Dann fliegt vor Einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort

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Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,

Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

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Novalis (1772-1801)

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Nettes Gedicht. Einfaches Gedicht. Nur ein Satz. Paarreime. Bequemer vierhebiger Jambus mit ab und zu zwei Senkungen dazwischengestreut (Zeile 6, 11, 12). Aussage ist auch klar: Wenn … dann. Na prima, Fall erledigt.

Ok, ok, ok, ein paar mehr Stacheln am Kleid wären nicht verkehrt. Erst mal, wie es sich für eine hochgelehrte Interpretation ziemt, ein bisschen Hintergrund (auch wenn er nicht viel hilft): Das Gedicht sollte Bestandteil des zweiten Teils des Romans Heinrich von Ofterdingen werden. Leider hat Novalis nicht auf die Uhr geguckt und plötzlich war es schon spät, seine Stunde hatte bereits geschlagen.

Das Gedicht wurde von seinem Kumpel Wilhelm Tieck dann in Novalis Schriften veröffentlicht mit ein paar Anmerkungen, wie der Roman weitergehen sollte. Eigentlich hilft dieser Hintergrund nur an einer Textstelle ein wenig beim Verständnis, aber im Prinzip müsst ihr ein Gedicht nehmen, wie es daherkommt, also ran an die Würmer, die wir diesem Text aus der Nase ziehen werden:

Ein bisschen was zum Formalen hab ich schon oben rausgetrötet. Eine Ergänzung: Erst die beiden Schlusszeilen enden mit einer Hebung, also männliche Kadenz, der Rest des Gedichts hat nur weibliche Kadenzen. Dafür gibt’s eine inhaltliche Entsprechung, komme ich noch zu, aber erst was mir beim Abschreiben aufgefallen ist (Abschreiben? Ja, Leute, das ist der heißeste Tipp für eine Gedichtinterpretation: Schreibt das Gedicht ab. Das wirkt so, als ob ihr eine Lupe für den Text benutzt, ihr seht viel mehr Kleinigkeiten).

Das Einfachste zuerst: Jede Reimpaarzeile ist durch einen Zeilensprung verbunden, die Sätze flutschen durch. Kommata zwischendurch ändern nichts, die erste Zeile des Reimpaars verlangt immer syntaktisch (transl. satzbaumäßig) eine Fortsetzung, weil: Sehnsucht nach einem Verb.

Tiefgelehrte (Zeile vier): Wenn ihr Google anschmeißt, dann gibt es ganz wenige Verwendungen von Tiefgelehrte außerhalb dieses Gedichts und die sind durchweg spöttisch gemeint. Das wundert nicht, denn an Hochschulen wird höhere Bildung von hochgelehrten Leuten vermittelt, die zwar oft auch als tiefe Denker gelten, aber eben nicht als Tiefgelehrte. Also auch hier: Spottverdacht.

„ewgen“ (vorvorletzte Zeile): An der Stelle bin ich am heftigsten gestolpert – zum Glück ist die Fallhöhe für einen Igel nicht so besonders, wenn er auf die Schnauze fällt. Warum wird das i rausgestanzt? Normalerweisiger macht man sowas wegen des Metrums. Aber hier hat Novalis schon in Zeile sechs („Und in die Welt wird zurück ...“) sich zwischen Welt und -rück zwei Senkungen erlaubt, in den beiden Schlusszeilen macht er das wieder. Also kann das Einsparen einer Silbe, um den Jambus in reiner Form durchzutackern, nicht der Grund sein. Warum dann? Klang!

Novalis spielt die Assonanz-Flöte. Eine Assonanz ist der Gleichklang von Vokalen ab einer Hebungssilbe. Die Konsonanten dürfen unterschiedlich sein, beim Reim jedoch müssten Sie ebenfalls gleich sein. Also reimt Stachel auf Kachel aber assoniert mit Dackel, oder Igel reimt auf Ziegel, aber assoniert mit Viecher.

Um die Klangqualität zu steigern, lässt Novalis in den ersten zehn Zeilen fast immer bei der zweiten Hebung von der einen zur nächsten Zeile assonieren, und das ist der Grund fürs Ausstechen des i bei ewgen. Eine Zeile zuvor steht ab der zweiten Hebung „Märchen“. Ist kein ganz sauberer Gleichklang, aber beim Reim von ä auf e würde man auch ein Auge zudrücken. Die anderen Assonanzen:

Zeile 1/ 2: Zahlen / aller; Zeilen 3/4: singen / Tiefge...; Zeilen 5/6: Welt ins /
Welt wird. Und wie schon bei Kadenzen tanzen die beiden letzten Zeilen aus der Reihe. Dort wird tatsächlich innerhalb der Zeilen assoniert: Zeile 11 – „einem geheimen“; Zeile 12: verkehrte Wesen“.

Jo, nachdem ihr jetzt wahrscheinlich ziemlich aus dem Häuschen seid ob der Wahnsinnssachen, die ich beim Abschreiben gefunden habe, wird’s Zeit sich mit was Anderem zu beschäftigen. Ein Gedicht hat nämlich nicht nur Klang und Form, sondern auch etwas, das nicht völlig unwichtig ist: Inhalt. Also, was steht drin?

Im Prinzip ist das Gedicht inhaltlich in drei Stufen angeordnet: Stufe 1 hat drei Reime:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,

Auch ohne Lupe fällt das dreifache „Wenn“ ins Äuglein. Diese Wiederholung am Anfang Anapher zu nennen verstößt gegen keinerlei Gesetze, deshalb mach ich das auch so. So ein Wenni-Wenn kann logisch (Wenn a kleiner b und b kleiner c, dann a kleiner c), zeitlich (Wenn ihr mir innerhalb einer Stunde 1000 Euro überweist, schreibe ich diese Interpretation möglicherweise zu Ende.) oder beides sein. In diesem Fall ist es beides. Es heißt „nicht mehr“ (Zeile 1) und „wird“ (Zeile 6). Das heißt die Bedingungen sind nicht nur zeitlos-logisch anzunehmen, sondern müssen erst noch erfüllt werden. Welche Bedingungen? Diese:

„Zahlen und Figuren“ könnte man weiter fassen als Algebra und Geometrie, mit denen versucht wird, den „Schlüssel“ zu allen „Kreaturen“ zu finden, also alles Lebendige zu verstehen. Oder noch weiter: Wenn die Wissenschaft nicht mehr die Methode ist, alles zu verstehen, dann … kommt noch nicht. Stattdessen wird eine alternative Methode vorgeschlagen:

„singen oder küssen“, das man wieder weiter fassen könnte zu Feiern und Lieben im Kontrast zu den „Tiefgelehrten“, über denen in ihrem Studierstübchen eine Staubschicht von alten Büchern liegt, was nicht im Gedicht steht, aber eben in dem spöttischen Ton mitschwingt. Und wenn man ganz großzügig ist, dann könnte man das als Gegensatz extrovertiert-introvertiert, als Lernen durch soziale Erfahrungen, Kommunikation statt durch Innerlichkeit und Nachdenken interpretieren, womit ich bei Bedingung drei wäre:

„Wenn sich die Welt ins freie Leben, / Und in die Welt wird zurück begeben,“ Das wäre ohne die Vorarbeit der ersten vier Verse completement unverständlich, weil man bei Welt vielleicht zuerst an die kleine blaue Kugel am Rande der Milchsuppe denkt. Aber „alle Welt“ oder „tout le monde“ hat eine auf aufrecht gehenden Zweibeiner bezogene Bedeutung. Und wenn man die beiden Zeilen davor mit einbezieht, wäre auch die „innere Welt“, die gefälligst mal ihren Arsch nach draußen, „ins freie Leben“, in die Natur, bewegen sollte, eine Option. Das Zurückgehen „in die Welt“ wäre dann das gedankliche Verarbeiten der Erfahrungen, die draußen gemacht wurden.

Eine weitere Möglichkeit, die beiden Zeilen zu verstehen, ergibt sich aus dem Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Roman Heinrich von Ofterdingen. Je nachdem, wer dieses Gedicht sprechen sollte, könnte mit der Welt auch die Welt der Poesie gemeint sein, die mal einen Abstecher in die Wildnis machen sollte, um dann zu sich und ihren Gedichten zurückzukehren. Das wäre also nur eine spezielle Variante der letzten Option, aber wie gesagt: Ihr dürft das Geplapper eines Gedicht so nehmen, wie es heraussprudelt.

Zusammengefasst baut dieser Teil des Gedichts eine mehrfache Wenn-Bedingung auf, die gelebtes Leben, aus sich Herausgehen, Erfahrungen mit anderen oder in der Natur zu sammeln gegen Theoretisieren, Wissenschaft und Nachgrübeln setzt als Methode zum Erkenntnisgewinn. Und was haben wir davon? Das sollte ein kräftiges „dann“ verraten: Leider gibt’s keins, sondern es folgt Stufe 2 der Bedingungen mit zwei Reimen und einem halben bis dreiviertel „dann“:

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,

„Wenn dann“ soll heißen, wenn die Bedingungen aus Stufe 1 erfüllt sind, dann gibt’s in Stufe 2 eine Zugabe an Bedingungen, als da wäre Numero uno: Wenn Licht und Schatten Klarheit produzieren. Rein wörtlich genommen braucht man eine kräftige Lichtquelle wie z.B. die Sonne, einen einfarbigen glatten Hintergrund und je näher man einen Gegenstand an diesen Hintergrund führt, desto klarer sind seine Konturen. Probiert’s aus!

Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Zusammenhang wie jene in Teil eins auch, eher symbolisch gemeint ist im Sinne von Gutes und Schlechtes oder Wissen und Unwissen/Aberglaube eindeutig trennen zu können. Und da wirklich starkes, ruhiges Licht im 18. Jahrhundert nur auf natürliche Weise erzeugt werden konnte, ist die Quelle für Klarheit, wie in Stufe 1 angedeutet, die Natur.

Die zweete Bedingung ist literarisch: Aus Märchen und Gedichten soll erkannt werden, was die Welt seit jeher am Laufen hält, wobei Märchen einen stark volkstümlichen Hintergrund haben. Viele sind lange Zeit nur mündlich überliefert worden, bis die Grimms und andere ordentlich alles eingesammelt und auf plattgeklopften Bäumen druckten. Folglich ist die Annahme die, dass die Weisheit des Volkes mehr zu bieten hat, als nur etwas seltsame Geschichten von Königen, Prinzessinnen, Fröschen und – am wichtigsten natürlich – Igeln. In jedem Fall gilt dieser Gedankengang als typisch romantisch, dem Volk und seinen Überlieferungen wird einiges zugetraut.

Auch in Gedichten, die Teil der zweiten Bedingung für mehr Weltweisheit sind, steckt noch ein bisschen Volkstümlichkeit drin, denn diese wurden als Volkslieder lange Zeit mündlich übertragen. Aber auch die Damen und Herren Dichterinnen und Dichter bekommen ihren Anteil an Weisheit zugesprochen, wenn – siehe erste Bedingungsstufe – sie sich ins „freie Leben“ hinausgetraut haben.

Und was ist nun wenn alle Wenns erfüllt sind? Finaaale, oho:

Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Zur Erinnerung: In diesen letzten Reimzeilen – den Countdown drei Reime in der ersten Stufe, zwei Reime in der zweiten Stufen, ein Reim in der letzten, muss ich nicht erwähnen, oder? – wird zum ersten Mal eine männliche Kadenz genutzt, gibt es zum ersten Mal Assonanzen innerhalb der Zeilen und – das ist keine Erinnerung, sondern neu – zum ersten Mal enthält ein Reim den Vokal o, tatsächlich erscheint das o zum ersten Mal überhaupt in gehobenen Silben. Das alles trägt dazu bei hier eine triumphale Folgerung aus den vorigen Bedingungen zu produzieren.

Was ist nun der Triumph von jenen, „die so singen und küssen“ und ihr Wissen aus „Märchen und Gedichten“ beziehen? Nun, es braucht nur ein geheimes Wort, um das „verkehrte Wesen“ fort zu jagen. Dieses Wort muss nicht unbedingt ein einzelnes Wort sein, auch ein Spruch ist ein Wort, selbst ein längeres Werk wie „das Wort Gottes“ qualifiziert sich. Dass es geheim ist, muss keine Absicht sein, sondern kann schlicht daran liegen, dass die Wege, auf denen Wissen erworben wurde, dafür sorgen, dass das Wort geheim bleibt. Die Bedingungen aus Stufe 1 und 2 waren ja so gestaltet, dass Wissen eher mündlich, zwischenmenschlich oder von der Natur übertragen wurde. Hier gibt es eine Verwandtschaft mit dem „Zauberwort“ aus Eichendorffs Gedicht Wünschelrute: Schläft ein Lied in allen Dingen, / die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort.

Das „verkehrte Wesen“ sollte Richtung Tiefgelehrte mit ihren „Zahlen und Figuren“ gehen. Das Gedicht hat gerade in Stufe 1 dagegen polemisiert, und nachdem alle Bedingungen erfüllt sind, wird dieses unnatürliche Wesen triumphal besiegt. Und nun die Pointe:

Novalis (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) hat erst Jura studiert, arbeitete in der Salinenverwaltung und studierte dann noch an der Bergakademie in Freiberg so interessante Sachen wie Bergwerkskunde, Chemie und Mathematik. Er war also ein Mann der Bücher, konnte durchaus mit „Zahlen und Figuren“ umgehen und kannte ihren praktischen Wert. Und doch: Wie die anderen Romantiker wollte er sich nicht damit abfinden, dass Vernunft und Wissenschaft alleine die Welt erklären. Es musste mehr geben, das geheime Wort, das sich vielleicht nur erfühlen lässt, wenn man in der Natur oder verliebt ist. Mit diesem Gedicht plädierte er dafür, dass sich nicht alles berechnen lässt, Gefühle nicht, oder das ganz große Warum. Die Antworten mussten irgendwo da draußen sein und würden sie gefunden, so die Prophezeiung des Gedichts, dann würde alles Bücherwissen über den Haufen geworfen. Und darauf ein Igelküsschen.

Was ist das geheime Wort Novalis?

Die Ausdrücke geheimes Wort und Zauberwort gehören zu einem Feld von Ausdrücken, die bei Novalis an verschiede- nen Stellen zur Kennzeichnung des geheimnisvollen Charakters höherer Erkenntnis verwen- det werden. Zu diesen Ausdrücken gehören die Wörter Chiffre, Hieroglyphe und Figur.

Was kritisiert Novalis in Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren?

Das von Novalis verfasste Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ erschien im Jahr 1802. Er ist ein bekannter Vertreter der Frühromantik. Das Gedicht kritisiert die Wissenschaft und den Gebrauch des reinen Verstandes.

Was meint Novalis mit Zahlen und Figuren?

Direkt zu Anfang seines Gedichtes findet sich ein Bezug zur Aufklärung: „Wenn nicht Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen“ (V. 1 – 2). In diesen Versen kritisiert Novalis das Weltbild der Aufklärung, in dem Rationalität und Wissenschaft („Zahlen und Figuren“) alleinige Wege zum Inneren der Menschen bilden.

Wann nicht mehr Zahlen und Figuren?

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren ist ein Gedicht von Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) aus dem Jahr 1800. Es enthält einige zentrale Vorstellungen Novalis' von einer romantischen Universalpoesie und wird häufig als programmatisch für die Romantik zitiert.