vorgehen sollte

Die Bischöfe und Pfarrer sollen die Kommissare, die vom Papst mit dem Verteilen von Ablässen beauftragt wurden, unterstützen, doch all diejenigen Ablassprediger, die zügellos Lügen verbreiten, sollten scharf beobachtet und daran gehindert werden. Der Bannstrahl des Papstes wird sie treffen.

„Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ (These 62, S. 27)

Es ist Unsinn, wenn jemand behauptet, der päpstliche Ablass könnte einen sogar dann von aller Schuld befreien, wenn er die Muttergottes selbst angegriffen habe. Vielmehr kann der päpstliche Ablass niemals, auch nicht in kleinen Fällen, die Schuld für eine Sünde fortnehmen und sie ungeschehen machen. Man sagt, der Ablass sei die größte Gabe, die der Papst geben kann, und selbst Petrus hätte keine größere geben können. Das stimmt nicht: Der Papst hat das Evangelium und laut den Korintherbriefen auch die Gabe, gesund zu machen. Dies sind viel größere Gaben. Es wird auch behauptet, dass das Ablasskreuz, das dieser Tage in vielen Kirchen hängt, mit dem Kreuz Christi zu vergleichen wäre. Bischöfe, Pfarrer und Theologen, die solche Gotteslästerungen zulassen, sollten dafür bestraft werden.

These 81–95: Kritische Fragen an den Papst

Das Verhalten der Ablassprediger führt immer häufiger dazu, dass die Menschen den Papst für deren Treiben verantwortlich machen. Es wird immer schwerer, das Kirchenoberhaupt zu verteidigen. Zu den spitzfindigen Fragen, die mitunter gestellt werden, zählt etwa die, warum der Papst nicht einfach alle Seelen aus dem Fegefeuer entlässt – einfach aus Liebe zu den Seelen, die höchste Not leiden. Stattdessen sammelt er das Geld, das er von denen erhält, die Seelen loskaufen, um eine unselige Kirche zu bauen. Warum, so könnte man fragen, werden immer noch Messen für die Toten gehalten, wenn sie doch losgekauft wurden und keiner Gebete mehr bedürfen? Warum gibt der Papst das Geld, das für diese Messen gestiftet wurde, nicht zurück? Warum sollte ein gottloser Mensch eine Seele freikaufen können, aber der Papst diese nicht um ihrer selbst willen befreien? Und weshalb, fragen manche kritische Leute, nimmt der Papst nicht zur Abwechslung einmal sein eigenes Geld, um davon eine Kirche zu bauen – reich genug ist er doch? Und was ist mit jenen seltenen Menschen, die vollkommene Reue zeigen: Was kann der Papst ihnen noch erlassen oder woran kann er ihnen einen Anteil geben, wenn sie doch zu Recht einen totalen Erlass erwarten können? Warum kann der Papst, der derzeit einmal am Tag Erlässe gibt, diese nicht verhundertfachen und allen Gläubigen Ablässe gewähren?

„Diese freche Ablasspredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik und sogar vor spitzfindigen Fragen der Laien zu schützen.“ (These 81, S. 28 f.)

Solche laienhaften Fragen können selbst für Gelehrte manchmal unangenehm zu beantworten sein. Man kann sie jedoch nicht einfach ignorieren: Wenn keine schlagenden Argumente gegen diese Vorwürfe gefunden werden, spielt man damit den Feinden der Kirche und der Christenheit in die Hände. Dabei gäbe es einen einfachen Weg, den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen: Indem nämlich der Ablass so gehandhabt wird, wie es den christlichen Lehren entspricht. Man kann deshalb nur dazu aufrufen, die falschen Propheten und betrügerischen Ablassprediger aufzuhalten und fortzujagen. Den Gläubigen sollte wieder vermittelt werden, dass der Weg ins Himmelreich über Trübsal, Strafen und Tod erfolgt, statt ihnen mit Ablässen falsche Hoffnungen zu machen.

Glaube und Kirche im frühen 16. Jahrhundert

Christliche Frömmigkeit durchdrang an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert alle Lebensbereiche – Wallfahrten, Ablasskauf, Heiligen- und Reliquienverehrung waren beliebt wie nie. Die katholische Kirche hatte enormen Einfluss auf die Politik und alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Infolge der zunehmenden Kommerzialisierung des Glaubens machte sich jedoch auch Kritik breit. Die Kirche verlor ihre Glaubwürdigkeit, je weiter viele ihrer Vertreter ihre Habgier und ihr finanzielles Kalkül allem anderen voranstellten. Die meisten Kritiker hatten aber nicht das Ziel, die katholische Kirche als Institution abzuschaffen, sondern brachten nur den Wunsch zum Ausdruck, sie zu erneuern. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Strömung war der niederländische Humanist Erasmus von Rotterdam, der in seinem Werk Das Lob der Narrheit (1511) die zentralen Kritikpunkte an der zeitgenössischen Kirche auf den Punkt brachte und eine neue Laienfrömmigkeit und Rückbesinnung auf die christlichen Tugenden propagierte.

Der Ablasshandel beruhte auf der Tradition, dass die Menschen ihre Reue für begangene Sünden zeigten, indem sie Buße taten und als äußeres Zeichen derselben z. B. Bedürftigen spendeten. Im Lauf der Jahre entwickelte sich daraus ein eigener Wirtschaftszweig: Für Geldleistungen, die die eigentliche Bußstrafe ersetzten, konnten Ablassbriefe erworben werden. Theologisch wurde die Fähigkeit der Kirche, Ablässe zu gewähren, damit begründet, dass sie über die so genannten „Schätze der Kirche“ verfügte, womit die Verdienste von Jesus Christus und den Heiligen gemeint waren. Aus diesem Gnadenschatz, den die Kirche verwaltete, konnten nun Teile, in Form von Ablässen, herausgegeben werden.

Entstehung

Martin Luther lehrte ab 1512 in Wittenberg Theologie und konzentrierte sich in seinen Vorlesungen vor allem auf die Bibelexegese, also die Auslegung der Heiligen Schrift. Wichtige Impulse erhielt er aus den Schriften des Kirchenvaters Augustinus, auf deren Grundlage und in der Abkehr von der scholastischen Lehrmeinung er seinen gnadentheologischen, seelsorgerischen Ansatz entwickelte. Immer öfter musste Luther bei seinen Forschungen erkennen, welche Abgründe zwischen der zeitgenössischen katholischen Lehre und den tatsächlichen Inhalten der Bibel klafften. Letzter Auslöser für Luthers Thesen war der päpstliche Ablass, der unter Julius II. und Leo X. zur Finanzierung genutzt, oder nach Meinung vieler, missbraucht wurde. Einer der bekanntesten und skrupellosesten Ablassprediger war Johann Tetzel, ein Dominikanermönch, von dem gesagt wurde, er könne einem sogar einen Ablass besorgen, wenn man die Muttergottes selbst vergewaltigt hätte. Tetzel und andere Ablassprediger erkannten natürlich, dass sich viele von Luthers Thesen gegen sie richteten – kein Wunder also, dass es die Dominikaner waren, die nach der Veröffentlichung der Thesen als Erste ein Verfahren wegen Ketzerei gegen Luther anregten.

Wirkungsgeschichte

Seinem Kollegen Philipp Melanchthon zufolge veröffentlichte Luther seine Thesen, indem er sie am 31. Oktober 1517 an das Portal der Wittenberger Schlosskirche schlug, das in dieser Zeit als eine Art Schwarzes Brett genutzt wurde. Bis heute ist sich die Forschung nicht einig geworden, ob dieser berühmte Thesenanschlag tatsächlich so stattgefunden hat – fest steht jedoch, dass die Thesen zu dieser Zeit tatsächlich veröffentlicht wurden: Luther hat sie an ausgesuchte kirchliche Würdenträger (den Erzbischof von Mainz sowie die Bischöfe von Brandenburg und Merseburg) sowie an einige enge Vertraute verschickt, die sie rasch überall im Land in Umlauf brachten. Im darauffolgenden Jahr griff er das Thema in einem in lateinischer Sprache verfassten Kommentar und in der auf Deutsch verfassten Schrift Sermon von Ablass und Gnade wieder auf – diese letzte Schrift wurde ein echter Publikumserfolg und lancierte die Debatte um den Ablasshandel erst richtig.

Die Thesen waren demnach nur ein Vorgeschmack, ein erster Gang an die Öffentlichkeit. Was folgte, sollte ganz Europa in seinen Grundfesten erschüttern. Luther verwarf die Möglichkeit, die katholische Kirche von innen heraus zu reformieren, schnell, und schuf damit auch unüberwindbare Differenzen zum Humanismus und seinem wichtigsten zeitgenössischen Vertreter Erasmus, mit dem er in Briefkontakt stand. Ab 1520 entwickelte er sein Gegenmodell zur katholischen Kirche und präzisierte sein Verständnis der christlichen Sakramente und der Freiheit der Christen. Damit legte er den Grundstein für die evangelische Kirche – aber auch für eine der längsten und blutigsten Auseinandersetzungen der europäischen Geschichte, deren Höhepunkt der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) werden sollte.

Wann und wo schlug Martin Luther seine Thesen an?

Am 31. Oktober 1517 schlägt er seine Thesen gegen den Ablasshandel sogar eigenhändig an die Tür der Wittenberger Schlosskirche.

Wo schlug Luther die Thesen an die Kirchentür?

Am Anfang stand ein junger Mönch. Er ärgerte sich über seine Kirche und schlug deswegen am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. Fast 500 Jahre ist das her. Eigentlich wollte Martin Luther die Kirche damit nur verändern, doch am Ende stand eine neue Kirche.

In welcher Stadt schlug Luther die Thesen an?

„Aus Liebe zur Wahrheit und im Verlangen, sie zu erhellen, sollen die folgenden Thesen in Wittenberg disputiert werden“ … mit diesen Sätzen läutete Martin Luther die Reformation ein.

Wann schlug Luther die 95 Thesen an die Kirchentür?

Am 31. Oktober 1517 schlug der Augustinermönch Martin Luther (1483–1546) mit Hammer und Nagel seine 95 Thesen zum Ablass an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg und brachte damit die mittelalterliche Papstkirche zum Einsturz.

Toplist

Neuester Beitrag

Stichworte