Wer hier nicht tanzt ist tot

Musik Polina Lapkovskaja

Musikassistenz Lasse Altmark

Videoassistenz Nogati Udayana

Hassan Abdulmaula,

Abayomi Bankole,

Monika Ganseforth,

Günter Greve,

Inna Koch,

Heinrich Kronlage,

Karin-Johanna Legatis,

Judit Marach

Podcast

Theaterzeit zu „Ich bin nicht tot“

Audioeinführung von Dramaturgin Barbara Kantel

Inhalt

Sobald wir älter werden, halten uns einige Gedanken nachts wach: Wie werden die letzten Jahre unseres Lebens aussehen? Wo werden wir wohnen und wie werden wir unsere Rechnungen bezahlen? Wer wird uns lieben und für uns sorgen?
Jung, schön, produktiv – wer das alles nicht ist, hat es schwer in unserer Gesellschaft. Und obwohl die immer älter wird, macht das System Menschen „65 plus“ unsichtbar. Senior:innen verschwinden aus der Öffentlichkeit; aus dem politischen, erotischen wie künstlerischen Alltag. Die Pandemie verschärft die Situation für viele alte Menschen. Isoliert und ausgegrenzt, entscheiden oftmals andere für sie über Leben und Sterben.
In Lola Arias‘ neuester Arbeit stehen hannoversche Senior:innen und Pflegekräfte zusammen auf der Bühne, um den Aufstand zu proben gegen den zugewiesenen Platz im System. Sie fordern: Weg mit dem Vorurteil von den vermeintlich stillen und anspruchslosen „Alten“, hin zu einer Zukunftsvision, die der jungen Generation ein besseres Bild vom Älterwerden zeigt. Live-Videos und Filmsequenzen mischen sich mit den Stimmen der Protagonist:innen, von denen nahezu alle erstmalig in einer Theaterproduktion mitspielen.
Ich bin nicht tot ist ein Stück, das sich an der Schnittstelle von Realität und Fiktion bewegt und in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover in die neue Spielzeit 21/22 übergeht.
Lola Arias ist Theater- und Filmregisseurin, Autorin und Performerin. Ihre Stücke, für die sie sowohl mit professionellen Schauspieler:innen als auch mit Lai:innen arbeitet, verhandeln in der Regel deren Lebensgeschichten. Lola Arias war 2010 bereits mit That Enemy Within, 2014 mit Das Jahr, in dem ich geboren wurde und 2016 mit Minefield beim Festival Theaterformen zu Gast.

Pressestimmen

Hannoversche Allgemeine Zeitung

„Abayomi Bankole, Monika Ganseforth, Hans-Günter Greve, Inna Koch, Heinrich Kronlage und Karin-Johanna Legatis sind außergewöhnliche Menschen mit außergewöhnlichen Geschichten (…) Arias setzt ihre Schwerpunkte auf Utopien. Sie konstruiert aus dem Nebeneinander ihrer faszinierenden Akteure ein Miteinander. Der begeisterte Applaus des Publikums gilt nicht nur der großen Leistung auf der Bühne – sondern auch der, es bis hier geschafft zu haben, dabei die Gesellschaft geprägt zu haben und immer noch nicht damit aufzuhören zu wollen.“

Neue Presse

„In einer Gesellschaft, die einem fragwürdigen Ideal von Jugendlichkeit und Leistung huldigt, sind es eben nicht zuletzt Seniorinnen und Senioren, die Ausgrenzung erfahren. Der Abend ist mehr als eine plakative Geste des Aufbegehrens. Glücklicherweise gibt es eine Menge Zwischentöne und nicht zuletzt einigen Humor.“

Süddeutsche Zeitung

„All diese Geschichtsfäden verwebt Arias in einen dichten Erzählteppich, der keine Sekunde jene Peinlichkeit erzeugt, die Laien im Theater gelegentlich auslösen. Die Inszenierung passt zum Schauspiel Hannover, wo man seit Beginn der Intendanz von Sonja Anders 2019 die biografische Vielfalt der modernen Stadtgesellschaft programmatisch abbilden will.“

nachtkritik.de

„Die Inszenierung spricht Themen an, über die sich zu sprechen lohnt: Diskriminierung und das Unsichtbarmachen des Alters in der Gesellschaft, der Zustand der auf Effizienz getrimmten Altenpflege.“

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Wer hier nicht tanzt ist tot

Prolog

„Möpke! Was ist denn jetzt schon wieder?“

Beinahe hätte Roos durch den Ruck der Leine an ihrem Handgelenk das Telefon fallen lassen. Sie und ihr Hund sind gerade an dem kleinen Platz mit dem Brunnen angekommen, aus dessen Becken eine Skulptur aufragt, die aussieht wie eine aufgehende Knospe. Dorthin spaziert Roos jeden Tag schon früh am Morgen, damit Möpke unterwegs sein Geschäft ins schüttere Gras des Grünstreifens setzen kann, der sich zwischen Fritz-Behrens-Allee und Hindenburgstraße erstreckt. Meist umrunden sie dann noch den Brunnen, ehe sie wieder nach Hause gehen. Heute aber bleibt die kleine französische Bulldogge vor einer Bank stehen, rammt ihre krummen Beine in die Erde und stemmt sich mit aller Kraft gegen den Zug der Leine. Dazu kläfft der Hund mit gesträubtem Nackenfell.

Roos, die anhand ihres digitalen Kalenders die Termine für diesen Samstag durchsieht, kann nicht gleich erkennen, was Möpke so aufregt, denn die Sonne ist gerade erst aufgegangen, und die Bank, die Möpke anbellt, befindet sich im Schatten zweier Bäume.

Roos führt ihren Möpke am liebsten in der Morgendämmerung aus. Dabei ist sie keine Frühaufsteherin. Ihr Friseursalon öffnet um neun, sie könnte durchaus noch länger schlafen. Doch je früher sie rausgeht, desto weniger Mensch-Hund-Gespannen begegnet sie, und darum geht es. Denn jeder Hund, egal ob groß oder klein, wird von Möpke wütend angebellt und bei Gelegenheit auch attackiert. Im Sommer ist Möpke von einem größeren Artgenossen gebissen worden, seitdem ist sein Verhalten noch schlimmer geworden, und die Gassigänge sind der pure Stress. Abgesehen davon ist Roos auch nicht scharf auf die Kommentare und Ratschläge anderer Hundebesitzer, die natürlich alle genau wissen, wo das Problem liegt und was zu tun ist. Roos fühlt sich persönlich angegriffen, wenn man Klein Möpke als Angstkläffer, Aggro-Töle oder Mistköter bezeichnet. Da kann es dann schon mal passieren, dass sie ebenso aggressiv wird wie ihr Hund.

Roos ist jetzt noch etwa fünf Meter von der Bank entfernt. Ein Hund ist es jedenfalls nicht, weswegen Möpke randaliert. Hunde pflegen nicht als unförmiger Klumpen reglos auf Bänken zu liegen, schon gar nicht, wenn sie angebellt werden. Außerdem müsste das schon ein ziemlich großer Hund sein. Vielleicht ein Penner, der auf der Bank vor dem Brunnen campiert? Dann sollten sie beide lieber zusehen, dass sie hier wegkommen. Aber auch ein Penner würde nicht so unbewegt daliegen, bei dem Krach, den Möpke veranstaltet. Roos verspürt ein Gefühl des Unbehagens in sich aufsteigen, es fühlt sich an wie leichtes Sodbrennen. Sie überspielt es, indem sie den Hund anschreit: „Möpke! Schnauze!“

Zu ihrer Verwunderung hört Möpke prompt auf zu bellen, knurrt aber weiterhin mit gesträubtem Nackenhaar vor sich hin, während er nach wie vor die Bank fixiert. Das ungute Gefühl seines Frauchens verstärkt sich, wird zu Angst. Am liebsten würde Roos rasch weggehen, aber der Drang zu wissen, was da auf der Bank liegt, ist schließlich stärker. Sie überwindet sich und tritt noch ein paar Schritte näher an die Bank heran. Danach dauert es einige Sekunden, bis sie begreift, was sie dort im fahlen Morgenlicht sieht. Hinterher wünscht sie sich, dass sie an diesem Morgen nie hierhergekommen wäre.

Kapitel 1 –
Eine Frage der Ehre

Die Unterarme auf die oberste Zaunlatte gestützt beugt sich Hauptkommissar Bodo Völxen nach vorn und hebt vorsichtig das nach hinten ausgestreckte rechte Bein an. Das geht schon ganz gut. Jetzt das linke. Da sind noch immer ein leichter Schmerz und ein verdächtiges Knacken im Lendenbereich, aber mit einer weiteren Schmerztablette müsste es gehen. Ihm bleiben nur noch drei Stunden Gnadenfrist, dann muss er fit sein. Er geht in die Knie und … au, au, au, nein, das geht gar nicht. Schmerz, lass nach! Ächzend zieht er sich an der Zaunlatte wieder in die Höhe. Kniebeugen sind ohnehin nicht erforderlich, im Gegenteil, eine aufrechte, souveräne Haltung ist gefragt. Führung. Im freien Stand lässt er seine Hüften kreisen, linksherum, rechtsherum. Also, geht doch! Von wegen teutonische Hüftsteife, wie dieser unverschämte Argentinier letzte Woche so süffisant bemerkte. Biegsam wie eine Stahlfeder ist er. Na ja, vielleicht nicht ganz. Trotzdem, er wird es ihnen allen zeigen und insbesondere Sabine seine Schmach von neulich vergessen lassen.

Neben ihm jault Oscar, dem das Gebaren seines Herrn nicht recht geheuer ist. „Glotzt nicht so dämlich“, schimpft Völxen. Der Plural ist durchaus angebracht, denn nicht nur der Terriermischling, auch die vier Schafe und der Bock, die auf der Weide unter dem Apfelbaum stehen, beäugen sein Tun skeptisch. Die Schafe sind dermaßen gebannt, dass sie sogar das Wiederkäuen vergessen.

„He, Kommissar! Soll das ein Bauchtanz werden?“

Noch einer! Hat der Hühnerbaron am Samstagmittag nichts Besseres zu tun, als seinen Nachbarn zu observieren? Schon nähert sich Jens Köpcke in der üblichen Montur – Gummistiefel, Latzhose, Schiebermütze. Völxen streicht verlegen über seinen Nacken. „Das sind Lockerungsübungen. Heute Nachmittag muss ich wieder ran, und ich weiß nicht, ob meine Bandscheiben das durchstehen.“

Ein anzügliches Grinsen drängt Köpckes feiste Backen auseinander, in Richtung der henkelartig abstehenden Ohren. „Du kennst doch das alte Sprichwort, Kommissar: Wenn’s hinten wehtut, soll man vorne aufhören.“

„Was du nicht sagst.“

„Selber schuld. Was machst du deiner Frau auch so saudumme Geschenke?“

Längst ist der Nachbar darüber im Bilde, was es mit Völxens Verrenkungen auf sich hat. Schließlich hat dieser ihn die ganze Woche über, wenn sie sich nach Feierabend auf ein lauwarmes Herrenhäuser an der Schafweide getroffen haben, über seinen Gesundheitszustand auf dem Laufenden gehalten.

„Meiner Hanne habe ich zu ihrem Sechzigsten ein Wellness-Wochenende im Harz für zwei Personen geschenkt. Zum Glück hat sie dann ihre Freundin dorthin mitgenommen“, feixt Köpcke.

Hätte Völxen geahnt, was auf ihn zukommt, hätte er Sabine zu deren Geburtstag auch ein Wellness-Wochenende im Harz geschenkt und nicht diesen Tango-Basis-Kurs. Fünf Samstagnachmittage hintereinander! Das grenzt an Masochismus, was hat er sich nur dabei gedacht, fragt sich der Hauptkommissar heute, wo er um einige Erfahrungen reicher ist. Typischer Fall von Selbstüberschätzung und kompletter Ahnungslosigkeit. Niemand hat ihm zuvor gesagt, dass Tango ein so komplizierter Tanz ist. Diese vielen Figuren, die sich kein Mensch merken kann, weder die spanischen Namen noch die Schrittfolgen.

Letzten Samstag fand die erste Tanzstunde statt. Zusammen mit ihm und Sabine sind sie acht Paare, darunter ist kaum jemand unter fünfzig, und auch der Tanzlehrer ist nicht mehr der Jüngste. Besonders der Tanzlehrer, genau genommen. Tango, lästerte Völxen da noch im Stillen, scheint ein Seniorentanz zu sein, also kann es so schlimm schon nicht werden. Der Tanzlehrer mit dem klangvollen Namen Aurelio Martínez gab sich vor seinem Publikum den Anschein, als machten ihn schon allein seine argentinischen Wurzeln zum Tango-Guru. Er leitete den Kurs zusammen mit seiner Tochter, Alba Martínez, der Inhaberin der Tanzschule Martínez, die im Prospekt und auf der Webseite der Tanzschule als Kursleiterin angegeben ist. Doch ihr Vater tat so, als hätte er das Sagen, und schien sich sehr wichtig zu nehmen. Sei’s ihm gegönnt, dem alten Gockel, dachte Völxen zu diesem Zeitpunkt noch generös.

Er hat extra die Tanzschule Martínez ausgesucht, obwohl die Kurse dort nicht gerade billig sind. Doch er hat damit bei Sabine einen echten Volltreffer gelandet. Über kein Geschenk hat sie sich in den dreißig Jahren ihrer Ehe jemals so sehr gefreut. Nicht einmal über die Dampfbügelstation oder den Staubsauger-Roboter. (Robby erwies sich im Nachhinein als glatter Fehlschlag und lagert inzwischen im Keller, da Oscar sich mit dem neuen Familienmitglied absolut nicht verstand.)

Die Tanzschule Martínez residiert in einer pompösen alten Villa in Hannovers Nobelstadtteil, dem Zooviertel. Bereits von außen macht der klassizistisch angehauchte Bau, der inmitten eines streng gepflegten Gartengrundstücks steht, reichlich viel her, und spätestens beim Eintreten in das weitläufige Foyer hat man das Gefühl, in eine untergegangene Zeit abzutauchen. Entlang einer gut bestückten Bar gelangt man dann in den Tanzsaal: Stuckdecke, Kronleuchter, goldgerahmte Spiegel, blitzblankes Eichenparkett. Eine angestaubte Eleganz, jedoch völlig ohne Ironie.

Dieses allzu glatte Parkett wurde Völxen zum Verhängnis. Über den genauen Hergang des Malheurs gibt es unterschiedliche Versionen, je nach Sichtweise. Nach Völxens Erinnerung verhielt es sich so: Beim Versuch, eine Figur namens Boleo zu tanzen, eine simpel aussehende, im Detail aber doch vertrackte Drehung, übernahm Sabine plötzlich die Führung, wovon ihr Partner, also Völxen, völlig überrumpelt wurde. Im Nu waren beide ineinander verstrickt, und Sabine stolperte. Ob über ihre eigenen oder über seine Füße, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Völxen, reflexhaft ritterlich, bewahrte seine Gattin davor, zu stürzen, indem er sie beherzt um die Taille fasste und festhielt, und schon war es passiert: Hexenschuss, Bandscheibenvorfall, eingeklemmter Nerv, irgendetwas in der Art. Es fühlte sich jedenfalls an wie ein Messerstich ins Kreuz. Das ist Völxens Version und somit die einzig richtige, schließlich kann er ein Lied davon singen, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sind und wie sehr einen die Erinnerung oftmals trügt – sofern man nicht wie er ein hervorragendes Gedächtnis und ein geschultes Auge für Details hat. Eigenschaften, über die ein Erster Kriminalhauptkommissar des Kommissariats für Todesdelikte selbstverständlich verfügt.

Sabines Version lautet dagegen: ausgerutscht, Kreuz verrenkt.

„Geht’s, oder müssen wir nach Hause?“, fragte sie, noch während ihr Gatte vor Schmerz nach Luft rang. Ihre enttäuschte Miene veranlasste Völxen, heroisch zu röcheln, er müsse sich nur kurz hinsetzen, es würde ihm sicher gleich wieder besser gehen.

Dem war aber nicht so.

Vom Schmerz gezeichnet hing er für den Rest der Stunde in einem Sessel, am Rand des Geschehens, abgeschoben und missachtet wie ein unbrauchbar gewordenes Möbel. Indessen schlug die Stunde für das neue Traumpaar: Sabine Völxen und Aurelio Martínez. Dieser ölige Argentinier, dünn wie eine Sardine in seinem eng anliegenden Anzug, mit pfundweise Pomade im schwarz zurückgewellten Haar, dieses wandelnde Klischee, glitt ab sofort mit Völxens Ehefrau übers Parkett, und während seine Mimik einen lächerlichen Ernst widerspiegelte, strahlten Sabines Augen wie die LED-Lichter am Weihnachtsbaum. Und wie sie sich bemühte, den Maestro nur ja nicht zu enttäuschen! Vor keiner noch so gewagten Figur oder anstößigen Verrenkungen schreckte sie zurück. Weitaus schlimmer als Völxens körperliche Schmerzen war die Kränkung darüber, wie unverhohlen blendend Sabine sich amüsierte und über sich hinauswuchs, derweil ihr Gatte stumm vor sich hin litt. Hatte sie während der ganzen Zeit eigentlich auch nur ein Mal zu ihm hergesehen, sich vergewissert, ob es ihm gut ging? Nicht die Bohne! Er hätte in diesem Sessel unbemerkt sein Leben aushauchen können, während sie sich in den Armen dieses Kerls verbog wie eine Brezel.

Natürlich stritt sie all dies hinterher vehement ab und lachte über ihn. Es sei geradezu herzerfrischend, meinte sie, dass er nach so vielen Jahren Ehe noch so eifersüchtig sei. Als wollte sie seine Gelassenheit auf die Probe stellen, musste er sich während der ganzen Woche augenzwinkernd vorgetragene Schwärmereien über den geschmeidigen Señor Martínez anhören. Für den Fall, dass seine körperliche Konstitution eine Teilnahme nicht mehr zulassen sollte, bot Sabine an, den Kurs mit einem jungen Kollegen von der Musikhochschule fortzusetzen.

„So weit kommt’s noch!“, hat Völxen protestiert. Nein, er wird diesen Kurs durchziehen, auf Teufel komm raus. Es ist eine Frage der Ehre.

Der Rücken lädiert, der Stolz angeknackst, doch damit nicht genug der Demütigungen. Ausgerechnet in diesen schweren Tagen kommt noch sein berufliches Totalversagen dazu. Ein hartes Wort, das so noch keiner in den Mund genommen hat, nicht einmal die Presse oder gar Völxens Vorgesetzter, der Vizepräsident der Polizeidirektion Hannover, aber das ändert nichts daran, dass der Hauptkommissar es genau so empfindet.

Am frühen Morgen des 28. August, einem Samstag, wurde von einer Hundespaziergängerin mitten in der Stadt, am Reese-Brunnen, ein grausiger Fund gemacht: eine Leiche, deren Oberkörper, die Hände und besonders das Gesicht, verbrannt worden waren.

Zwei Wochen sind seither vergangen, doch Völxen kann noch immer so gut wie nichts vorweisen. Nicht nur keinen Täter, keinen Verdächtigen und keine Spur, nein, man kennt noch nicht einmal das Opfer. So etwas ist in seiner ganzen Laufbahn noch nie vorgekommen, und es nagt an ihm.

Das wenige, was man weiß, verdankt man der Spurensicherung und Dr. Bächle, dem Rechtsmediziner. Laut seiner Expertise handelt es sich bei der Toten um eine Frau, dunkelhaarig, Anfang, Mitte zwanzig. Sie wurde erdrosselt, wahrscheinlich mit bloßen Händen. Laut Dr. Bächles Schätzung geschah die Tat, einige Stunden bevor sie gefunden wurde, in den Abendstunden des 27. August. Ihr DNA-Profil deutet auf eine osteuropäische Herkunft hin. Ein Sexualdelikt schließt Bächle aus, zumal die Leiche vollständig bekleidet war: Jeans, T-Shirt, Kunstlederjacke, Sneakers, alles eher günstige Marken.

Die Tote wurde mit einem handelsüblichen Grillanzünder übergossen und angezündet, und zwar auf der Bank, auf der die Zeugin sie fand, darauf deuten die Brandschäden an der Bank hin. Die Zeugin heißt Roos van Doorn, ist dreiunddreißig Jahre alt, Friseurin und wohnt zusammen mit ihrem Freund in der Ellernstraße, also gleich um die Ecke. Sie befand sich auf ihrer üblichen Morgenrunde mit ihrem Hund. Weitere Zeugen sind drei Autofahrer, welche gegen halb zwei in der Nacht im Vorbeifahren die Flammen bemerkt hatten. Keiner von ihnen kam auf die Idee, deswegen anzuhalten oder gar die Polizei zu rufen. Man dachte an Jugendliche, die sich dort zum Saufen und Kiffen verabredet hatten, oder Obdachlose, die sich an einem Lagerfeuer aufwärmten.

Der Fundort ist nicht der Tatort, darauf deutet der Unterschied zwischen Dr. Bächles geschätztem Todeszeitpunkt und der Beobachtung der Flammen durch die Zeugen hin. Es ist anzunehmen, dass die Leiche in einem Fahrzeug hergebracht wurde. Am Rand des Grünstreifens befinden sich genug Parkplätze, der Täter musste den Körper also nur wenige Meter bewegen. Vielleicht ist das der simple Grund, warum die Leiche dort lag, wo sie lag: weil der Ort gut zu erreichen ist. Dazu kommt: In unmittelbarer Nähe des Platzes gibt es keine Wohnungen, von denen aus man ihn hätte beobachten können. Nur die Straße. Ein gewisses Risiko ging der Täter also bei der Platzierung der Leiche an diesem Ort ein. Niemand schien die Tote zu vermissen. Ein Phantombild ließ sich wegen der starken Verbrennungen nicht erstellen, vermutlich hat der Täter genau dies beabsichtigt. Wieso er dann die Leiche an einem Platz mitten in der Stadt ablud und anzündete und nicht an einem Ort, an dem sie erst viel später oder vielleicht auch niemals entdeckt worden wäre, ist nur eines der Rätsel dieses Falls.

Warum dort? Warum dieser Platz? Wer ist die Tote?

Hauptkommissarin Oda Kristensen warf die These auf, dass die Platzierung der entstellten Leiche womöglich eine Botschaft sei. Völxen hält das ebenfalls für plausibel. Nur, welche Botschaft soll das sein, und für wen ist sie bestimmt?

Eines ist den Ermittlern ebenfalls klar: Falls die Frau sich illegal im Land aufhielt, kann es gut sein, dass niemand sie vermisst. Oder wenn doch, dann scheut sich dieser Jemand vermutlich, ihr Verschwinden bei der Polizei zu melden, weil er oder sie entweder ebenfalls illegal im Land lebt oder zu einem Personenkreis gehört, der solche Menschen gerne skrupellos ausnutzt.

Völxen hat früh eingesehen, dass er und seine Leute allein nicht weiterkommen, und das Landeskriminalamt um Hilfe gebeten: Ihre V-Leute mögen sich in den entsprechenden Szenen umhören. Möglicherweise geriet die Frau zwischen die Fronten rivalisierender Zuhälter oder Drogenhändler. Das würde die Verschleierung der Identität des Opfers durch die Verbrennungen erklären und die Zurschaustellung der Leiche an einem Ort, der zwischen zwei stark befahrenen Straßen liegt und bei dem man sicher sein kann, dass sie rasch gefunden wird.

Bis jetzt ist vom LKA jedoch nichts Brauchbares gekommen.

Ähnliche Spekulationen stellte auch die Presse an: Rotlichtmilieu, Drogenhandel, Menschenhandel, Mafia, Clankriminalität, Neonazis, ein Ehrenmord … Jeden Tag wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen und durchgekaut. Und niemals, wirklich kein einziges Mal, vergaßen sie den Hinweis, die Polizei tappe im Dunkeln. Oft mit dem Zusatz völlig.

Zu allem Überfluss erkundigt sich auch Völxens Ehefrau beinahe täglich nach den Fortschritten der Ermittlung.

„Erstens weißt du, dass ich darüber mit dir nicht sprechen darf, und zweitens fragst du doch sonst auch nicht dauernd nach, wie es um meine Fälle steht“, bemerkte Völxen neulich genervt.

„Entschuldige bitte, dass es mich bewegt, wenn eine halb verbrannte Leiche quasi vor der Haustür meines Arbeitsplatzes liegt“, versetzte Sabine und fügte hinzu, dass, rein theoretisch, auch sie die Leiche hätte finden können.

Sehr theoretisch betrachtet, ja. Das Gebäude der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, an dem Sabine Klarinette unterrichtet, liegt gegenüber des Fundortes, auf der anderen Seite der Fritz-Behrens-Allee. Da der Tag, an dem die Leiche der jungen Frau gefunden wurde, ein Samstag war, hatte Sabine keinen Unterricht, und so früh fangen ihre Stunden für gewöhnlich auch nicht an. Dass die Nachbarschaft der Musikhochschule etwas mit dem Verbrechen zu tun hat, ist in Völxens Augen höchst unwahrscheinlich. Zumal man dort keine Schülerin oder Lehrkraft vermisst, das wurde selbstverständlich überprüft.

„Seit das passiert ist, fühle ich mich nicht mehr sicher auf dem Weg zur Arbeit. Was, wenn der Mörder dort noch herumschleicht?“

Was will man seiner Frau auf diese Frage antworten? Nein, es darf einfach nicht sein, dass Völxen und sein Team ausgerechnet in diesem Mordfall kein Ergebnis liefern. Und doch sieht es bis jetzt ganz danach aus.

„Machst du mir noch einen Kaffee, Mamá?“

Pedra Rodriguez blickt über die Kühltheke ihres Ladens hinweg auf ihren Sohn Fernando, der an einem der Stehtische lehnt. Vor ihm steht ein leerer Teller, auf dem eben noch albóndigas, scharfe Fleischbällchen, Datteln im Speckmantel und Tomaten mit Thunfischfüllung lagen. Er hat alles restlos verputzt, und jetzt ist er mit seinem Telefon beschäftigt. Sie schaut auf die Uhr. Schon fast halb drei. Was lungert er eigentlich noch immer hier herum?

„Wolltest du nicht die leeren Weinkartons zerkleinern?“

„Mach ich schon, keine Sorge. Nur noch einen Kaffee zur Stärkung.“

„Ganz wie der Herr wünscht!“ Pedra setzt die Maschine in Gang und bringt den Kaffee an seinen Tisch.

„Du musst mich nicht bedienen, Mamá!“

„Ach! Das wäre ja mal ganz was Neues.“

„Ein Wort, und ich hätte ihn geholt“, versichert Fernando.

Pedra wedelt seine Behauptung mit einer unwilligen Handbewegung fort. „Wo sind Chule und mein kleiner Schatz?“, fragt sie, während ihr Blick erneut zu der großen Uhr gleitet, die über der Kühltheke an der Wand hängt.

„Spazieren, auf dem Lindener Bergfriedhof“, antwortet Fernando. „Sag mal, erwartest du jemanden?“

„Wieso?“, fragt Pedra zurück.

„Weil du andauernd auf die Uhr schaust.“

„Ich schau nicht andauernd auf die Uhr.“

„Doch, tust du“, beharrt Fernando. „Wieso ist eigentlich der Laden noch offen, es ist schon nach zwei.“

Pedra lässt ein Schnauben hören und sagt dann: „Gut, wenn du es genau wissen willst: Ja, ich warte auf jemanden. Auf meinen Stammgast nämlich, den Señor Garcia. Er kommt jeden Samstag kurz vor Ladenschluss vorbei und kauft Wein und Schinken und marinierten Ziegenkäse, man kann die Uhr nach ihm stellen.“

„Oho, der Señor Garcia“, wiederholt Fernando mit anzüglichem Grinsen.

„Ein sehr netter älterer Herr, er stammt aus Argentinien.“

„Ist er ein Verehrer? Flirtet er mit dir? Läuft da was?“

„Fernando! Ich muss doch bitten, wie redest du denn mit deiner Mutter!“

„Wieso? Es wäre doch nichts dabei. Du hast noch nie den Laden für jemanden offen gelassen …“

„Unsinn!“ Pedras Wangen röten sich ein bisschen, was sie erst recht verärgert. „Wir haben uns nach dem Einkauf immer noch ein wenig unterhalten, das ist alles.“

„Vielleicht ist er Veganer geworden und trinkt nicht mehr.“

„Das ist überhaupt nicht lustig“, herrscht Pedra ihren Sohn an, denn er hat einen wunden Punkt getroffen.

Für die jüngeren Bewohner des angesagten Stadtteils Hannover-Linden ist Pedras Laden mit angeschlossenem Imbiss längst nicht mehr hip genug, und der ansteigende Trend zum Veganismus, der im Szene-Viertel um sich greift, wirkt sich obendrein schlecht auf ihr Geschäft aus. Zwar bestehen inzwischen etliche Tapas auch aus rein veganen Zutaten, aber Pedra Rodriguez verkauft nach wie vor Schinken und Wurst, Fisch und Käse, und die vegane Szene toleriert es nicht, wenn man zweigleisig fährt. Den Wein lässt man sich heutzutage auch lieber per Onlinebestellung liefern, anstatt ihn kartonweise nach Hause zu schleppen. Ja, der Zeitgeist ist gnadenlos und weht dem kleinen Geschäft immer rauer ins Gesicht.

Pedras dunkle Augen funkeln ihn an, es ist eine Mischung aus Zorn und Kummer. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen, Nando. Er ist schließlich nicht mehr der Jüngste. In seinem Alter weiß man nie …“

„Was heißt nicht mehr der Jüngste? Wie alt ist er denn, achtzig, neunzig?“ So langsam, registriert Fernando, stirbt ihr die Kundschaft weg. Zum Glück ist sie nicht mehr auf die Einkünfte aus ihrem spanischen Lebensmittelladen angewiesen. Längst bezieht sie ihre Rente, und die geringe Miete für den Laden und die Wohnung bezahlt sie an ihn und seine Frau Jule auch nur, weil sie darauf besteht. Solange es ihr noch Spaß macht, soll sie den Laden doch behalten, sagt sich Fernando. Der Kontakt mit ihrer Kundschaft, auch wenn die allmählich weniger wird, würde ihr sicherlich arg fehlen.

„Nein, so alt ist der Señor Garcia noch nicht!“, wehrt Pedra ab. „Er ist Anfang siebzig, schätzungsweise. Aber Männer sterben bekanntlich früher und oft überraschend.“

„Herrgott, Mamá! Nur weil dein Stammgast mal nicht auftaucht, musst du doch nicht gleich vom Sterben reden. Vielleicht hatte er heute etwas anderes vor, vielleicht ist er verreist …“

„Hm“, grummelt Pedra und wienert an der Schneidemaschine herum. Dann, nach einem weiteren verstohlenen Blick zur Uhr, lächelt sie ihren Sohn an und fragt einschmeichelnd: „Kannst du nicht irgendwas machen?“

„Was machen?“, wiederholt Fernando Böses ahnend.

„Na, irgendwas halt! Wozu bist du schließlich Polizist geworden?“

„Klar, kein Problem. Ich werde sofort die Datenbank abfragen, um seine Adresse rauszukriegen, dann werde ich Völxen alarmieren, damit der das SEK zu seiner Wohnung schickt, und falls er da nicht ist, werden wir eine Fahndung rausgeben. Gesucht wird ein älterer Argentinier, der seinen Einkauf verpasst hat. Inzwischen können wir zwei schon mal ein Phantombild anfertigen und es an alle Medien schicken: Stammgast vermisst …“

„Pah!“ Pedra wendet sich mit verächtlicher Miene ab. „War ja klar, dass man im Ernstfall nicht mit dir rechnen kann.“

„Ernstfall! Wirklich, Mamá, jetzt bleib mal auf dem Teppich!“

In diesem Moment geht die Ladentür auf. Aber es ist nicht der sehnlichst erwartete Señor Garcia, sondern Jule, die den Buggy mit dem schlafenden Leo zur Tür hereinschiebt und mit hochroten Wangen keucht: „Alarmstufe rot! Ich muss eine Vermisstenmeldung aufgeben.“

„Du auch?“, erwidert Fernando.

„Leos Schlafkrokodil ist weg. Wir haben eine knappe Stunde, bis er aufwacht, um es zu finden. Ansonsten gnade uns Gott.“

Fernando, schreckensbleich, rutscht vom Hocker und meint zu seiner Mutter: „Siehst du, das ist ein Ernstfall.“