Wer behauptet ein mädchen ist n7tzlicher als 20 jungen

In China geriet das Geschlechterverhältnis in den letzten Jahrzehnten immer weiter ins Ungleichgewicht: Die Ein-Kind-Politik der Regierung hat dazu geführt, dass manche Paare nach der pränatalen Geschlechtsbestimmung unerwünschte Mädchen abtreiben, um später einen Jungen bekommen zu können. Das Resultat ist heute ein Überschuss an frustrierten Junggesellen mit geringen Heiratschancen, der zu einem ernsthaften sozialen Unruhefaktor werden könnte.

von Paul Wiseman

Die Traditionen Chinas, eine strenge Ein-Kind-Politik und die moderne Medizintechnik schaffen vereint einen demografischen Albtraum, der Chinas Stabilität und die Aussichten auf größere politische Freiheiten im bevölkerungsreichsten Land der Erde gefährdet: Im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte werden 40 Millionen junge chinesische Männer nicht heiraten, sich niederlassen und eine Familie gründen können, da es nicht genügend Frauen für sie geben wird.

Wissenschaftler prognostizieren, dass die wachsende Anzahl einsamer Männer in den Slums der Wanderarbeiter und auf abgelegenen Farmen zu einer Gefahr für die soziale Ordnung werden könnte. Die chinesische Regierung könnte sich gezwungen sehen, ihre Kontrolle über die Gesellschaft zu verschärfen oder sogar militärische Konflikte außerhalb des Landes zu suchen, um die rastlosen Junggesellen zu beschäftigen.

"Jeder, der erwartet, dass China ein Paradies der Demokratie wird, ignoriert meiner Meinung nach die Geschlechterbalance" , meint Valerie Hudson, eine Politikwissenschaftlerin an der Brigham Young University in Provo im amerikanischen Bundesstaat Utah, die die politischen Folgen unausgewogener Geschlechterverhältnisse untersucht.

Das Ungleichgewicht, verschärft durch eine seit zwei Jahrzehnten praktizierte Regierungspolitik, die den meisten Paaren Chinas nur ein Kind erlaubt, ist krass. Der letzten Volkszählung zufolge wurden in China im Jahre 2000 je 100 Mädchen 116,9 Jungen geboren -mehr als 1990, als es bereits ein alarmierendes Verhältnis von 111,3 Jungen zu 100 Mädchen gab. Beide Zahlen liegen weit über dem weltweit als normal geltenden Verhältnis von 105 bis 107 Jungen pro 100 geborenen Mädchen. Folglich werden in China im Jahre 2020 zwischen 29 und 33 Millionen unverheirateter Männer im Alter zwischen 15 und 34 Jahren leben. Das jedenfalls stellen Hudson und Andrea Den Boer von der britischen Universität in Kent in einem Bericht fest, der unlängst in der Zeitschrift International Security erscheinen ist. Andere Schätzungen gehen sogar von rund 40 Millionen jungen unverheirateten Männern aus; das ist mehr als die gegenwärtige weibliche Bevölkerung von Taiwan und Südkorea zusammen. In China werden die Junggesellen "guang guan", "kahle Äste" oder "kahle Stöcke", genannt.

Die meisten der Millionen Männer, die während der nächsten zwei Jahrzehnte unverheiratet bleiben werden, sind Chinas Verlierer im sozialen Wettkampf , erläutern Hudson und Den Boer. Mittellose junge Männer in Wuhan beschweren sich, die modernen Frauen seien zu wählerisch. Früher wählten die Männer ihre Frauen aus , erzählt Liu Xicheng, ein 21-jähriger Wanderarbeiter, der aus der Provinz Hebei in das nahe gelegene Peking gegangen ist. Heute ist es umgekehrt. Einige Frauen stellen hohe Ansprüche. Sie heiraten nicht jeden.

Die chinesische Regierung ist durch den Überschuss an Junggesellen alarmiert. Das ist ein wirklich gefährliches Verhältnis , sagte Ren Yuling kürzlich der Zeitung China Youth Daily. Er ist ein Delegierter im Chinese People s Political Consultative Committee, einem Gremium zur Politikberatung. "Diese Zahlen bedeuten, dass einige Leute niemals eine Ehefrau finden werden, also werden sie sich auf prekäres Terrain begeben." Die chinesische Zeitschrift Beijing Luntan sagte bereits 1997 voraus, dass "Sexualverbrechen wie Zwangsheiraten, die Entführung von Mädchen, Bigamie, Prostitution, Vergewaltigung, Ehebruch ... Homosexualität ... und verrückte Sexualpraktiken unvermeidbar zu sein scheinen". Prostitution ist in den Städten Chinas bereits weit verbreitet, der Brauthandel auf dem Lande alltäglich. Entführte Bräute erzielen in der ländlichen Provinz Hebei laut chinesischer Medienberichte umgerechnet über 600 Euro, obwohl viele der Frauen fliehen können (vgl. "der überblick" 1/02 S. 56 ff.).

Das Problem beginnt mit der traditionellen Bevorzugung von Jungen gegenüber Mädchen in China. Söhne - so wird vielfach gedacht - geben den Familiennamen weiter und sorgen für ihre alternden Eltern; Töchter dagegen heiraten in andere Familien ein und kümmern sich traditionell um die Eltern ihres Ehemannes, wenn diese alt werden. Die chinesische Ein-Kind-Politik verschärfte diese Situation jedoch noch: Aus Sorge, dass ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum Chinas knappe Nahrungs-und Wasserressourcen verschlingen könnte, erlaubte die Regierung ab 1979 den meisten Familien nur noch ein Kind. Die Bevölkerung Chinas sollte so bis zum Jahr 2000 unter 1,2 Milliarden Menschen gehalten werden. Obwohl das Ziel verfehlt wurde - in China leben heute ungefähr 1,3 Milliarden Menschen - sanken die Geburtenraten durch diese Politik erheblich. Manchmal wurden Frauen zur Abtreibung gezwungen und Pärchen, die ein zweites Kind hatten, mit Bußgeld belegt. Wegen der Vorschrift, nur ein Kind bekommen zu dürfen, bietet sich vielen Pärchen nun nur eine einzige Chance auf einen Sohn. Viele lassen deshalb Ultraschall-Untersuchungen vornehmen, um das Geschlecht des Fötuses im Mutterleib feststellen und Mädchen abtreiben zu können.

Ultraschall-Untersuchungen vor der Geburt sind in China zwar illegal, aber trotzdem weit verbreitet. Eine Studie ergab, dass 36 Prozent aller Abtreibungen in einem ländlichen Bezirk Chinas dem Ziel dienten, Mädchen auszusondern. Die pränatale Geschlechterselektion war wahrscheinlich die wichtigste, wenn auch nicht die einzige Ursache dafür, dass das Geburtenverhältnis in dem untersuchten ländlichen Gebiet 126 Jungen zu 100 Mädchen betrug, berichtete der chinesische Wissenschaftler Chu Junhong im Jahr 2001 im US-amerikanischen Journal Population and Development Review. Die den Ultraschall-Test durchführenden Ärzte sagten nicht, ob der Fötus ein Mädchen oder ein Junge sei, so Chu, aber sie könnten lächeln oder die Stirn runzeln, um das Geschlecht des Fötuses anzudeuten .

Das Geschlechterverhältnis begann aus dem Gleichgewicht zu geraten, als in den späten achtziger Jahren tragbare Ultraschallgeräte auch in entlegene Dörfer gelangten. Im Zentrum der Hubei-Provinz etwa stieg die Zahl der Geburten von Jungen, die auf je 100 Mädchengeburten kamen, von 107 im Jahr 1982 auf 109,5 im Jahr 1989; im Jahr 1995 erreichte sie gar 130,3. Das ist die höchste Quote in ganz China in jenem Jahr.

Zhang Yi, Demograph an der Chinese Academy of Social Sciences, behauptet, die offiziellen Geburtsstatistiken seien zwar bedenklich, übertrieben aber das Ungleichgewicht von Jungen und Mädchen, weil einige Familien die Geburt einer Tochter verheimlichten, um sich gegenüber den Behörden die Chance auf einen Sohn zu erhalten. Trotzdem glaubt auch Zhang, das Zahlenverhältnis der in China zur Welt kommenden Kinder sei außer Kontrolle geraten.

Das verzerrte Geschlechterverhältnis sei jedoch nicht das einzige Problem für junge chinesische Männer, so Zhang. Soziale Veränderungen erschwerten ihnen zusätzlich die Heirat. Seit China seine sozialistische Wirtschaft in den frühen 1980er Jahren öffnete, verließen viele Millionen Chinesen die verarmten Farmen, um anderswo Arbeit zu finden. Unglücklicherweise wandern Männer und Frauen in entgegengesetzte Richtungen: Während die Frauen Arbeit in den Fabriken an der boomenden Ostküste finden, werden die Männer in staatlichen Arbeitsprojekten im Inneren des Landes gebraucht. Diese Migrationsmuster haben zum Teil zu einer absurden Situation in einem Land mit eigentlich zu vielen unverheirateten Männern geführt: Zhang berichtet von einer Industriestadt in der südöstlich gelegenen Provinz Guangdong, in der 200.000 Frauen und nur 4000 einheimische Männer leben. Es ist nicht verwunderlich, so Zhang, dass die einheimischen Frauen den zugewanderten Frauen feindlich gesinnt sind .

Das ist natürlich ein extremer Sonderfall. Insgesamt werden die chinesischen Frauen wählerischer. Traditionell arrangierte Hochzeiten verschwinden vor allem in den Städten. Und in einem Land mit einer zunehmenden Einkommenskluft wollen viele junge Frauen einen gut gestellten Mann heiraten, sodass die mittellosen jungen Männer auf dem Lande zurückbleiben. Die Mädchen halten sich zunehmend an nützliche Eigenschaften , sagt die 20-jährige Li Shaowa, Verkäuferin in einem Kaufhaus Wuhans. Geld ist wichtig , stimmt ihre gleichaltrige Kollegin Yang Wen zu. Er muss einen sicheren Job haben und gut ausgebildet sein. Beide sagen, sie würden sich Zeit lassen bei der Suche nach einem Ehemann.

Die Leidtragenden der demographischen Entwicklung sind Chinas ärmste, am schlechtesten ausgebildete Männer. 97 Prozent der unverheirateten Männer, die auf dem Lande leben, haben zum Beispiel nie eine weiterführende Schule abgeschlossen, 40 Prozent können nicht lesen und schreiben. Bereits heute leben viele Junggesellen ohne Frauen in den Unterkünften der Wanderarbeiter. Eine Baustelle in der Industriestadt Wuhan ist zweifellos eine Männerwelt. Yang Yudong, ein 22 Jahre alter Arbeiter, räumt ein, dass seine Aussichten zu heiraten düster sind: "Wenn du heiraten willst, brauchst du Geld", sagt er. "Das Geld, das ich jetzt verdiene (umgerechnet gut 70 Euro im Monat), reicht dafür nicht aus."

In einer abgelegenen Seitenstraße von Peking leben männliche Wanderarbeiter in Hütten hinter einem Massagesalon, in dem sie als Kellner oder Hauswart beschäftigt sind. Die Männer, die meist vom Lande gekommen sind, schlafen zu zweit oder zu dritt auf einer Matratze; das einzige Möbelstück ist ein hölzernes Büfett mit einigen Teetassen. Doch sie sind froh, rund 60 Euro im Monat zu verdienen. Sie verlassen ihre Unterkunft nicht oft. Sie haben Angst vor den Schikanen der Polizei, weil viele von ihnen keine Erlaubnis haben, in Peking zu wohnen. Und sie können es sich nicht leisten, viel zu unternehmen. Wenn sie nicht arbeiten, halten sie sich in den Hütten auf, schlafen und rauchen.

Manchmal werden die Migranten gewalttätig. Im vergangenen Monat etwa bearbeitete ein Zuwanderer aus der östlich gelegenen Provinz Jiangsu seinen Vorgesetzten mit den Fäusten und schlug ihm einen Zahn aus, sodass der ins Krankenhaus musste. Wissenschaftler sagen, dass aggressives Verhalten in Gruppen junger Männer, die ohne Frauen weit weg von zu Hause leben, stark verbreitet sei.

Die Migranten werden für die zunehmende Kriminalität in den Städten verantwortlich gemacht. Da ihre Anzahl weiter steigt, könnten sie zu einer größeren Gefahr für die soziale Ordnung werden. "Wenn erst die Funken sprühen", schreiben Hudson und Den Boer, "stellen diese 'kahlen Äste' das Anmachholz dar, das ausreicht, die Funken in ein Feuer zu verwandeln, das größer und gefährlicher wird als unter normalen Umständen." Die zwei Wissenschaftlerinnen weisen darauf hin, dass eine große Anzahl unverheirateter Männer die chinesische Gesellschaft auch in der Vergangenheit in Unruhe versetzt hat. Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel brach in der östlichen Provinz Shandong, wo auf 100 Frauen 129 Männer kamen, die Nien-Rebellion aus. Zu jener Zeit blieben 25 Prozent der chinesischen Männer unverheiratet, weil viele Mädchen gleich nach der Geburt umgebracht wurden. Einige der Junggesellen in Shandong, die keine Frauen finden konnten, betätigten sich als Banditen und erhoben sich später in einer offenen Rebellion gegen die regierende Qing-Dynastie. Auf deren Höhepunkt kontrollierten 100.000 Rebellen ein Territorium, auf dem sechs Millionen Menschen lebten. Die Regierung brauchte 17 Jahre, um den Aufstand niederzuschlagen.

In der Vergangenheit ließen sich die Regierungen unterschiedliche Maßnahmen einfallen, um die lästigen unverheirateten Männer zu kontrollieren. Hudson und Den Boer befürchten deshalb, dass die Regierung zunehmend auf autoritäre Herrschaft setzen wird: Die Aussicht, dass in China eine entwickelte Demokratie entstehen wird, ist gering.

Methoden, sich der jungen Männer zu entledigen, bestanden in früheren Epochen beispielsweise darin, diese in den Krieg zu schicken - Hudson und Den Boer hatten herausgefunden, dass Portugal während des Mittelalters seine landlosen unverheirateten Männer zur Invasion nach Nordafrika schickte. Die Wissenschaftler prognostizieren, dass Indien und Pakistan - beides Länder mit großen Überschüssen an unverheirateten Männern - wenig Anreiz haben, die Feindseligkeiten in der Himalaya-Region Kaschmir einzustellen.

Ein zunehmend selbstbewusstes China könnte ebenfalls eine Auseinandersetzung mit seinen Nachbarn suchen. Auch die Entsendung der Männer in staatliche Arbeitsprojekte, weit weg von den Städten, wäre ein mögliches Mittel zur Beschäftigung der überzähligen. So hat China gewaltige Bauprogramme aufgenommen, darunter eine Erdgasleitung von Westchina nach Shanghai und eine Hochgeschwindigkeitsstrecke für Eisenbahnen nach Tibet. Zudem könnten Junggesellen bei den Sicherheitskräften untergebracht werden. Bereits heute gliedert China arme junge Männer in die paramilitärische Bewaffnete Volkspolizei ein, die zur Bekämpfung von Aufständen und anderen sozialen Unruhen vorgesehen ist.

In der Vergangenheit arbeiteten Chinas Junggesellen als Leibwächter, Schuldeneintreiber, Rausschmeißer und Schutzgelderpresser, so der Anthropologe James Watson von der Harvard-Universität, der die Subkultur der Junggesellen im südlichen China untersucht hat. Ich gehe davon aus, dass sich diese Art von Jobs gewaltig ausbreiten wird.

Die Staatliche Kommission für Familienplanung, die Chinas Ein-Kind-Politik überwacht, versucht, den Problemen entgegenzuwirken. Sie hat den Gebrauch von pränatalen Ultraschall-Untersuchungen verboten und versucht, die Töchter zu erfassen, die versteckt wurden. Darüber hinaus will sie ein soziales Sicherheitsnetz aufbauen, um den Eltern die Angst zu nehmen, für sie wäre im Alter nicht gesorgt. In begrenzten Testläufen erwies sich diese Maßnahme bisher als vielversprechend.

Das chinesische Magazin Beijing Luntan schlussfolgert, dass viele arme junge Männer keine andere Wahl haben werden, als sich an ein Single-Leben zu gewöhnen. Sie müssen lernen, mit der Strafe zu leben, die sie für die Fehler der vorangegangenen Generation bekommen haben .