Ronaldo witz frank buschmann verteidigt mehmet scholl

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5 Das deutsche Nachrichten-Magazin FOTOS: YURI KOZYREV/NOOR / DER SPIEGEL (O.); CARLOS SPOTTORNO / DER SPIEGEL (U.) Hausmitteilung Betr.: Russland, Titel, Flüchtlinge Die Männer im Machtzirkel von Wladimir Putin geben Medien aus dem Westen eigentlich keine Interviews. Als besonders scheu gilt Igor Setschin, Chef des Energieriesen Rosneft und der nach Putin wohl mächtigste Mann im Land. Umso überraschender kam das plötz - liche Einverständnis Setschins, sich den SPIEGEL-Redakteuren Matthias Schepp Traufetter, Schepp, Setschin und Gerald Traufetter zu stellen. Im Interview wettert Setschin gegen den Westen, vor allem gegen die Amerikaner. Die schweren Vorwürfe sind ein Symptom, wie verfahren die Lage in der Ukraine ist, sagt Schepp. Längst seien es nicht mehr nur Freiwillige, die Russland über die Grenzen sende, sondern, nach Schätzungen der Nato, mehr als tausend reguläre Soldaten eine gefährliche Eskalation. Die Entwicklung beobachten für den SPIEGEL neben Schepp und Autor Christian Neef noch drei weitere Kollegen im Land, von Donezk bis Sibirien. Redakteure in Berlin und Brüssel beschreiben, was die Verschärfung der Krise für die Bundeskanzlerin und die Nato bedeutet. Setschin schlug am Ende seines Interviews noch versöhnliche Töne an, er zitierte aus dem Buch der Prediger: Und ich richtete mein Herz darauf, dass ich lernte Weisheit und erkennte Tollheit und Torheit. Seiten 20, 62, 80 Anfangs dachte SPIEGEL-Redakteur Jörg Schindler noch an Monty Python : Der Verein zur Verzögerung der Zeit will den hektischen Alltag verlang - samen indem man etwa einen Sonnenaufgang nahezu in Echtzeit nachstellt oder Liegestühle in Fußgängerzonen schleppt. So schräg die Aktionen sind, so ernst gemeint ist die Frage: Warum haben wir es immer eiliger? Und trotzdem keine Zeit? Was Schindler darüber zusammentrug, in Gesprächen mit Soziologen, Psychologen, Arbeitsmedizinern, wurde zum zentralen Kapitel seines soeben erschienenen Buches Stadt, Land, Überfluss und zur Titelgeschichte dieser Ausgabe. Schindlers Recherche blieb übrigens für ihn nicht ohne Folgen: Als er den Vereinsvorstand der Zeitverzögerer, Martin Liebmann, dringend sprechen wollte, musste er zur Kenntnis nehmen, dass der im Urlaub unerreichbar war und zwar prinzipiell. Schindler fand das fast schon vorbildlich. Seite 114 Fünf Wochen lang bereisten SPIEGEL- Redakteur Maximilian Popp und Fotograf Carlos Spottorno die Grenzbefestigungen Europas. Popp interviewte Politiker und Grenzschützer in Griechenland und Spanien, sprach mit Schleusern und Flüchtlingen in der Türkei, Marokko und Ungarn. Das Fazit, Popp an Grenzzaun in Nordafrika überraschend einhellig: So kann es nicht weitergehen. An den Grenzen Europas hat sich ein System etabliert, das Abschottung praktiziert und Tragödien hervorbringt. Die EU riegelt den Kontinent ab, nicht zuletzt indem sie die Arbeit der Abschreckung delegiert, an Nachbarstaaten und gegen Bezahlung etwa an Marokko. Dabei gäbe es durchaus noch Möglich keiten, erfuhr Popp, legale Wege zu eröffnen, qualifizierte Arbeitskräfte zu holen, Ärztinnen aus Syrien, Ingenieure aus Iran. Damit würde die illegale Einwanderung nicht völlig verhindert; aber das Leid an den Grenzen Europas könnte gelindert werden. Seite 48 DER SPIEGEL 36 /

6 Die heimliche Invasion Ukraine US-Satellitenbilder und zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass russische Soldaten in der Ostukraine kämpfen. Präsident Putin leugnet und provoziert den Westen. In der Nato wächst der Druck auf Kanzlerin Merkel, aktiv zu werden. Seiten 20, 62, 80 Klagen gegen Hauskredite Finanzen Der Bankenbranche droht eine Klagewelle: Viele Immobilienkreditverträge, die zwischen 2002 und 2010 abgeschlossen wurden, sind vor Gericht anfechtbar deshalb können Kunden ihre Darlehen kündigen. Immer mehr Menschen nutzen die Situation, um teure Altkredite loszuwerden und von den zurzeit niedrigen Zinsen zu profitieren. S. 70 Heimat für moderne Hippies Stadtplanung Die Betreiber der Bar 25 haben das exzessive Berliner Nachtleben geprägt, nun aber wollen sie vernünftig werden. Sie verhandeln mit Behörden, um sich den Bau eines ganzen Stadtviertels an der Spree genehmigen zu lassen. Das Quartier soll dem Lebensgefühl geschäftsbewusster Hippies entsprechen. Seite 124 Der berechnete Zuschauer Fernsehen Durch Serien wie House of Cards mit Kevin Spacey als skrupellosem Politiker wurde der Onlinedienst Netflix weltweit bekannt und erfolgreich. Das Unternehmen liefert Fernsehfilme zu jeder Zeit auf jedes Gerät. Eine Software berechnet, was den Kunden gefallen könnte, und macht passende Angebote. Nun startet Netflix in Deutschland. Seite 74 FOTOS: MAXIM SHEMETOV / REUTERS (O.); ULLSTEIN BILD (M.L.); STEFFEN JÄNICKE / DER SPIEGEL (U.L.); PATRICK HARBRON/NETFLIX/COURTESY EVERETT COLLECTION/ACTION PRESS (U.R.) 6 Titelbild: Foto: Per Kasch; 3D John Harwood; Foto Balken: dpa

7 In diesem Heft FOTOS: WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL (O.); BENOIT TESSIER / REUTERS (M.); INGO PERTRAMER / DER SPIEGEL (U.) Titel 114 Alltag Warum der moderne Mensch immer mehr Zeit spart und doch immer weniger davon hat Deutschland 14 Leitartikel Soll der Westen mit Assad gegen den Islamischen Staat vorgehen? 16 Ex-Bundeswehrsoldaten im Dschihad / Polizei zahlt keine Miete mehr / Machnig wird Staatssekretär / Kolumne: Die Klassensprecherin 20 Regierung Nach dem Scheitern von Kanzlerin Merkels Telefondiplomatie drängen die Hardliner in der Nato auf einen schärferen Kurs gegenüber Wladimir Putin 23 Verteidigung Jens Stoltenberg, designierter Nato-Generalsekretär, meidet Konflikte 24 Europa Warum der Konflikt um die deutsche Sparpolitik wieder entbrannt ist 28 Interview EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erklärt die Franzosen 30 Parteien Wie die Maut die Union spaltet 34 Kabinett Eine Taskforce im Kanzleramt plant das Regieren mit Psychotricks 36 Hauptstadt Wowereits angekündigter Rückzug legt das Elend der Berliner Sozialdemokratie offen 37 Kandidaten Berlins SPD- Fraktionschef Raed Saleh über den Kampf um die Nachfolge im Bürgermeisteramt 39 Familie Über Jahre ließ die Bundesregierung die Familienpolitik eva - luieren und ignoriert nun das Ergebnis 40 Zeitgeschichte Warum gelten Zwangssterilisierte bis heute rechtlich nicht als NS-Opfer? 44 Jagd Frauen und Städter erklimmen die Hochsitze Gesellschaft 46 Sechserpack: Globales Frühstück / Böse Gästekommentare und ihre Folgen 47 Ein Video und seine Geschichte Wie ein erbkrankes Mädchen gemobbt wurde 48 Asyl Die EU rüstet ihre Außengrenzen gegen Flüchtlinge auf und bezahlt Nachbarstaaten für die Abschreckung 58 Homestory Was man als Deutscher in Amerika so alles erklären muss Wirtschaft 60 Schäubles Angst vor teureren Schulden / Neues Angebot der Bahn im Tarifkonflikt / Der Preis der Ikea-Garantie 62 Energie Putins Chef- Oligarch Igor Setschin wehrt sich im SPIEGEL-Gespräch gegen die Sanktionen des Westens und verspricht sichere Gaslieferungen für Europa 67 Lufthansa Die wahren Ursachen des Pilotenstreiks 70 Immobilien Banken fürchten eine Kündigungswelle bei Baukrediten 72 Geldanlage Ein BMW- Manager zockte vermögende Autokunden ab Medien 73 Streit um Wetten, dass..? -Pleite / Bunte muss Entschädigung zahlen / Amazons Spielestrategie 74 Fernsehen Der Deutschlandstart des US- Erfolgskonzerns Netflix Ausland 78 Der Grieche Stavros Theodorakis über den Erfolg seiner Partei To Potami / Kampf um Mugabes Nachfolge in Simbabwe 80 Ukraine Krieg ohne Kriegserklärung Putins gezielte Provokationen und Lügen 85 Großbritannien Die Missbrauchten von Rotherham 86 Türkei Snowden-Dokumenten zufolge spionieren der US-Geheimdienst NSA und der britische Dienst GCHQ seit Jahren die türkische Führung aus 88 Ägypten SPIEGEL- Gespräch mit Außenminister Samih Schukri über die israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen und die Regierung von Präsident Sisi 94 Österreich Was treibt Sebastian Kurz, den jüngsten Außenminister der Welt? 98 Global Village Warum im südafrikanischen Kleinfontein 20 Jahre nach Ende der Apartheid nur Weiße wohnen Sport 99 Bayern-Trainer Pep Guardiola und seine Schuld am Champions-League-Aus gegen Real Madrid / Jérôme Champagne, der einzige Herausforderer von Fifa-Chef Blatter 100 Fußball Video-Schiedsrichter sollen das Spiel gerechter machen 103 Automobile Elektrorennwagen bringen den Motorsport in die Metropolen Wissenschaft 104 Schlechte Vorbereitung der Airlines auf Vulkan - ausbrüche / Industrienationen müssen Ebola stoppen 106 Geschichte Seeleute, Händler, Räuber in Berlin startet die bislang aufwendigste Wikinger-Ausstellung 109 Internet Strenges Copyright beschränkt die digitale Weltbibliothek 110 Schicksale Wie ein Mann das Hospiz überlebte 113 Katastrophen Ein Buch will das Rätsel um den verschollenen Flug MH 370 lösen Kultur 122 Der verunglückte Holocaust-Roman des britischen Autors Martin Amis / Ein Kinofilm zeigt Oralverkehr und löst damit einen Pornografieprozess aus / Kolumne: Besser weiß ich es nicht 124 Stadtplanung Berliner Clubbetreiber planen neues Viertel in der Hauptstadt 128 Kino Regisseur David Cronenberg über den faulen Zauber Hollywoods 130 Übersetzungen Wie ein amerikanischer Bestseller durch seine Übertragung ins Deutsche Schaden nahm 134 Literatur Dem Dichter Lutz Seiler ist mit seinem ersten Roman ein würdiges Gegenstück zu Thomas Manns Zauberberg gelungen 137 Ausstellungskritik Die südafrikanische Künstlerin Marlene Dumas wird endlich mit einer großen Retrospektive geehrt 10 Briefe 133 Bestseller 138 Impressum, Leserservice 139 Nachrufe 140 Personalien 142 Hohlspiegel/ Rückspiegel Wegweiser für Informanten: Raed Saleh, Fraktionschef der Berliner SPD, möchte Klaus Wowereit als Regierenden Bürgermeister beerben. Saleh, gebürtiger Palästinenser, will die Hauptstadt zum Integrationsmodell ausbauen. Seite 37 David Cronenberg, kanadischer Regisseur, hat eine Satire über die US-Filmwelt gedreht. Im Interview sagt er: Selbst Menschen, die intelligent und belesen sind, werden von Hollywood vergiftet. Seite 128 Sebastian Kurz, mit 28 Jahren jüngster Außen - minister der Welt, fliegt Economy, lässt sich gern duzen und will Österreichs Position in Europa stärken. Was treibt den Mann an? Seite 94 Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 36 /

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10 Briefe Wenn fast 40 Prozent der Deutschen dem antisemitischen Mordwahn verfallen waren, ist es wohl zu verstehen, dass eine Verurteilung Schuldiger wegen Massenmords nicht stattfand. Umso wunderbarer sind die Taten der wenigen heroischen Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens Verfolgte retteten. Richard Marx, München Fassungslos sprachlos Nr. 35/2014 Die Akte Auschwitz Schuld ohne Sühne: Warum die letzten SS-Männer davonkommen Selten habe ich einen ebenso erschütternden wie wütend machenden Artikel in einer so komprimierten Form gelesen. Dafür gebührt dem Verfasser ein großes Lob. Es ist geradezu lächerlich, wie man in einer Großaktion greisen ehemaligen SS-Schergen nachstellte. Und es ist mehr als beschämend, dass unsere Justiz nach diesen Jahren des Horrors keine Mittel fand, die Verantwortlichen zügig zur Rechenschaft zu ziehen. Nein, diese menschenverachtenden Verbrecher fanden auch noch nach ihren Gräueltaten berufsmäßige Verwendung in deutschen Behörden. Unfassbar. Horst Winkler, Herne (NRW) Es ist ja löblich, dass der SPIEGEL die Versäumnisse der deutschen Justiz bei der Aufarbeitung des Holocaust untersucht. In Zeiten, da sich die Krisen in schwindelerregendem Tempo verselbstständigen, sollte der Blick aber nach vorn gerichtet sein. Wann befassen Sie sich endlich in einem Titel mit dem Urkonflikt des Nahen Ostens, der israelischen Politik in Palästina? Ingo Budde, Achim (Nieders.) Als ein Überlebender des Gettos Litzmannstadt und des KZ Buchenwald bedanke ich mich für Ihre Ausgabe zu Auschwitz. Niemals zuvor hat es einen solchen Massenmord gegeben. Aber was ist mit den Nachkommen der Einsatzgruppen, die heute ebensolche Antisemiten sind wie ihre Großväter? Siegfried Buchwalter, Baltimore (USA) Mag sein, dass eine entschlossene Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wenig dagegen hätte ausrichten können, dass 70 Jahre nach Auschwitz Rufe wie Hamas, Hamas, Juden ins Gas! in deutschen Großstädten zu hören sind, dass hierzulande im Jahr 2014 Israelfreunde beleidigt und geschlagen werden und vor wenigen Wochen in Wuppertal ein Brandanschlag auf eine Synagoge verübt wurde. Es bleibt jedoch wichtig zu sagen: Antisemiten dürfen sich in Deutschland nicht wohlfühlen. André Beßler, Bremen Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Als langjähriger Leser stelle ich die Frage: Wann endlich schließt der SPIEGEL die Akte und bringt auf der Titelseite keine Themen mehr aus der NS-Zeit? Die Welt hat reichlich dringende aktuelle Probleme. Das soll nicht heißen, dass Artikel zur Zeitgeschichte, auch solche, die sich mit der Aufarbeitung der NS-Zeit befassen, unterbleiben sollen. Roland Kiesewetter, Hamburg Ich gebe zu, als ich den Titel des SPIEGEL dieser Woche sah, dachte ich: na, wieder mal dieses Thema. Doch nach der Lektüre des hervorragend recherchierten und aufwühlenden Artikels bin ich fassungslos, sprachlos, wütend. Mir war das Ausmaß der geheuchelten Ignoranz, bewussten Verdrehungen, Verharmlosungen und in vielen Fällen zynischen und die Opfer im Nachhinein herabwürdigenden sogenannten Urteile gegen Beteiligte des NS-Regimes nicht bewusst. 0,48 Prozent diese Zahl zum Anteil der verurteilten SS-Angehörigen, die im KZ Auschwitz tätig waren, wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Sie beschämt und verstört. Lutz Jäkel, Berlin Wenn, wie Sie schreiben, der erste deutsche Bundeskanzler Israel dazu drängte zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik die NS-Strafverfolgung einstellt, frage ich mich, wie man so einen Mann noch ehren kann und ob jene Partei mit dem großen C am Anfang nicht ihrer parteinahen Stiftung einen anderen Namen geben sollte. Der Begriff Massenmord beschönigt das Jahrhundertverbrechen. Es handelte sich um ein systematisches Zu-Tode-Foltern von Millionen Menschen. So war es ein moralisches Verbrechen, die Strafverfolgung der NS-Täter einstellen zu wollen. Ulf Pape, Berlin Seit Bundeskanzler Adenauer zählt es leider zu den Konstanten dieser Republik, dass die Opfer der NS-Herrschaft um ihre Rechte kämpfen müssen, während man nicht wenigen belasteten Tätern eine generöse Pension gewährt. Daher kann man gar nicht genug über diese in der Tat zweite Schuld sprechen. Rasmus Helt, Hamburg Der Bericht ist hervorragend recherchiert und sichtlich um Objektivität bemüht. Zwei Punkte gilt es dennoch anzusprechen: Richtig ist, dass die Initiative für die Vorermittlungen gegen John Demjanjuk von Thomas Walther ausging und er hier richtungsweisend tätig war. Völlig unverständlich ist demgegenüber der Vorwurf intellektueller Trägheit der Kollegen. Herr Walther war nur deshalb in der Lage, den Fall Demjanjuk gründlich zu recherchieren, weil ich ihn über Monate hinweg von sämtlichen übrigen Aufgaben freistellte, die dann von diesen ihm in puncto geistlicher Beweglichkeit ebenbürtigen Kollegen klaglos erfüllt werden mussten. Meine Aussage, Auschwitz sei bei der Justiz gedanklich abgeschlossen gewesen, gründet sich auf dem Urteil des Bundesgerichtshofs zu Auschwitz Eine derart eindeutige Aussage des obersten deutschen Gerichts ist für die Ermittlungs - behörden nach einer Rechtsauffassung bindend, nach einer anderen zumindest richtungsweisend. Bei uns kontrolliert die Rechtsprechung die Exekutive, nicht umgekehrt. Ich habe in all den Jahren keine Kritik seitens der Wissenschaft an diesem Urteil vernommen. Erst jetzt nach dem Urteil gegen Demjanjuk melden sich einige Professoren zu Wort. Das erscheint mir etwas billig. Kurt Schrimm, Ludwigsburg Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Sprung ins Fettnäpfchen Nr. 34/2014 Wie der BND amerikanische Außenminister abhörte Nun sind sie endlich entlarvt worden, die ideologisch verbildeten Gutmenschen mit ihrer blinden Wut auf die USA. Vernünftige Menschen wussten schon immer, dass uneingeschränkte Abhörmaßnahmen der Geheimdienste weltweit zum Alltag gehören. Sie sind zur Verhinderung und Aufklärung von Verbrechen unerlässlich. Herbert Gaiser, München Nach der öffentlichen Demütigung durch Edward Snowden hat der BND verzweifelt um seine Daseinsberechtigung gekämpft. Jetzt hat er durch einen gewaltigen Sprung ins Fettnäpfchen wenigstens einen Arbeitsnachweis erbracht. Rolf Lemke, Mülheim an der Ruhr (NRW) Hat der BND gerade hier nicht richtig gehandelt? Ist es nicht Aufgabe eines Geheimdienstes, bei klaren Verdachts - momenten Spionage zu betreiben, um der Politik Mittel an die Hand zu geben, zu handeln? Das ist ja gerade der Unterschied zum Vorgehen der NSA, die alles und jeden ohne Verdachtsmomente überwacht, während der BND in Bezug auf die Türkei gezielt aufgrund von Indizien aktiv wurde. Sven Jösting, Hamburg 10 DER SPIEGEL 36 / 2014

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12 Briefe Wer ist jetzt behindert? Nr. 34/2014 SPIEGEL-Gespräch mit dem Inklusions - kritiker Bernd Ahrbeck über die bestmögliche Förderung behinderter Kinder Vielen Dank an Herrn Ahrbeck für seinen Mut zur Wahrheit. Möglicherweise steckt hinter dem unsäglichen Inklusions-Gleichmacherei-Gedöns auch der ganz profane politische Sparwille. Denn wenn alle gleich sind, brauchen wir weder Sonder- oder Förderschulen noch deren Personal. Dirk Zahn, Hennigsdorf (Brandenb.) Die Inklusion wird scheitern, weil die Länder die nötigen finanziellen Mittel nicht zur Verfügung stellen können. Und weil Inklusionskinder an der Regelschule meist schlechter gefördert werden als an der Förderschule. Bernhard Sauerwein, Breuna (Hessen) Diplompädagoge und Förderschulrektor a.d. Mir ist noch kein Förderschüler begegnet, dem es gefällt, als behindert bezeichnet zu werden, und der es vorzöge, unter seinesgleichen zu bleiben. Die Lebenswirklichkeit setzt für Kinder mit Behinderungen viel eher ein, wenn sie mit Nichtbehinderten zusammen sind. Und nicht nur sie lernen sehr viel voneinander, sondern insbesondere auch die Lehrer und Eltern, die sich so gemeinsam auf den Weg zu einer humaneren Gesellschaft machen. Dank den SPIEGEL-Redakteuren für ihre pointierten und von Sachkenntnis und Unvoreingenommenheit geprägten Fragen. Regina Mannitz, Trier, Förderschulrektorin Ich bin behindert, und das ist gut so. Doch zum Glück geschah der Unfall erst nach meinem Abi. Wenn ich mir vorstelle, welch ein endloser Kampf das wäre, vom Schulbetrieb weiterhin in die gängigen Schablonen gepresst zu werden, als ob man funktionierte wie normal! Nur weil diese Maschinerie aus Bequemlichkeit? aus Geld- und Zeitnot? nicht einsehen kann, dass man nicht so leistungsfähig ist. Wer ist denn jetzt behindert, hä? Bernd Heydecke, Neukalen (Meckl.-Vorp.) Wenn zum Beweis, dass schulische Inklusion nicht gelingen kann, immer die Schüler herhalten müssen, bei denen es besonders schwierig erscheint, kann man die Diskussion über eine neue Schule gleich beenden. Die vehemente Verteidigung un- seres differenzierten Schulsystems und die These, dass im Wesentlichen in der äußeren Selektion individualisiertes Lernen möglich ist, zeugen eher davon, dass Ahrbecks Einblick in die Welt der Regel- und Förderschulen sehr begrenzt ist. Gerd Dahm Behindertenbeauftragter der Stadt Trier Kindern mit Beeinträchtigungen im kognitiven oder emotional-sozialen Bereich täglich in einem leistungsvergleichenden System zu zeigen, wie sie niemals sein werden, grenzt an emotionale Grausamkeit. Nadja Gschwendtner, Schwanstetten (Bayern) Big Brother im All Nr. 34/2014 Wie realistisch ist es, den Wüsten - planeten Mars zu besiedeln? Die Idee, oder besser gesagt das blödsinnige Vorhaben, Menschen auf dem Mars anzusiedeln, halte ich für völlig absurd. Allein die kosmische Strahlung, der ein Mensch im Raumflug dorthin ausgesetzt wäre, würde zu einer Belastung führen, als ob er 250-mal hintereinander mit einem Röntgengerät untersucht würde. Eine Krebserkrankung könnte die Folge sein. Ein Raumflug zum Mars wäre deshalb nicht sehr lebenswert. Dipl.-Ing. Karl-Hermann Reich, Mellrichstadt (Bayern) Dieses Projekt erscheint mir finanziell wie technologisch ein Luftschloss zu sein, dünner als die Marsatmosphäre. Möglicherweise könnte aber die mediale Beachtung für Mars One Anstoß für ein multinationales staatliches Großprojekt einer Marsmission sein und damit doch der erste Schritt zur Besiedlung des Planeten. Dr. Karsten Strey, Hamburg Die Summe von sechs Milliarden Dollar könnte man sinnvoller einsetzen, als sie ins All zu schießen für 24 Stunden Big Brother. Immerhin würde dann die Welt dabei zuschauen, wie Menschen sterben. Johannes Raabe, Falkenthal (Brandenb.) Das Projekt ist unmoralisch und widerspricht sämtlichen Regeln der bemannten Raumfahrt ( human spaceflight ). Joachim Kehr, Weßling (Bayern) Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt und auch elektronisch zu veröffent lichen: Korrektur zu Heft 33/2014, Seite 58 Eine Welt voller Überfluss : Monika Griefahn, seinerzeit Umweltministerin in Niedersachsen, war anders als berichtet niemals Mitglied der Grünen; auch ist sie nicht im Jahr 2012, sondern 2010 aus der Politik ausgestiegen. Sie hat überdies nie versucht, ihren Mann in einer Enquetekommission unterzubringen. 12 DER SPIEGEL 36 / 2014

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14 Das deutsche Nachrichten-Magazin Leitartikel Das syrische Dilemma Darf der Westen im Kampf gegen den Islamischen Staat mit Assad kooperieren? Die USA und mit ihnen die freie westliche Welt stehen vor einem moralischen Dilemma. Um die ebenso gruseligen wie grausamen Kämpfer des Islamischen Staats (IS) zu besiegen, genügt es nicht, ein paar Bomben über dem Nordirak abzuwerfen. Der Krieg müsste auch in Syrien geführt werden, wo die Dschihadisten große Gebiete kontrollieren und Stützpunkte haben. Wie im Nordirak, wo die USA mit den Kurden kooperieren, braucht es auch dort einen Partner, der über den rasanten Wechsel der Machtverhältnisse im Bilde ist und den Kampf auf dem Boden fortsetzen könnte. Dabei bieten sich zwei Partner an: die gemäßigten Rebellen der Freien Syrischen Armee und, ausgerechnet, Baschar al-assad, der Präsident Syriens. Darf man das? Darf der Westen mit einem Mann kooperieren, der längst vor dem Kriegsverbrechertribunal stehen sollte wegen Massenmords am eigenen Volk, wegen des Einsatzes von Giftgas? Darf er gemeinsame Sache mit einem menschenverachtenden Regime machen, um die Ausbreitung eines noch ruchloseren Regimes zu stoppen? Klar ist, dass der IS ebenfalls in Syrien gestoppt werden muss, auch wenn das nicht ohne Kollateralschaden geschehen kann und ein Eingreifen der USA unerwünschte Auswirkungen auf die Bürgerkriegsparteien haben dürfte. Die unfassbare Grausamkeit der Miliz, gepaart mit einem überbordenden Sendungsbewusstsein, macht den IS zu einer einzig artigen Bedrohung auch für den Westen, einer weit größeren, als Assad es jemals war. Das mag zynisch klingen, es ist deshalb nicht falsch. Kurzfristig mag es den Dschihadisten nur um die Gründung eines eigenen Staats gehen, des Kalifats. Gelänge es wie beabsichtigt, wäre dies bedrohlich genug, denn dort böte sich islamistischen Terroristen ein Rückzugsgebiet. Denn auch über ihre langfristigen Ziele lassen die Gründer des Kalifatsstaats keinen Zweifel. Die IS-Milizen führen einen mörderischen Kulturkampf. Sie begnügen sich nicht damit, ihr eigenes Reich abzusichern, sie sind auf weltweite Bekehrung und Vernichtung aus. Wir haben eure Soldaten im Irak gedemütigt, sagte ein Pressesprecher des IS. Wir werden sie überall demütigen. Das ist der Wille Gottes. Wir werden die Flagge Allahs im Weißen Haus hissen. Im Kampf gegen dieses Krebsgeschwür des 21. Jahrhunderts sind viele Mittel legitim. Es ist auch den Anhängern von Demokratie und Menschenrechten nicht verboten, in Ausnahmesituationen die eigenen Interessen zu ordnen und Prioritäten zu setzen. 14 DER SPIEGEL 36 / 2014 Syrischer Rebell in Aleppo Deshalb klingt es zwar paradox, wenn der Westen nun eine Zusammenarbeit mit Assad erwägt, den viele am liebsten schon längst aus seinem Palast gebombt hätten. Realpolitikern sind solche Gedanken trotzdem nicht fremd. Im Vergleich mit dem religiösen Eifer und Wahn der IS-Milizen ist Assads erbärmlicher Kampf um die eigene Macht lokal klar begrenzt. Bei allen Grausamkeiten, die er an seinem Volk begangen hat und für die er eines späteren Tages noch zur Verantwortung gezogen werden sollte, fehlt ihm der imperialistische, kreuzzüglerische Antrieb des Islamischen Staats. Diesen Unterschied darf der Westen berücksichtigen, wenn es um die Frage geht, ob Assad bei der Eindämmung des IS brauchbar sein könnte. Oder wenn der Westen zuließe, dass Assad indirekt von Luftschlägen profitierte. Man würde diesen Massenmörder dadurch weder rehabilitieren noch moralisch aufwerten. Der alte Grundsatz, wonach der Feind meines Feindes zugleich mein Freund ist, muss nicht immer stimmen. Man würde Assad lediglich zum nützlichen Despoten erklären, um ein hohes Interesse zu verfolgen. Die Sicherheit kann in Ausnahme - situationen schwerer wiegen als die Durchsetzung von Menschenrechten. Die Weltgeschichte kennt solche Kompromisse mit den eigenen Überzeugungen. Es ist furchtbar, sie schließen zu müssen, für die eigenen Ziele die Moral beiseitezuschieben. Vielleicht ist eine direkte Kooperation mit Assad aber gar nicht nötig. Wäre der Westen bereit, einen alten Fehler zu korrigieren, ließe sich sogar beides miteinander vereinbaren: der Kampf gegen die Dschihadisten und der Kampf gegen das syrische Regime. Die Freie Syrische Armee (FSA) kämpft seit Jahresbeginn gegen die Soldaten des IS. Die FSA-Anführer haben ebenfalls ein Interesse an US-Unterstützung aus der Luft. Die FSA könnte Amerika ähnlich wertvolle Informationen für Luftschläge liefern wie Assads Regime und zugleich den Kampf auf dem Boden fortführen. Im Gegenzug müsste der Westen die FSA konsequent und nachhaltig unterstützen, auch mit Waffen. Dazu war er bislang nicht bereit. Auch in diesem Fall würde Assad kurzfristig wohl von Luftschlägen gegen den IS profitieren. Aber der Nutzen wäre von begrenzter Dauer. Deshalb bietet sich dieser Weg an: Es erst mit der FSA zu versuchen. Ist sie trotz Aufrüstung nicht schlagkräftig genug, um den IS zu besiegen, muss man die schwere Frage diskutieren, was wichtiger ist: die Moral oder die eigenen Inte ressen. FOTO: AHMED DEEB / AFP

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16 Deutschland IS-Kämpfer im Irak Terrorismus Deutsche Ex-Soldaten im Dschihad Rund 20 ehemalige Angehörige der Bundeswehr sind in die Krisenregion in Syrien und im Irak gereist, um sich dort offenbar dschihadistischen Einheiten anzuschließen. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen handelt es sich um ehemalige Wehrdienstleistende. Sie sind für Gruppierungen wie die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) besonders wertvoll, da der Großteil der rund 400 in die Region ausgereisten deutschen Dschihadisten keinerlei militärische Vorkenntnisse hat. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) betrachtet den Islamismus bei der Bundeswehr als zunehmendes Problem: Erst kürzlich versuchte ein ehemaliger Stabsunter - offizier, ebenfalls in die Krisenregion zu gelangen. Er war zuvor nach Ermittlungen des MAD wegen seiner islamis - tischen Ansichten aus der Bundeswehr ausgeschlossen worden. Die Sicherheitsbehörden konnten seine Ausreise bislang verhindern. fis, jdl Waffenexporte Umweg über Bagdad Die Bundesregierung stößt auf unvermutete Schwierigkeiten, den Kurden im Nordirak die zugesagten Waffen und Schutzausrüstung zu liefern. Nach dem Außenwirtschafts- und dem Kriegswaffenkontrollgesetz muss der Wirtschaftsminister die Lieferung genehmigen. Sigmar Gabriel benötigt dafür jedoch eine schriftliche Erklärung aus Bagdad. Dort hat die neue Regierung ihre Arbeit aber noch nicht aufgenommen. Gabriel hatte in der vergangenen Woche bei einem Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsminis - terin von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier diplomatische Hilfe bei der Lösung des Problems erbeten. Nun brütet die Bundesregierung nach Angaben aus dem Auswärtigen Amt über einer rechtlich einwandfreien Lösung. Die könnte nach Einschätzung von SPD-Sicherheitsexperten beinhalten, dass die deutschen Transportflugzeuge zunächst in Bagdad zwischenlanden müssen und erst dann nach Arbil weiterfliegen, um das Material zu entladen. red Bundesrechnungshof Teure Geheimdienste Der Bundesrechnungshof kritisiert die Auslandsauf - klärung der Bundeswehr. Das Militärische Nachrichtenwesen überwache im Ausland Abhöranlage in Bad Aibling zivile Fernmeldeverbindungen und Richtfunkstrecken, ohne dafür eine gesetzliche Grundlage zu haben, heißt es in einem vertraulichen Prüfbericht. Es gebe zudem Doppelstrukturen, da der Bundesnachrichtendienst ebenfalls in den Einsatzgebieten der Bundeswehr lausche. Diesbezügliche Vereinbarungen zwischen dem Auslandsgeheimdienst und der Bundeswehr müssten unverzüglich überarbeitet werden. Kritik üben die Prüfer auch am Militärischen Abschirmdienst (MAD). Es sei zweifelhaft, ob nach einer Strukturreform der Bundeswehr noch zwölf MAD-Standorte in Deutschland nötig seien. Grundsätzlich müsse die Sicherheitsarchitektur in Deutschland aus Kostengründen grundlegend reformiert werden, fordert der Rechnungshof. Gemeinsame Zentren verschiedener Dienste von Bund und Ländern, etwa gegen die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus oder Rechtsextremismus, sollten an einem Ort zusammengelegt werden. Auch das Nebeneinander von Ver - fassungsschutzbehörden auf Bundes- und Landesebene sehen die Prüfer kritisch. gud FOTOS: AP / DPA (O.); PETER SCHATZ (U.); 16 DER SPIEGEL 36 / 2014 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter

17 FOTO: CHRISTIAN THIEL (U.); ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL Internet Hacker bei den Piraten? Der Fund einer Spionage - software auf dem Rechner eines Piraten-Mitarbeiters sorgt für Unmut unter den Kollegen im Düsseldorfer Landtag. Mit dem Programm Cain können Passwörter anderer Benutzer ausspioniert werden. Tagelang weigerten sich die Piraten, den Rechner herauszugeben. Schließlich rückten sieben Beamte des Landeskriminalamts an. Sie fanden eine professionell gesäuberte Festplatte, entdeckten aber beim Wiederherstellen auch das Spionageprogramm. Hinweise auf Datenmissbrauch gibt es bislang nicht. Mysteriös ist aber, wie das Programm überhaupt über das gut gesicherte Netz des Landtags auf den Rechner gelangen konnte. Zugriff haben nur dessen IT-Experten. Ein Hackerangriff wird jetzt vermutet. Die Piratenspitze muss darum am Mittwoch vor dem Ältestenrat antreten. Die geplante Wahl einer Piratin zur Vizeland tags - präsidentin, der höhere Bezüge und ein Dienstwagen mit Chauffeur zustehen, ist jetzt erst einmal verschoben worden wegen des un - Göring-Eckardt geheuerlichen Vorgangs, wie sich der SPD-Fraktionschef Norbert Römer em - pörte. bas Grüne 32 Stunden Bei den Grünen bahnt sich neuer Streit in der Familienpolitik an. Die Forderung von Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nach Einführung der 32-Stunden-Woche für Eltern von kleinen Kindern stößt auf Widerspruch: Starre Gerüste wie eine 32- Stunden-Woche werden der Vielfalt der Bedürfnisse von Familien nicht gerecht, sagt die familienpolitische Sprecherin Franziska Brantner, selbst Mutter eines Kindes. Politik soll Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen, selbstbestimmt mit ihrer Zeit umzugehen. Brantner fordert arbeitszeitliche Flexibilität, aber im Sinne der Eltern und individuell ausgestaltet. In dieser Woche veranstaltet die Grünen- Fraktion eine Tagung zum Thema Zeit und Familie. Göring-Eckardt hatte in einem Interview die Pläne von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) zur Einführung der 32-Stunden- Woche unterstützt. flo Juli Zeh Die Klassensprecherin Seltsamer Reflex Der Amazon-Streit geht in die dritte Phase. Phase eins das Problem wird erkannt. Mehrere Verlage machen öffentlich, dass Amazon ihre Bücher beim Onlinevertrieb benachteiligt, um einen höheren Anteil am Verkaufspreis für E-Books zu erpressen. Phase zwei Kritik wird laut. In mehreren Ländern erscheinen offene Briefe von Autoren, die Medien berichten. Phase drei eine Antwort wird gefunden. Sie lautet: Wenn Amazon so schlimm ist, sollen die Leute ihre Bücher doch woanders kaufen. Das ist ein neuerdings beliebter Reflex auf drängende politische Fragen. Wer nicht von Geheimdiensten ausgespäht werden will, soll eben keine s schreiben. Wer nicht möchte, dass man ihm die Daten klaut, kann sich ja von Facebook und Google fernhalten. Wem die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie nicht gefallen, darf keine billigen Klamotten erwerben. Gewiss wäre die Welt ein Stück gerechter, wenn die Kunden ihre Bücher bei den Leuten bestellen würden, die die Arbeit machen. Amazon erhält bis zu 50 Prozent vom Preis jedes verkauften Buchs. Zum Vergleich: Der Anteil der Autoren liegt bei rund 10 Prozent, der Gewinn der Verlage meist noch darunter. Beim E-Book bekommt Amazon derzeit nur knapp ein Drittel dessen, was der Kunde zahlt. Das will Amazon ändern. Die Wahrung seiner Geschäftsinteressen dürfte dem Konzern nicht schwerfallen. Deutsche Publikumsver - lage beziffern den Marktanteil Amazons bei E-Books auf bis zu 60 Prozent. Bei einem solchen Wert geht das Kartellrecht von einer marktbeherrschenden Stellung aus. Auf der anderen Seite muss es sich ein Verleger zweimal überlegen, ob er auch nur eine Rundmail an seine Kollegen schreibt. In den USA wurden mehrere Verlage verklagt, die sich gegen Amazon zusammen - geschlossen hatten. Nötig wäre deshalb eine Reform des Kartellrechts, das aus vordigitalen Tagen stammt. Dazu käme eine Angleichung von E-Books an den reduzierten Mehrwertsteuersatz gedruckter Bücher (sieben Prozent). Und vor allem die Einführung einer gesetzlichen Obergrenze für den Anteil, den ein Händler am Verkauf eines E-Books einfordern darf. Zu glauben, alle diese Probleme könne der Verbraucher lösen, ist naiv. Der Verbraucher hat noch nie ein Übel aus der Welt geschafft. Das wäre in etwa so, als hätte man auf die Idee der Energiewende erwidert: Wer keinen Atomstrom mag, muss ja das Licht nicht anschalten. Es geht darum, ethische Standards unter neuen technologischen Bedingungen zu bewahren. Diese zen - trale Aufgabe darf die Politik nicht auf die Konsumenten abschieben. Auch wenn es selbstverständlich nicht schadet, ein E-Book direkt beim Verlag zu bestellen. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Jakob Augstein an der Reihe, danach Jan Fleischhauer. DER SPIEGEL 36 /

18 Deutschland Gewerkschaften Verfassungsexperte gegen Tarifeinheit Der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio hält die Pläne der Großen Koalition für ein Gesetz zur sogenannten Tarifeinheit für nicht verfassungsgemäß. Die im Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit würde in ihrem Wesensgehalt verletzt, wenn künftig nur noch diejenige Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in einem Betrieb Arbeitskämpfe führen dürfte. Zu diesem Schluss kommt der Staatsrechtler in einem Gutachten für die Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund, das am Freitag vorgestellt werden soll. Mit dem Papier will die Lobby der Krankenhausmediziner die Pläne von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) stoppen, das Streikrecht kleinerer Arbeitnehmergruppen wie Fluglotsen, Lokführer oder eben Ärzte einzuschränken. Vor allem die Wirtschaft dringt derzeit auf eine Regelung, um Dauerarbeitskämpfe in den Unternehmen zu verhindern. Das Di-Fabio-Gutachten ist heikel für die Bundesregierung, weil sie eine Änderung des Grundgesetzes dringend vermeiden will. Derzeit diskutiert eine Arbeitsgruppe über Details des Gesetzentwurfs, der im Herbst vorgelegt werden soll. Annäherung gibt es in ersten Einzelheiten: Können sich meh rere Gewerkschaften im Betrieb nicht auf eine Zusammenarbeit einigen, soll künftig ein neutraler Dritter eingeschaltet werden. So könnte ein Notar ermitteln, welches die stärkste Arbeitnehmervertretung ist. Nur ihm gegenüber müssten die Gewerkschaften offenlegen, wie viele Mitarbeiter sie organisieren. Am Dienstag trifft Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Meseberger Zukunftsgespräch die Spitzen von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Dort soll das Thema besprochen werden. ama, cos, mad BER-Chaos Haltungsnoten wie beim Sport Hartmut Mehdorn, 72, Chef des noch immer nicht eröffneten Berliner Flughafens BER, über den Rücktritt von Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), dem BER-Aufsichtsratschef SPIEGEL: Sie haben oft mit Wowereit gestritten. Freut Sie sein Abgang? Mehdorn: Ganz und gar nicht. Ich bedaure Klaus Wowereits Rücktritt sehr. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber ich arbeite ausgesprochen gern mit ihm zusammen. Im persönlichen Umgang ist er verlässlich, fair und ehrlich. Dank ihm kennt die Welt Berlin als weltoffene Metropole, nicht als piefige Schrebergartenkolonie. SPIEGEL: Leider auch als Metropole ohne Großflughafen. Mehdorn: Ich meine, das stimmt nicht. Wir haben zwei funktionierende und beliebte Flughäfen. Richtig ist, dass viele wichtige Weichen für den BER vor Wowereits Amtsantritt falsch gestellt wurden. Er selbst hat sich für das Projekt stets engagiert. Viele Kontroversen verdanken wir auch der komplizierten Eigentümerstruktur, mit dem Bund, Berlin und Brandenburg als Gesellschaftern, die jeweils eigene Interessen und begrenzte finanzielle Mittel haben. SPIEGEL: Wowereit sieht die Verspätung des Flughafens als seine größte Niederlage. Was hat er als Aufsichtsratschef falsch gemacht? Mehdorn: Da wird etwas verwechselt: Ein Aufsichtsratschef ist kein Oberbauleiter. Er Bundespolizei Faktisch pleite Die Bundespolizei will künftig keine Miete mehr für ihre Liegenschaften bezahlen. Weil die Finanzmittel wegen einer Haushaltssperre verbraucht sind, würden schon ab diesem Monat die Überweisungen eingestellt. Das kontrolliert und berät die Geschäftsführung, die allein für alles Operative zuständig ist. So ist es überall auf der Welt außer beim BER. Der Flughafen ist eine politische Baustelle. Da werden Haltungsnoten verteilt wie beim Sport. Jeder wirft von der Außenlinie seinen Kommentar rein. SPIEGEL: Der Flughafen gehört ja auch den Steuerzahlern. Mehdorn: Der Flughafen wird größtenteils von der Flughafengesellschaft selbst finanziert. Vor allem ist er ein industrielles Großprojekt, das nur funktionieren kann, wenn es nach wirtschaftlichen Prinzipien organisiert wird. SPIEGEL: Was erwarten Sie von Wowereits Nachfolger im Aufsichtsrat? Mehdorn: Wer ihm nachfolgt, ist eine Schlüsselfrage für den Flughafen. Jetzt ist die Gelegenheit für einen personellen Richtungs - wechsel, vor allem mit dem angemessenen Rollenverständnis für Eigentümer, Aufsichtsrat und Geschäftsführung. SPIEGEL: Was meinen Sie damit? Mehdorn: Beim BER werden laufend Politik und Sachthemen vermischt. Im Aufsichtsrat sind Politiker und Ministeriale mit Fragen konfrontiert, für die sie nicht aus - gebildet sind. Wir sollten die Chance ergreifen, den Flughafen zu entpolitisieren. Es gehören mehr Mitglieder mit unter - nehmerischem Sachverstand in den Aufsichtsrat. ama habe Vizepräsident Franz Palm bei internen Besprechungen unlängst angekündigt, heißt es unter Teilnehmern. Davon betroffen sei nicht nur die Bundesanstalt für Immobilienangelegenheiten, die Häuser und Grundstücke im Bundesvermögen verwaltet und dem Finanz - ministerium untersteht, sondern auch private Flughafenbetreiber wie Fraport in Frankfurt. An geblich müssten außerdem sämtliche Behördenleiter tagungen und Besprechungen storniert werden, die mit Reise- und Unterbringungskosten verbunden seien. Die Bundespolizei ist laut Insidern seit August faktisch zahlungsunfähig. FOTO: WERNER SCHUERING / IMAGETRUST 18 DER SPIEGEL 36 / 2014 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter

19 FOTOS: ANDREAS PROST / DDP IMAGES / DAPD (L.); ARNO BURGI / DPA (R.O.); ZOO DRESDEN (R.M.) SPD Machnig wieder da Matthias Machnig, SPD-Vielzweckwaffe, wird am 1. Ok - tober als Staatssekretär ins Bundeswirtschaftsministe - rium einziehen. Darauf haben sich Minister Sigmar Gabriel und Machnig verständigt. Er wird die Nachfolge von Stefan Kapferer (FDP) antreten, der zur OECD nach Paris wechselt. Der 54-Jährige ist damit für zentrale Themen des Ressorts, darunter Außenwirtschaft, Mittelstand, Technologie, Digitales und Rüstungsexporte, zuständig. Machnig, einer der engsten politischen Vertrauten Gabriels, hatte zuletzt im Willy- Brandt-Haus den Europa- Wahlkampf der SPD geleitet. Im November 2013 war er als Machnig, Gabriel Wirtschaftsminister in Thü - ringen ausgeschieden. Zuvor war bekannt geworden, dass er jahrelang Bezüge aus seiner Zeit als Bundes-Umweltstaats - sekretär bezogen hatte zusätzlich zu seinem Gehalt als Landesminister. Ursprüngliche Betrugsvorwürfe erhielt die Staatsanwaltschaft jedoch nicht aufrecht. red Blick auf Deutschland Roman Kuźniar, Berater des polnischen Präsidenten, über die Zuverlässigkeit Deutschlands in der Ukrainekrise in der Tageszeitung Rzeczpospolita am 26. August Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir in Fragen der Regionalsicherheit auf Deutschland wegen seiner speziellen Einstellung gegenüber Russland nicht zählen können. Gesundheit Finanzressort warnt vor Ausgabenplus Das Bundesfinanzministerium warnt vor künftigen Haushaltsrisiken durch die gesetz - liche Krankenversicherung. Perspektivisch dürften die Ausgaben der Krankenkassen erheblich schneller steigen als ihre Beitragseinnahmen, heißt es in einem Sachstandsbericht zur Gesundheits - reform, den die Beamten von Ressortchef Wolfgang Schäuble (CDU) verfasst haben. Das Papier darf auch als Mahnung an dessen Parteifreund Gesundheitsminister Hermann Gröhe verstanden werden. So erinnern die Haushaltsexperten an den Koalitionsvertrag, der eine umsichtige Ausgabenpolitik im Gesundheitssystem versprochen hatte. Diese sei zwingend erforderlich, sollen weitere Erhöhungen des Bundeszuschusses und/oder steigende Zusatzbeiträge vermieden werden, so das Finanzministerium. Vom nächsten Jahr an sinkt der festgeschriebene Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenver - sicherung von derzeit 15,5 auf 14,6 Prozent. Arbeitnehmer und Arbeitgeber tragen davon jeweils die Hälfte. Kassen, die mit diesem Geld nicht auskommen, sollen von den Versicherten aber zusätzlich einen Beitrag erheben, der sich an deren Einkommen orientiert. Derzeit verfügt die gesetzliche Krankenversicherung noch über Reserven von rund 30 Milliarden Euro. cos, rei Der Augenzeuge Ein Pfeil hätte nicht gereicht Helmar Pohle, 45, arbeitet als Inspektor im Dresdner Zoo. Normalerweise bildet er Tierpfleger aus, betreut Bauprojekte in den Gehegen und kümmert sich um Futternachschub. Als sich ein Elchbulle in ein Bürogebäude verirrte, rückte Pohle mit dem Narkosegewehr aus. Der Elch stand in einem verglasten Durchgang eines Bürohauses. Was ihn getrieben hat, in das Gebäude zu gehen, weiß nur der Wind. Äußerlich war er ruhig, salopp gesagt: einfach fertig. Theoretisch weiß ich, wie junge Elchbullen ticken. Aber wenn man vor einem steht, ist das doch immer eine individuelle Geschichte und diesen kannte ich natürlich nicht. Deshalb habe ich getestet, wie er drauf ist. Zuerst habe ich versucht, ihn mit Laub zu locken. Dann bin ich durch ein Fenster in den Durchgang geklettert, um zu sehen, wie er reagiert. Da ist er hochgegangen und hat mit den Vorderhufen geschlagen. Weil rundherum alles verglast war, habe ich mich zurückgezogen. Angst hatte ich nicht, ich war halt vorsichtig. Es dauerte ein paar Stunden, bis der Transportcontainer da war. Mit dem Jagdpächter, dem Ordnungsamt und einer Tierärztin hatte ich besprochen, dass wir erst mal im Guten versuchen, das Tier mit Blättern und Zweigen hineinzulocken. Weil das nicht geklappt hat, habe ich mit dem Gewehr zwei Narkosepfeile verschossen einer hätte für die Medikamentendosis nicht gereicht. Irgendwann lag das Tier so ruhig da, dass wir uns gefahrlos nähern konnten. Sicherheitshalber haben wir die Beine fixiert. Da waren ein paar stämmige Feuerwehrleute und Polizisten, die habe ich verpflichtet, beim Tragen mitanzupacken insgesamt acht Mann, glaube ich. So ein junger Elch wiegt ja locker weit über 300 Kilo. Wir haben ihn gerettet, ohne dass jemand verletzt wurde. Das hat mich sehr gefreut. Aber ich wünsche mir, dass die Leute mehr Verständnis haben. Schaulustige sind ein Problem. Manche sind sogar in dem Durchgang gewesen, bevor ich ankam. Das ist lebensgefährlich, und es stresst den Elch zusätzlich. Der Lebensraum der Tiere wird seit vielen Jahren kleiner, gleichzeitig siedeln sich manche wieder bei uns an. Wir müssen lernen, mit solchen Gefahren umzugehen. Das war der dritte Elch in Dresden innerhalb von 15 Jahren. Wenn er das Ganze gut überstanden hat, kann er übermorgen schon wieder hier stehen. Er wurde nach Ostsachsen gebracht, ich würde gern erfahren, was aus ihm geworden ist. Aber es ist mir auch recht, wenn ich nie wieder was von ihm höre. Aufgezeichnet von Benjamin Schulz DER SPIEGEL 36 /

20 Deutschland Stufe vier Regierung Die monatelange Telefondiplomatie der Kanzlerin hat bei Russlands Präsident Putin nicht verfangen. In der Nato gewinnen die Hardliner Zulauf. Sie wollen viel mehr als nur neue Wirtschaftssanktionen und könnten sich jetzt erstmals durchsetzen. Die offizielle Zählung liegt bei 25. So oft hat die Bundesregierung seit November vergangenen Jahres eigens eine Erklärung zu einem Telefonat zwischen der Kanzlerin und Russlands Präsidenten Wladimir Putin herausgegeben. Schätzungen und Hinweise lassen eher an um die 35 direkte Gespräche glauben. Immer kreisten die beiden um die Ukraine, nie gelang der Durchbruch. Tausendmal berührt, tausendmal ist nix passiert, so ging vor 30 Jahren einmal ein deutscher Schlager. Die kleine Geschichte, die er erzählt, hat ein Happy End. Die Geschichte zwischen Angela Merkel und Wladimir Putin hat bislang keines. Und auf das Wörtchen bislang in diesem Satz würde derzeit kaum jemand im Regierungslager bestehen. Die Krise in Osteuropa, zwei Flugstunden von Berlin entfernt, geht in ihren zehnten Monat. Was mit dem Scheitern eines Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine begann, muss man jetzt einen Krieg nennen. Mit schweren Waffen wird um Städte und Dörfer gekämpft, von strategisch wichtigen Anhöhen ist in Berichten der Militärs die Rede. Und täglich sterben Soldaten, sei es mit, sei es ohne reguläre Uniform. Von Beginn dieser Krise an, die eher ins 19. als ins 21. Jahrhundert zu passen scheint, war es Angela Merkel, die ihr eingespieltes Verhältnis zu Russlands Präsidenten nutzte: um ihn wenigstens zu verstehen, um zu vermitteln, zu warnen. US- Präsident Barack Obama und die übrigen Europäer folgten ihrer Linie. Aber sie hat nicht ins Ziel geführt. Ein Vorwurf wird der Kanzlerin daraus weder in der EU noch in der Nato gemacht. Doch beim Bündnisgipfel in dieser Woche wird sich Angela Merkel zwei Fragen stellen müssen: Warum weiter mit einem Mann reden, der sein Wort zu oft nicht hält? Was bedeutet es, wenn stetig verschärfte Sanktionen im Kreml keinen Eindruck hinterlassen? Die Krise ist an jenem Punkt angelangt, den die Kanzlerin auf jeden Fall vermeiden wollte: dort, wo erst die eine und womöglich dann auch die andere Seite aus der diplomatischen Verhaltenslogik in eine militärische wechselt. Wladimir Putin scheint 20 DER SPIEGEL 36 / 2014 diesen Punkt überschritten zu haben, er lässt russische Truppen samt Gerät in der Ostukraine einsetzen. Und in der Nato wächst der Druck auf Merkel, ganz anders als bislang zu reagieren. Wie sehr dieser Druck schon in den Berliner Köpfen wirkt, ließ ein Sprecher Frank- Walter Steinmeiers am Freitag unfreiwillig erkennen, als er sagte: Der Außenminister hat alles andere als ein schlechtes Gewissen, weil er versucht habe, eine diplomatische Lösung zu finden. Neben ihm in der Bundespressekonferenz wand sich Regierungssprecher Steffen Seibert minutenlang um den Begriff Krieg oder Inva - sion herum. Er blieb bei einer holprigen Formulierung, wonach sich die Berichte aus der Ostukraine zu einer militärischen Intervention addieren. Das nennt man wohl, in der Defensive zu sein. Merkel und Steinmeier stehen einer russischen Führung gegenüber, die mit ihnen zu spielen scheint. Mitte April ließ sich Wladimir Putin nach langem Drängen auf eine Konferenz in Genf ein, an der neben der EU und den USA auch die Ukraine teilnahm. In der Abschlusserklärung hieß es: Alle illegalen bewaffneten Gruppen müssen entwaffnet, alle illegal besetzten Gebäude ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden. Nichts dergleichen geschah. Später forderte Putin am Telefon mit Merkel eine einseitige Waffenruhe, die Kanzlerin verwandte sich in Kiew dafür. Aber als die ukrainische Führung schließlich zustimmte, ließ Putin zu, dass die prorussischen Rebellen mehrere Grenzübergänge einnahmen, über die seitdem nächtlicher Nachschub aus Russland kommt. Wochen später schickte Putin seinen Außenminister zu einem Treffen nach Berlin, sobald der aber zurück in Moskau war, verirrte sich ein Militärkonvoi auf ukrainisches Gebiet. Und seit Wochen bemüht man sich in Berlin um eine OSZE-Überwachung der ukrainisch-russischen Grenze mithilfe von Drohnen. 20 Beamte waren in Berlin damit beschäftigt, die Geräte zu beschaffen sowie sechswöchige Bedienungslehrgänge zu organisieren. Auch das dürfte nun hinfällig sein. Es sind nur einige von vielen enttäuschten Hoffnungen, die in Berlin aufgezählt werden. Ob jeder der russischen Züge Teil eines Plans ist oder spontane Reaktion auch auf interne Machtkämpfe, vermögen die Russlandexperten der Regierung nicht zu sagen. Inzwischen wird befürchtet, Putin wolle einen Korridor entlang der Schwarzmeerküste von der ukrainischen Ostgrenze bis nach Transnistrien im Westen abtrennen, also jene südlichen Provinzen der Ukraine, die der Kreml als Neurussland bezeichnet. Moskau hätte damit eine Landbrücke zur Krim sowie eine direkte Verbindung zu den russischen Separatisten im moldauischen Transnistrien. Noch vor zwei Wochen, als Merkel für einen Kurzbesuch nach Lettland reiste, ging man in Berlin davon aus, dass es Putin nicht gelingen würde, diesen Plan zu verwirklichen. Das sieht jetzt anders aus. In dieser Ratlosigkeit bleibt die offizielle Reaktion der Bundesregierung weiter die alte. Man setze auf eine diplomatische Lösung und werde es weiter versuchen. Dazu gehören auch verschärfte Sanktionen der sogenannten Stufe 3. Sie würden dann ganze Branchen betreffen, nicht länger nur ausgewählte Personen, Güter oder Firmen, von denen mehr als hundert inzwischen auf der EU-Strafliste stehen. Wenn das überhaupt wirkt, dann nur mit einigem zeitlichen Abstand, räumt ein Merkel-Berater kleinlaut ein. Reicht also Stufe 3, oder braucht es so etwas wie eine Stufe 4? Die Antwort darauf wird nicht aus den Verhandlungssälen der Europäischen Union kommen oder von einem EU-Gipfeltreffen wie dem am vergangenen Samstag. Sie liegt bei der Nato. In dieser Woche tagen die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses im Waliser Hotelkomplex Celtic Manor. Die Außen- und Verteidigungsminister sollen auch dabei sein, ebenso der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Bislang hatte Merkel für ihre Strategie breiten Rückhalt in der Nato. Sie konnte durchsetzen, dass als Nachfolger des kantigen Nato-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen der geschmeidig-diplomatische Norweger Jens Stoltenberg berufen wurde (siehe Seite 23). Aber der Wind dreht sich. Mit jeder neuen russischen Provokation werden die Argumente derjenigen stärker, die auf Konfrontation schalten wollen. In der vorvergangenen Woche musste die Bundesregierung in diesem Streit erst- FOTO: METZEL MIKHAIL / ITAR-TASS / ACTION PRESS

21 Kontrahenten Putin, Merkel

22 US-Soldaten in Polen: Die Diplomatie stößt an ihre Grenzen mals zurückstecken. Polen und die baltischen Staaten hatten darauf gedrängt, dass die geplanten Beschlüsse zu einer höheren Nato-Präsenz in ihren Ländern nicht auto - matisch nach einem Jahr auslaufen. Die Osteuropäer hatten in den Wochen zuvor alle Nato-Staaten auf ihre Seite gezogen, nur Deutschland nicht. Praktisch beschließen will das Bündnis beim Wales-Gipfel die weitere Entsendung von jeweils einer Kompanie nach Polen und in die drei Balten-Staaten. Derzeit stellen die USA die insgesamt nötigen rund 600 Mann, die Bundesregierung hat sich intern bereit erklärt, bei der nächsten Rotation nach sechs Monaten eine Kompanie von 100 bis 120 Mann zu ersetzen. Zudem wird das Nato-Kommando in Stettin in einen höheren Bereitschaftsgrad versetzt und erhält zusätzliche Dienst - posten, auch dafür sind Bundeswehrsoldaten zugesagt. Als rote Linie, über die eine erhöhte Bündnispräsenz im Osten nicht gehen soll, gilt dabei vorerst noch die Nato-Russland-Grundakte von Darin verzichtet die Allianz darauf, auf dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft zu stationieren. Die Akte zu kündigen könnte Stufe 4 sein, aber damit auch das Risiko erhöhen, in die militärische Logik eines neuen Kalten Krieges mit Russland zu verfallen. Das fürchtet die Kanzlerin, die vorerst zur Nato-Russland-Akte steht, und sei es nur, um sich diese letzte Eskalation des Westens so lange wie möglich aufzusparen. Polen und die baltischen Staaten werben trotzdem für den demonstrativen Bruch mit Moskau, und sie erhalten zunehmend Unterstützung. Kanada hat sich auf ihre Seite geschlagen, dort leben weit über eine Million Menschen ukrainischer Abstammung. Die Diplomatie stößt angesichts 22 DER SPIEGEL 36 / 2014 Tweet der kanadischen Nato-Delegation Orientierungshilfe für russische Soldaten der immer neuen russischen Aggressionen an ihre Grenzen, sagt sogar der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn. Es stellt sich die Frage, ob man bei Putin überhaupt noch etwas auf dem Verhandlungswege erreichen kann. Mehrere osteuropäische Regierungen kommen zu ähn - lichen Schlüssen. Die USA scheinen dagegen unentschlossen, heißt es in Berliner Regierungskreisen. Mal neigten sie den Hardlinern zu, mal der deutschen Position. Ihr Votum könnte entscheiden, vor dem Nato-Gipfel reist Präsident Obama nach Estland. In Berliner Regierungskreisen erwartet man auch deswegen einen Gipfel, der eine gewisse Dynamik entfalten könnte. Jetzt wird alles wieder auf den Tisch kommen, sagt ein hochrangiger Diplomat. Putins Verhalten verschaffe denen Aufwind, die die Nato-Russland-Akte am liebsten aufkündigen würden trotz aller Risiken. So weit sind wir noch nicht, aber es wird mit jedem weiteren militärischen Schritt der Russen schwieriger, die deutsche Position durchzusetzen. Offiziell hat die Nato erklärt, mehr als tausend russische Soldaten seien den Rebellen in der Ostukraine zu Hilfe geeilt. Sprüche eines Separatistenführers, wonach diese Männer alles Freiwillige seien, die ihre Ferien lieber im Krieg als am Strand verbrächten, werden nicht nur in Berlin als Verhöhnung empfunden. Auch das treibt die Politik in eine gefährliche Es - kalation. Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann werden politische Lösungen immer schwieriger, sagte Außenminister Steinmeier am Freitag. Und der stellvertretende Unionsfraktionschef Andreas Schockenhoff fordert eine entschiedene Reaktion der Nato. Es gibt eine neue Bedrohung in Europa, auf die wir reagieren müssen. Die Nato muss sich wieder stärker auf ihren ursprünglichen Auftrag, die Ver teidigung, konzentrieren. Auch wenn die Ukraine nicht Nato-Mitglied ist, wäre das ein deutliches Signal an Moskau. Schockenhoff spricht sich zudem für mehr Nato-Übungen in Osteuropa aus, um Russland klarzumachen, dass man im Notfall schnell eingreifen könne. Die Nato muss zeigen, dass sie nicht zahnlos ist. Die ukrainische Regierung weiß, welchen Beweis solcher Entschlossenheit sie fordern will, moderne Ausrüstung für ihre Armee. Waffenlieferungen sind überhaupt nichts, woran die Bundesregierung denkt, sagt ein Regierungssprecher dazu. Das allerdings hatte er Anfang August sinngemäß auch mit Blick auf den Nordirak erklärt. Binnen weniger als fünf Tagen räumte die Regierung ihre Position. An diesem Montag wird der Bundestag Waffen für die Kurden gutheißen. Nikolaus Blome, Christiane Hoffmann, Ralf Neukirch, Christoph Schult Lesen Sie weiter zum Thema Interview mit dem Rosneft-Chef Seite 62 Reportage aus der Ukraine Seite 80 FOTO: LUKASZ MAKOWSKI / FOTOLINK / ACTION PRESS

23 Der Sanfte Verteidigung Der künftige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist das Gegenteil seines Vorgängers Rasmussen: moderat und russlandfreundlich. FOTO: JEFF J MITCHELL / GETTY IMAGES Kurz nachdem der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg im vergangenen Jahr abgewählt worden war, bekam er einen Anruf aus Berlin. Am Apparat meldete sich die deutsche Bundeskanzlerin. Angela Merkel fragte den Sozialdemokraten, so erzählt es Stoltenberg, ob ich verfügbar wäre für internationale Aufgaben. Merkel kam rasch zur Sache. Sie erwähnte den Posten des Nato-Generalsekretärs. In einer Zeit, in der das Bündnis über den richtigen Kurs gegenüber Russland streitet, ist es eine kleine Sensation, dass sich die 28 Mitgliedstaaten innerhalb kürzester Zeit auf den Nachfolger des Dänen Anders Fogh Rasmussen einigten. Anfang April, mitten in der Ukrainekrise, nominierten die Nato-Botschafter Stoltenberg einstimmig. Und das, obwohl er als ausgesprochen russlandfreundlich gilt. Beim Nato-Gipfel Ende dieser Woche in Wales wird er sich auf dem neuen Terrain präsentieren. Im Oktober soll er den Chefposten des Bündnisses antreten. Dabei lag es alles andere als nahe, den 55-jährigen Sozialdemokraten aus Norwegen zum Nato-Generalsekretär zu machen. Stoltenberg ist außenpolitisch unerfahren. Andere Anwärter, der polnische Außenminister Radek Sikorski oder der belgische Verteidigungsminister Pieter De Crem, waren ihm an Kompetenz und Expertise klar überlegen. Außerdem begann er seine poli tische Karriere als erklärter Gegner der Nato. Bei seiner Bewerbung für den Vorsitz der sozialistischen Parteijugend Norwegens forderte der damals 25-Jährige den Austritt seines Landes aus dem Bündnis. Die Rede war auch eine Kampfansage an seinen Vater Thorvald, den vormaligen Verteidigungsminister. Die Forderung geriet schnell in Vergessenheit. Auf seinem Weg zum Regierungschef konzentrierte sich der studierte Volkswirtschaftler auf soziale und ökonomische Themen. Deshalb kann Stoltenberg kaum auf ein internationales Netzwerk an Freunden und Verbündeten zurückgreifen, analysiert der Osloer Politologe Asle Toje. Und schließlich lag Stoltenberg lange über Kreuz mit der Nato-Führungsmacht, den USA. Als Chef seiner rot-grünen Koa - lition verkündete Stoltenberg nach einer Unterredung mit dem damaligen US-Prä- Ministerpräsident Stoltenberg 2011*: Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie sidenten George W. Bush der Öffentlichkeit, er habe dem Amerikaner angekündigt, die norwegischen Soldaten aus dem Irak zurückzuziehen. Doch die beiden Politiker hatten darüber so nicht gesprochen, wie die norwegische Presse später berichtete. Bush hielt ihn seitdem für einen Lügner, wollte ihn nicht mehr treffen oder mit ihm telefonieren. Das Verhältnis besserte sich erst unter Bushs Nachfolger, Barack Obama. Stoltenberg traf den US-Präsidenten, bevor der im Rathaus von Oslo den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Die Chemie zwischen beiden stimmte. Als Stoltenberg im Februar dieses Jahres den entscheidenden Anruf aus dem Weißen Haus erhielt, ging alles sehr schnell. Er müsse sich innerhalb von 24 Stunden entscheiden, teilte ihm Washington mit. Befürchtungen, es könne in der zerstrittenen Nato zu viele Gegner geben, die ihn am Ende verhinderten, zerstreute Obamas Sicherheitsberaterin Susan Rice später: Der Präsident ist Ihr persönlicher Wahlkampfleiter. Doch ein Kampf war gar nicht nötig. Ausschlaggebend war die Rolle, die Stoltenberg in dem tragischsten Moment in Norwegens Nachkriegsgeschichte spielte: nach dem Anschlag von Oslo und dem Massaker auf der Insel Utøya, bei denen * Nach dem Anschlag auf seinen Regierungssitz. insgesamt 77 Menschen ums Leben kamen. Beeindruckt nahm die Welt zur Kenntnis, wie besonnen Stoltenberg reagierte, als in seinem Volk Wut und Rachegefühle hochschlugen. Unsere Antwort lautet: mehr Offenheit und mehr Demokratie, sagte er am Tag nach den Anschlägen. Seither verband sich für die Weltöffentlichkeit sein Gesicht mit Standhaftigkeit, aber auch mit großer Menschlichkeit und Empathie. Nun muss Stoltenberg die Nato mitten in der sich immer weiter zuspitzenden Krise mit Russland übernehmen. Sein Vorgänger Rasmussen hatte die Öffentlichkeit und manche Mitgliedstaaten wiederholt mit scharfen Äußerungen in Richtung Moskau irritiert. Rasmussen galt als Scharfmacher, Kriegstreiberei wurde ihm vorgeworfen. Stoltenberg ist dagegen einer, der nicht auf Konfrontation setzt. Er vermeidet Konflikte, sagt Politikwissenschaftler Toje. Der Charakterzug sei so stark in ihm ausgeprägt, dass er in Konfliktsituationen schon mal einfach das Telefon nicht abhebe. So berichten es jedenfalls Vertraute. Diese Masche wird der Norweger, der einst einen jahrzehntelangen Grenzkonflikt mit Russland auf dem Verhandlungswege löste, nicht beibehalten können. Schon beim Nato-Gipfel diese Woche wird das Bündnis wohl nicht nur die Wortwahl gegenüber Moskau verschärfen. Christoph Schult, Gerald Traufetter DER SPIEGEL 36 /

24 Er hat von Angela Merkel immer wieder das Gleiche verlangt und ist immer wieder abgeblitzt. Staatschef Hollande bei Gedenkfeiern in der Bretagne am 25. August

25 Deutschland Eine Frage des Glaubens Europa Der Streit über die deutsche Sparpolitik ist neu entbrannt. Frankreichs Präsident Hollande fordert ein Konjunkturprogramm, Kanzlerin Merkel stellt sich gegen EZB-Chef Draghi. FOTOS: PHILIPPE WOJAZER / REUTERS (L.); ERIC PIERMONT / AFP (R.) Die Kanzlerin blickt auf den erregten Frager wie auf ein seltsames Insekt. Das orangefarbene Mikro in der Linken, die Augenbrauen weit hochgezogen, sucht sie in ihrem Sessel auf der Bühne des Berliner Ensembles so großen Abstand wie möglich zum Journalisten des Magazins Cicero. Der hatte, mit rudernden Armen, gerade von der Verletzung der Franzosen gesprochen, die in Europa gegenüber Deutschland so sehr zurückgefallen sind. Hält Deutschland diese Rolle aus?, wollte er von ihr wissen. Na ja, antwortet Angela Merkel schließlich. Auch andere leisten sehr viel. Und was genau tun die Franzosen? Als Antwort fallen Merkel, nach einem weiteren Zögern, Mali und Zentralafrika ein, die französischen Militärinterventionen in Afrika. Darüber hinaus gibt es von ihr an diesem vergangenen Mittwochabend keine aufbauenden Worte. Sie hält die Botschaft bereit, die sie seit Jahren verkündet: Das Nachbarland müsse seine Strukturprobleme lösen, dann könne Frankreich auch wieder vorne sein. Dass französische Soldaten kämpfen, wo Deutschland höchstens ein paar Flugzeuge beisteuert, darüber freuen sich viele Franzosen tatsächlich. Aber diese kleine Genugtuung lindert nicht das im ganzen Land verbreitete Gefühl, von den Deutschen abgehängt worden zu sein. Nicht zuletzt deshalb wankt der deutsch-französische Pfeiler, auf dem die EU seit ihrer Gründung ruht. Beide Seiten halten insgeheim nach neuen Verbündeten Ausschau. Viele regierende Sozialisten suchen die Schuld an Frankreichs Misere, anders als Merkel, nicht bei sich selbst und den ausbleibenden Strukturreformen. Sondern bei der Wirtschaftspolitik der Deutschen. Gespalten ist die französische Linke dabei vor allem in einer Frage: Wie laut soll man das sagen? Und so ist die französische Regierung vergangene Woche gewissermaßen über Angela Merkel gestürzt. Präsident François Hollande entließ am Montag alle Minister, denn sein Premier Manuel Valls wollte endlich seinen Widersacher vom linken Flügel loswerden: Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg hatte sich zuvor lauthals über die Austerität in Europa beklagt und gefordert, die Regierung dürfe sich nicht mit den Ob- sessionen der deutschen Rechten gemeinmachen. Das Ergebnis ist: Frankreich hat nun eine neue Regierung, die sich so einhellig Finanzminister Schäuble Am Telefon beschwichtigt für Reformen ausspricht wie keine zuvor. Doch zugleich will Präsident Hollande den Druck auf Deutschland erhöhen, seine Wirtschaftspolitik grundlegend zu überdenken. Er möchte Merkel dazu bringen, einer Lockerung der Stabilitätskriterien zuzustimmen. Vergangene Woche verlangte er gar nach einem EU-Sondergipfel, um Wachstumsmaßnahmen zu beschließen. Das heißt etwa: mehr staatliches Geld in die Wirtschaft zu pumpen, so wie die Franzosen es traditionell machen. Im Kern geht es um die wirtschaftspolitische Glaubensfrage, um die seit Beginn der Eurokrise gestritten wird. Das Kanzleramt verlangt von den europäischen Krisenländern Strukturreformen, gepaart mit einer strikten Sparpolitik. Dagegen fordert der Elysée-Palast eine flexiblere Auslegung des europäischen Stabilitätspaktes, um die Wirtschaft anzukurbeln und Reformen sollten vielleicht später folgen. Bislang hielten sich in der EU die Anhänger beider Lager die Waage. Doch zuletzt gewann Paris unerwartete Verbündete. Zu den Befürwortern einer neuen Politik gehören nicht nur Hollande und der energische italienische Ministerpräsident Matteo Renzi. Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker möchte die Regeln des Stabilitätspaktes ebenfalls so flexibel wie möglich auslegen. Die USA und der internationale Währungsfonds äußern sich ähnlich. Beim Treffen der Nobelpreisträger in Lindau am Bodensee kritisierten die anwesenden Wirtschaftswissenschaftler einhellig Merkels Rezepte. Dem Kontinent drohe eine dauerhafte Wachstumsschwäche, wenn die Defizitregeln so streng gehandhabt würden. Angesichts der gegenwärtigen Teuerungsrate von 0,4 Prozent warnen einige vor Deflation also dauerhaft sinkenden Preisen. Die größten Pessimisten befürchten gar, dass die Eurokrise wiederkehren könne. Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble sind dagegen überzeugt, dass der Euroraum davon weit entfernt ist. Sie wollen am bisherigen Kurs festhalten und sehen zugleich besorgt, wie überall bisherige Gewissheiten ins Wanken kommen: Die Bundesbank plädiert für höhere Löhne, die Europäische Zentralbank (EZB) für Investitionsprogramme. Besonders beunruhigt ist die Bundes - regierung über die Haltung von EZB-Chef Mario Draghi. Der Italiener hatte kürzlich eine Rede vor Geldpolitikern aus aller Welt im amerikanischen Jackson Hole gehalten unter den Gästen war auch Janet Yellen, Chefin der amerikanischen Notenbank Fed. Zum Erstaunen seiner Zuhörer ermunterte Draghi die Regierungen der Eurozone, ihren Volkswirtschaften mit unterstützender Fiskalpolitik Schub zu verleihen. Das heißt: Schulden machen, um wachstumsfördernde Maßnahmen zu finanzieren, wie es auch Hollande fordert. Und so kam es vergangene Woche zu einem in jeder Hinsicht erstaunlichen Telefongespräch: Merkel griff zum Hörer, um Draghi zur Rede zu stellen. Gewöhnlich achten deutsche Kanzler und Finanzminister penibel darauf, sich nicht in Angelegenheiten der EZB einzumischen. Die Unabhängigkeit der Notenbank zählt zur deutscher Staatsräson. Was er damit gemeint habe, wollte Merkel am Telefon von Draghi wissen. Bedeute die Rede etwa eine Abkehr der EZB von der vereinbarten Sparpolitik? Dann stünde sie endgültig allein da. Der Italiener wand sich. Er verwies darauf, dass er in seiner Rede direkt im Anschluss weitere Strukturreformen in den schlingernden Ländern der Eurozone gefordert habe. Von einem Kurswechsel könne deshalb keine Rede sein. Um die aufgebrachten Deutschen zu besänftigen, rief Draghi anschließend auch noch Finanzminister Schäuble an. Wieder bestand seine Botschaft vor allem aus Abwiegeln. Offiziell will die Bundesregierung die Angelegenheit nicht kommentieren. Hinter vorgehaltener Hand geben sich Regierungsvertreter hemmungsloser. Wir ver- DER SPIEGEL 36 /

26 Partner Merkel, Hollande: Einfach zu viel Zeit verloren stehen Draghi nicht so, wie er derzeit verstanden wird, sagt einer. Sollte er aber tatsächlich Investitionsprogramme fordern, so wäre es falsch. Finanzminister Schäuble sprach sich am vergangenen Freitag in Paris öffentlich gegen eine Intervention der EZB aus. Auch an anderen Fronten kämpft das Kanzleramt gegen den Verlust der Deutungshoheit an: Über Wochen versuchte es, den Franzosen Pierre Moscovici im Amt des Währungskommissars zu verhindern der hatte als Finanzminister keinen einzigen EUkonformen Haushalt vorgelegt. Aber nach Informationen des SPIEGEL hat Berlin diesen Kampf aufgegeben, Merkel hat sich inzwischen damit abgefunden, dass Moscovici das Amt wohl bekommen wird. Allerdings soll ihm ein Aufpasser zur Seite gestellt werden. Juncker will einen haushaltspolitischen Hardliner aus dem Norden Europas zum Vizepräsidenten der Kommission ernennen. Dieser soll dem Währungskommissar vorgesetzt sein. Favorit für den Vizeposten ist der ehemalige finnische Premier Jyrki Katainen. Angela Merkels Kritiker werden zahlreicher sie selbst widerspricht deren Einschätzung der Lage jedoch fundamental. Wenn sie sich im Kanzleramt zu Gesprächen über die Lage in der Eurozone trifft, hat sie nicht selten eine kleine Mappe mit Grafiken und Tabellen dabei. Sie zeigen, dass sich seit geraumer Zeit wichtige Kennziffern von Krisenstaaten wie Portugal, Spanien oder Griechenland positiv entwickelt haben. Dann fährt die Kanzlerin mit dem Zeigefinger die bunten Linien für jedes Land entlang, die etwa bei Haushaltsdefizit und Lohnstückkosten fast immer in die richtige Richtung gehen. Nur bei Frankreich ist das anders. Wachstum null, Wettbewerbsfähigkeit schwindend, Arbeitslosigkeit steigend, Defizit seit Jahren über der Grenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Aus Sicht der Kanzlerin ist Frankreich heute das, was Deutschland vor gut zehn Jahren war: der kranke Mann Europas. Präsident Hollande hat bis auf eine bescheidene Reform des Arbeitsrechts bisher kaum etwas zustande gebracht. Die Umsetzung des bislang größten Vorhabens, die in diesem Jahr groß angekündigte Senkung der Lohnnebenkosten durch Sparmaßnahmen in Höhe von 50 Milliarden Euro, ist weiter ungewiss. Als Hollande vergangene Woche seine neue, reformfreundliche Regierung ernannte, zeigten Regierungsmitglieder und hohe Beamte in Berlin deshalb einhellig Respekt. Hollande riskiert etwas, endlich, sagt ein Minister im kleinen Kreis. Ein Kabinettsmitglied spricht von der letzten Chance, die Hollande hat. Doch selbst notorische Optimisten in Berlin sehen geringe Chancen auf einen raschen Kurswechsel. Denn im französi- Notenbanker Draghi, Yellen Abkehr von der vereinbarten Sparpolitik? schen Parlament verfügen die Sozialisten nur über eine Mehrheit von zwei Stimmen damit kann der linke Flügel umstrittene Vorhaben jederzeit boykottieren. Für Frankreich ist es nicht fünf vor zwölf, es ist zwölf, sagt der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum. Es gibt nicht wenige im Regierungslager, die Frankreichs Staatschef politisch regelrecht abgeschrieben haben. Es ist wahrscheinlich zu spät, Hollande hat einfach zu viel Zeit verloren, sagt ein hoher Regierungsbeamter. Besonders gut kommt in Berlin der neue Wirtschaftsminister Emmanuel Macron an: Er ist erst 36, war einst Rothschild-Banker und versuchte Hollande schon früher auf Reformkurs zu drängen. Macron war ein erklärter Gegner der berüchtigten 75-Prozent-Steuer auf Einkommen von über einer Million Euro, die Hollande im Wahlkampf versprach. Sein Land würde ein Kuba ohne Sonne, lästerte er damals. Im Kanzleramt kennt man Macron gut und schätzt ihn er hatte im Elysée als Wirtschaftsberater des Präsidenten gearbeitet. Doch auch er ist ein Kritiker der Berliner Fiskalpolitik. Gleichzeitig gilt Macron zwar als eindeutiger Anhänger von Strukturreformen. In einem Interview kurz vor seiner Ernennung vergangene Woche regte er eine Lockerung der 35-Stunden-Woche an und musste sich von Premier Valls deshalb prompt zurückpfeifen lassen. Doch zugleich hat Macron in Hintergrundgesprächen klargemacht, dass Deutschland zu viel Wert auf die Einhaltung der Defizitregeln lege. Das liegt daran, dass in Frankreich ein grundlegend anderes Verständnis von staatlicher Wirtschaftspolitik vorherrscht nicht nur bei der Linken, sondern auch bei Konservativen glaubt man an eine flexiblere Geldpolitik. Und dennoch verwundert die französische Dauerkritik: Denn anders als in Griechenland oder Spanien, die Hilfsprogramme in Anspruch nahmen, herrschte in Frankreich zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd so etwas wie Austerität seit 2008 hat keine Regierung die Defizitregeln eingehalten, das wird auch in diesem Jahr nicht der Fall sein und 2016 wohl ebenfalls nicht. Die Bundesregierung wird bald vor einem Dilemma stehen: Soll man ein EU- Verfahren gegen den wichtigsten Partner unterstützen und Hollande damit eine weitere Demütigung zufügen? Oder wäre es besser, die Regeln für Frankreich weiterhin großzügig zu interpretieren? Das würde aber den Vorwurf bestätigen, nur die kleineren Mitgliedsländer müssten sich an die Vorgaben halten. Im Auswärtigen Amt wird dafür plädiert, mit den Franzosen milde umzugehen. Die hohe Nervosität im Kanzleramt, die alles betrifft, was eine angebliche Abkehr vom FOTOS: MICHAELA REHLE / REUTERS (O.); DAVID STUBBS / REUTERS (U.) 26 DER SPIEGEL 36 / 2014

27 Deutschland Sparkurs angeht, ist wenig hilfreich, heißt es dort. Wir müssen den Franzosen Luft zum Atmen geben. Es sei undenkbar, dass das stolze Frankreich die vorgesehenen Geldstrafen akzeptieren würde. Andererseits weiß man auch in der Umgebung von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass die EU Paris einen eklatanten Verstoß gegen die Kriterien nicht einfach durchgehen lassen kann. Die französische Regierung hat unsere volle Unterstützung auf ihrem Reformweg verdient, sagt der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth. Sie steht jetzt unter großem Erfolgsdruck. Die europäischen Regeln gelten für alle Mitglied - staaten. Die Franzosen möchten die Regeln am liebsten für alle aufweichen um nicht allein dazustehen, aber auch aus Überzeugung. Der italienische Ministerpräsident Renzi hat mit Hollande gemeinsam den Vorschlag gemacht, sogenannte staatliche Zukunftsinvestitionen aus dem Defizit herauszurechnen. Aber auch die Deutschen suchen nach neuen Verbündeten. Bei den Verhandlungen zum EU-Haushalt für die kommenden Jahre machte die Bundesregierung mit Briten und Skandinaviern gemeinsame Sache, um die Ausgabenwünsche aus den südeuropäischen Staaten und aus Frankreich abzuwehren. Zugleich umgarnt Merkel die spanische Regierung, lobt demonstrativ deren Reformen und will den spanischen Wirtschaftsminister Luis de Guindos in das einflussreiche Amt des Eurogruppenchefs hieven. Die entscheidende Frage aus deutscher Sicht ist, ob es Frankreich und Italien mit den Strukturreformen wirklich ernst meinen. Denn nur damit könnten sie Merkel beeindrucken. Renzi hat zwar ein gewaltiges Reformprogramm angekündigt, das allerdings aus politischen Gründen bereits ins Stocken geraten ist. Die Franzosen haben ihrerseits bisher jedes Jahr Schulden gemacht und sämtliche Versprechen gebrochen dennoch verharren sie in politischer Lähmung. Der Teufelskreis, den François Hollande und seine Regierungen bisher nicht zu durchbrechen wagten, sieht so aus: Zwar beteuerten sie stets, eine seriöse Haushaltspolitik anzustreben. Weil die Wirtschaft seit Jahren kaum wächst, wollten sie aber nicht massiv bei den Ausgaben sparen um eine Rezession zu vermeiden. Zugleich wollten sie jedoch auch struk - turelle Reformen nur ganz behutsam angehen, um die sozialistische Basis nicht zu verschrecken was dann beschlossen wurde, reichte bei Weitem nicht aus, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die linken Wähler Hollandes waren trotzdem sauer: Es reichte, dass der Präsident sich verbal zu einer als neoliberal empfundenen Reform- und Sparpolitik bekannte, auch wenn er sie nicht umsetzte. So hat Hollande es geschafft, alle gleichermaßen zu enttäuschen: die einen mit seinen Ankündigungen, die anderen mit seiner Untätigkeit und alle gemeinsam mit der schlechten Figur, die er dabei machte. Nun ist er wieder bei der Forderung gelandet, mit der er seinen Wahlkampf bestritt. Er wolle Europa neu ausrichten, sagte er damals und verlangte ein Ende der Austerität. Damit verstimmte er Merkel so sehr, dass sie ein Treffen vor der Wahl verweigerte. Seither hat Hollande von ihr immer wieder das Gleiche verlangt und ist immer wieder damit abgeblitzt. Vielleicht hat er die ganze Zeit gehofft, dass am Ende derjenige recht bekommt, der sich oft genug wiederholt. Nikolaus Blome, Ralf Neukirch, Christian Reiermann, Mathieu von Rohr, Christoph Schult

28 Deutschland Das ist eine Identitätskrise Interview EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, 58, warnt vor deutscher Überheblichkeit und fordert mehr Zeit für die französischen Reformen. SPIEGEL: Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat die Regierung umgebildet und auf seinen Sparkurs verpflichtet. Kommt jetzt mit Jahren Verspätung die französische Variante einer Agenda 2010? Schulz: Warum verspätet? François Hol - lande hat schon vor längerer Zeit mit dem sogenannten Verantwortungspakt Reformen begonnen. Durch die jüngste Regierungsumbildung und die zentrale Rolle des Wirtschaftsministers Michel Sapin werden diese jetzt verstärkt. SPIEGEL: Warum hat Hollande so zaghaft begonnen? Schulz: Das hat er nicht. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme hat er zum Beispiel eine Steuerreform verkündet, die große Einkommen belastet. Das war keine Kleinigkeit, wie man an der Steuerflucht von Gérard Depardieu ins Ausland sehen konnte. SPIEGEL: Was Hollande und Sie Reformprogramm nennen, hat aber kaum Früchte getragen. Der Widerstand ist beträchtlich, die Kabinettsumbildung ist schon die zweite binnen weniger Monate. Schulz: Hollande hat eine Erblast zu bewältigen. Die Krise begann schließlich nicht mit seiner Regierungsübernahme. Deshalb wird es dauern, bis die Reformen um - gesetzt sind. Die deutsche Agenda 2010 war anfangs auch hoch umstritten, erst heute ernten wir die Früchte. Richtig ist allerdings, dass sich Reformen nicht in jedem Land auf die gleiche Art durchsetzen lassen. SPIEGEL: Warum ist es in Frankreich schwieriger? Schulz: Auf den ersten Blick ist es in Frankreich sogar leichter, denn das zentralistische System der Fünften Republik verleiht dem Präsidialamt, zumindest auf dem Papier, eine enorme Machtfülle. Aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Die französische Gesellschaft ist gespalten. Frankreich ist ein stark klientelistisch organisiertes Land. Es leidet, wie ich finde, sehr unter der Polarisierung in der Politik. Das lässt wenig Kompromisse zu. Wir haben in Deutschland den Vorteil, dass unser föderales System mit Bundestag und Bundesrat unterschiedliche politische Strömungen dazu zwingt, im Gesetzgebungsverfahren zusammenzuwirken. SPIEGEL: Gibt es neben den strukturellen auch psychologische Barrieren, die Reformen in Frankreich erschweren? Schulz: Der Blick der Franzosen auf sich selbst hat oft mit der Realität im Land 28 DER SPIEGEL 36 / 2014 nichts zu tun. Frankreich ist in der vergangenen Woche an die Märkte gegangen und hat negative Zinsen bekommen. SPIEGEL: Die Anleger verzichten mithin auf Zinsen und zahlen Frankreich stattdessen eine Prämie, weil sie ihr Geld dort für sehr sicher halten. Schulz: Man sieht also: Das Vertrauen der Investoren in das Land ist vorhanden, aber die Bürger sind trotzdem verunsichert. Ich nenne das eine Identitätskrise. SPIEGEL: Ein Minderwertigkeitskomplex? Schulz: Nein. Es hat sich in Frankreich eine Art Krisenrhetorik entwickelt, die so dramatisch daherkommt, dass die Leute ihr Man kann sich nicht einfach auf den Standpunkt stellen: Was wir gekonnt haben, muss dort auch gehen. glauben. Das ist nicht gerechtfertigt. Bislang hat Frankreich alle seine Krisen am Ende sehr gut gemeistert. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hat das Land in der Telekommunikationstechnologie Maßstäbe gesetzt. Auch wenn die Nukleartechnologie umstritten ist, war Frankreich in der Energieversorgung eines der führenden Länder. Oder denken Sie an die Entwicklung der Hochgeschwindigkeits - züge, da war Frankreich Pilotland. Das Potenzial, das dieses Land hat, ist ungeheuer groß. SPIEGEL: Haben Franzosen andere Erwartungen an den Staat und an die Politik als Deutsche? Schulz: Der Glaube an einen starken Staat findet sich in allen politischen Lagern Frankreichs. Aufgabe der Republik ist nach Meinung der allermeisten Franzosen der Schutz der Nation. Jedes auch nur scheinbare Abrücken von der Fürsorgepflicht des Staates kann sofort als Verrat an den Prinzipien der Nation denunziert werden. SPIEGEL: Warum fallen Proteste in Frankreich rabiater aus als in Deutschland? Schulz: In einem Land, das 1793 seinen König hingerichtet hat, herrscht eine gewisse Tradition der Unbotmäßigkeit. Über die Deutschen soll Lenin ja gesagt haben: Wenn sie einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie sich erst mal eine Bahnsteig - karte. Die Geschichte der französischen Nation der letzten 200 Jahre ist eine Geschichte von Revolten. Die Ablösung der Vierten Republik war ein Akt hart am Rande des Staatsstreichs. Radikale Strömungen, selbst wenn es nur kleine Gruppen sind, werden in Frankreich als legitim empfunden. SPIEGEL: Sind das nicht alles Ausreden? Mangelt es den französischen Politikern nicht einfach an Mut? Schulz: Wir müssen Reformen in Europa von Land zu Land unterschiedlich durchführen. Man kann sich nicht einfach auf den Standpunkt stellen: Was wir gekonnt haben, muss dort auch gehen. Aus deutscher Sicht muss man zunächst einmal das tun, was zwischen Freunden das Wichtigste ist: François Hollande vertrauen. Ihm sagen: Wir glauben dir, dass du diese Reformen durchführen willst, und wir sehen die Schwierigkeiten. SPIEGEL: Angesichts einer Rekordarbeits - losigkeit und eines Schuldenstands, der nicht sinken will, fällt es schwer, Hollande zu vertrauen. Schulz: Wenn in Berliner Amtsstuben, im Beraterstab von Regierungsmitgliedern, bei jeder Aktion, die von Paris angekündigt wird, sofort eine negative Kommentierung stattfindet, dann ist das nicht Kooperation, sondern Konfrontation. Das führt dazu, dass die Gegner von Hollande die Regierungspläne mit dem Hinweis attackieren, Berlin sei ja dagegen. Auch Deutschlands Reformen haben Zeit und Geld gekostet. Die Abwrackprämie und das Kurzarbeitergeld haben die deutschen Haushalte belastet und die Staatsverschuldung erhöht, aber wir sind dadurch sehr gut durch die Krise gekommen. Wenn jetzt Frankreich Instrumente beschließt, die Zeit und Geld kosten und das Land voran- FOTO: JEAN-SEBASTIEN EVRARD / AFP

29 Gewerkschaftsprotest in Paris: Radikale Strömungen werden als legitim empfunden FOTO: THOMAS SAMSON / AFP bringen, sollten wir Deutschen das unterstützen. Die Frage ist doch: Meint Hol - lande es ernst? Ich bin sicher, er meint es ernst. SPIEGEL: Können die Franzosen, bei allen Unterschieden, etwas aus den schröderschen Reformen lernen? Schulz: Von Gerhard Schröder kann man lernen, dass man manchmal den Willen und die Kraft haben muss, unpopuläre Reformen durchzusetzen. Aber man kann daraus auch lernen, dass ein Land manchmal mehr Zeit braucht. Schröder hat gesagt: Wenn ich mich gegen das Defizitverfahren der EU-Kommission nicht zur Wehr gesetzt hätte, wäre die Agenda 2010 gescheitert. Würde Frankreich zu dem Reformprogramm, das es jetzt durchführt, ein Defizitverfahren auferlegt, bei dem es zu weiteren milliardenschweren Kürzungen kommt, könnte es sein, dass das Reformprojekt am Widerstand im Volk und im Parlament scheitert. Damit ist niemandem gedient. Es geht um die Abwägung zwischen dem strikten Einhalten der Kriterien und einer notwendigen pragmatischen Flexibilität. Das ist eine Frage, die in Brüssel entschieden werden muss und nicht in nationalen Hauptstädten, wie manche es gern hätten. SPIEGEL: Unser Eindruck ist, dass Angela Merkel den französischen Präsidenten schon abgeschrieben hat. Schulz: Wir haben zugelassen, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit stark ideologisiert worden ist. Die parteipolitische Verortung des Regierungschefs des anderen Landes ist wichtiger geworden als der Regierungsauftrag. Man kann in Berlin nicht so tun, als habe die französische Geschichte erst 2012 begonnen. Nach dem Motto: Seitdem regiert eine bestimmte Partei, vorher gab es keine Probleme. Das ist so falsch wie die Aussage in Paris, dass alle Probleme auf Angela Merkel zurückzuführen seien. SPIEGEL: Es gilt also noch der Satz von Helmut Kohl, dass man die Trikolore stets dreimal grüßen sollte? Schulz: Einmal grüßen reicht. Die deutschfranzösischen Beziehungen waren immer sehr stark davon geprägt, dass Regierungschefs aus unterschiedlichen politischen Lagern sehr gut miteinander harmonierten. Sie stellten nicht ihre unterschiedliche politische Verortung in den Vordergrund, sondern die deutsch-französische Kooperation, das sollte immer das Leitmotiv sein. Wenn das deutsch-französische Tandem parteipolitisch instrumentalisiert wird, hat es Lasten zu tragen, die es nicht tragen kann. SPIEGEL: Das Kanzleramt setzt auf andere Verbündete. Selbst der EU-kritische britische Premier David Cameron ist auf Schloss Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung, herzlicher empfangen worden als Hollande seinerzeit in Merkels Wahlkreis auf Rügen. Schulz: Deutschland hat schon immer geschwankt zwischen Anglophilie und Frankophilie. Ich halte auch viel vom Weimarer Dreieck und der Einbindung Polens. Aber wenn die Europäische Union funktionieren soll, geht das nur über Deutschland und Frankreich. Zusammen erwirtschaften die beiden Ländern 50 Prozent des Bruttosozialprodukts der Eurozone. Und 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs darf man das mal sagen: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Imperativ für Europa. SPIEGEL: Mit welchen Gefühlen schauen die Franzosen auf Deutschland? Schulz: Ich habe den Urlaub in der Bretagne verbracht. Viele Franzosen sind beeindruckt vom wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands. Sie finden es toll, wie wir Deutschen in bestimmten Grundsatzfragen zusammenarbeiten, dass eine Große Koalition in Berlin möglich ist. Aber viele Franzosen sagen auch, dass sie Töne hören, die sie aus Deutschland lange nicht mehr gehört haben. Eine gewisse Selbstgefälligkeit der Deutschen mit dem Erreichten. Eine Tendenz, die eigenen Reformmodelle als idealtypisch für alle anderen zu erklären. SPIEGEL: Nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen? Schulz: Nach dem Fall der Mauer war die Angst vor einem wiedererstarkten Deutschland groß, damals entstand in der Mitte des Kontinents das größte und reichste Land der EU. 25 Jahre später ist Deutschland unbestritten die Führungsmacht in Europa, ökonomisch wie politisch. Das löst Ängste aus, das habe ich als deutscher Europapolitiker im Wahlkampf selbst erlebt. Deutschland sollte daher alles tun, um gar nicht erst den Verdacht zu erwecken, Hegemonialpolitik zu betreiben. Interview: Horand Knaup, Christoph Schult DER SPIEGEL 36 /

30 Horst, du musst mir glauben Parteien Der Streit um die Maut spaltet die Union. CDU-Landesverbände wollen der schwächelnden CSU eine Lektion erteilen, Finanzminister Schäuble arbeitet an einem Alternativkonzept. Als Horst Seehofer frühmorgens in die Küche seines Ferienhauses im idyllischen Altmühltal kommt, entdeckt er auf seinem BlackBerry eine Nachricht der Kanzlerin. Lieber Horst, können wir um 7.45 Uhr telefonieren? Seehofer macht sich erst mal einen Kaffee. Dann schaut er auf die Uhr. Viertel vor acht. Er greift zum Telefon. Anders als der bayerische Ministerpräsident ist die Kanzlerin in Berlin längst nicht mehr im Ferienmodus. Die Krise in der Ukraine, der IS-Terror im Irak, für den Tag der Kanzlerin reichen 24 Stunden derzeit nicht aus. Aber am vergangenen Donnerstagfrüh steht Krisenprävention im kleineren Maßstab an. Da will sie rasch dafür sorgen, dass beim CSU-Chef kein Argwohn aufkeimt. Immerhin geht es um dessen Lieblingsprojekt, die sogenannte Ausländermaut. Merkel, so berichtete die Bild-Zeitung am selben Morgen, hintertreibe die Mautpläne der CSU. Am Wochenende zuvor hatten die CDU-Landesverbände Baden- 30 DER SPIEGEL 36 / 2014 Württemberg und Nordrhein-Westfalen das Vorhaben von Verkehrsminister Alex - ander Dobrindt (CSU) scharf attackiert. Nun sah es so aus, als hätte Merkel die Angriffe bestellt. Horst, du musst mir glauben, sagt Merkel, da ist nichts dran. Bei der Maut, das zeigt das Telefonat zur Morgenstunde, geht es längst nicht mehr nur um die Frage, ob Ausländer künftig auf deutschen Straßen eine Abgabe zahlen müssen. Es geht auch um die Einheit der Unionsparteien. Ausgerechnet um die Maut entbrennt der erste tiefe Streit seit der Bundestagswahl. Der massive Widerstand der Schwesterpartei zeigt vor allem, wie schwach die CSU in Berlin inzwischen ist und wie wenig Respekt die CDU deren Ministern noch entgegenbringt. Inzwischen ist es so weit, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, ein glühender Europäer, heimlich ein weitreichendes Alternativkonzept zu den CSU-Plänen erarbeiten lässt. Danach würde Dobrindts Ausländermaut womöglich überflüssig. Die Autorität von CSU-Chef Seehofer steht auf dem Spiel. Gerade weil die CSU- Ministerriege in der Hauptstadt so glanzlos auftritt, braucht er die Maut, um zu beweisen, dass er in Berlin nicht alle Durchschlagskraft eingebüßt hat. Deshalb appelliert Seehofer sogar an die Koalitionstreue der Kanzlerin. Die CSU hat sich bei vielen Dingen, die für sie schwierig waren, koalitionstreu verhalten, sagt er. Ich erwarte jetzt, dass die CDU-Spitze sich genauso verhält. Was aber will Merkel? Der Unmut über Dobrindts Pläne reicht inzwischen bis weit in die Unions-Bundestagsfraktion. Den einstimmigen Beschluss, mit dem die 63 Parlamentarier starke NRW-Landesgruppe das Mautkonzept am vergangenen Mittwoch ablehnte, trugen auch mehrere Parlamentarische Staatssekretäre und Bundestagspräsident Norbert Lammert mit. Zuvor hatten die CDU-Bundestagsabgeordneten aus NRW im Kanzleramt nach einer Antwort gesucht. Doch die Kanzlerin FOTO: ANDREAS GEBERT / PICTURE-ALLIANCE / DPA

31 Seehofer beim CSU-Parteitag im Juli 2013 Deutschland sprach beim Mittagessen nicht über die Maut, sie hatte anderes um die Ohren, den IS-Terror im Irak, die Krise um die Ukraine. Fünf Minuten vor Ende der Sitzung fragte sie unschuldig: Gibt es noch ein Thema? Maut!, rief jemand in die Runde. Darüber redet ihr ja gleich noch in der Landesgruppe, wiegelte Merkel ab. Merkel nervt die Verbissenheit, mit der selbst sonst eher besonnene CDU-Topleute das Thema beackern. Peter, wir kennen deine Meinung, fuhr sie im Parteivorstand ihrem Vertrauten, NRW-Landesgruppenchef Peter Hintze, über den Mund. Der hatte zuvor den Widerstand der NRW- CDU gegen die Maut mitorganisiert. Ein Anruf Merkels, und der treue Hintze würde seine Attacken einstellen. Doch diese Ansage kam bisher nicht. Merkel war noch nie Fan einer Maut. Und sie nimmt es ernst, wenn ihr Armin Laschet, der Chef der NRW-CDU, beim Abendessen von den Sorgen der Wirtschaft in den Grenzregionen berichtet. Im Kanzleramt schrumpfen ihre Leute das Mautvorhaben schon auf Witzformat. Die Maut kommt, aber nur für Modellautos, scherzt einer in Anspielung auf die Affäre von Seehofers Staatskanzleichefin Christine Haderthauer. Zum Glück Seehofers will Merkel derzeit nur eines noch weniger als eine Maut Krach mit der CSU. Damit folgt ausgerechnet Merkel einer alten Doktrin Helmut Kohls: Frieden mit der CSU ist immer wichtig, egal mit welchem Unsinn die Bayern ankommen. Merkel will die CSU nicht reizen, sie weiß, dass das Selbstvertrauen von Seehofers Berliner Truppe ziemlich ramponiert ist. Das beginnt schon damit, dass die CSU kein Kernressort mehr führt, seit Merkel Seehofer bei den Koalitionsverhandlungen das Innenministerium entzog. Sicher, ein gutes Straßennetz ist wichtig und auch Flüchtlingshilfe in Afrika steht einem reichen Land wie Deutschland gut an. Dass sich ein Christsozialer um die Bauern kümmert, muss auch kein Fehler sein. Doch der Eindruck setzt sich fest: Während sich die CDU-Kanzlerin und der SPD-Außenminister um Fragen von Krieg und Frieden kümmern, bleibt der CSU der Bundesverkehrwegeplan und eben die Maut. Inzwischen behandelt die CDU ihre Schwesterpartei mit kaum verhohlener Herablassung. Wenn es um wirklich wichtige Fragen geht, Waffenlieferungen an die Kurden etwa, will man sie lieber gar nicht dabeihaben. Als sich Merkel in der vorvergangenen Woche unter anderen mit den Ministern für Äußeres und Verteidigung zur entscheidenden Besprechung über die geplante Lieferung traf, wollte auch Entwicklungshilfeminister Gerd Müller dazustoßen. Doch die Kanzerlin beschied ihm knapp, dass er nicht eingeladen sei. Seehofer schäumte und beraumte aus seinem Feriendomizil heraus eine Schaltkonferenz der Parteispitze ein. Doch trotz aller Empörung entschlossen sich die CSU- Granden, Merkels Affront nicht an die große Glocke zu hängen: Schließlich würde sonst allzu offensichtlich, dass die Christsozialen in der Berliner Koalition nur noch in der zweiten Reihe spielen. Während SPD-Chef Sigmar Gabriel sein Wirtschaftsministerium zu einem Nebenkanzleramt ausgebaut hat, gibt es in der CSU niemanden mit Überblick über das gesamte Regierungsgeschehen. Zwar hat sich Verkehrsminister Dobrindt selbst auf den Posten des Koordinators gehoben und die Schulterklappen des Generalsekretärs wieder angelegt (SPIEGEL 23/2014). Doch seine sogenannte Koordinierungsrunde tagt nur unregelmäßig. Seehofer beobachtet beunruhigt, wie seine Berliner Truppen wanken. Zumal der CSU-Chef ahnt, dass im Kräftemessen in Sachen Maut sein eigentlicher Gegner noch gar nicht aus der Deckung gekommen ist. Genau nimmt er zur Kenntnis, wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in Interviews gegen die Maut stichelt. Es ist kein Geheimnis, dass dem überzeugten Europäer Schäuble die ganze europafeindliche Richtung der Ausländermaut nicht passt. Er hätte so einen Auftrag als Minister nicht angenommen, ließ er kürzlich Mitarbeiter wissen. Um so schlimmer für die CSU, dass Schäuble bei der Umsetzung des Mautkonzepts eine Schlüsselstellung hat. Will Dobrindt das Versprechen des Koalitionsvertrags halten und deutsche Autofahrer trotz Maut nicht stärker zur Kasse bitten, muss die Kfz-Steuer sinken Terrain des Finanzministers. Doch Schäuble denkt, wie üblich, in viel größeren Zusammenhängen. Er hält sich nicht mit Dobrindts Plänen auf. Stattdessen ist er dabei, ein eigenes Modell zu entwerfen, um mehr privates Kapital für den Straßenbau zu mobilisieren. Eine Straßennutzungsgebühr könnte dabei helfen. Schon heute funktioniert der Deal so: Private Firmen bauen im Rahmen einer sogenannten Public-Private-Partnership auf eigene Kosten eine Autobahn aus wie etwa zwischen München und Augsburg. Im Gegenzug bekommen sie die Einnahmen aus der Lkw- Maut für Jahre abgetreten daraus ergibt sich die Rendite für die Unternehmen. Dieses Modell, so die Idee, ließe sich gewaltig ausweiten, wenn künftig nicht nur Lkw zur Kasse gebeten würden, sondern alle Nutzer der Autobahnen, egal ob Deutsche oder Ausländer. Nur so, davon ist Schäuble überzeugt, könne man die riesigen Investitionslücken im deutschen Straßennetz schließen. Zwar lassen sich diese Überlegungen frühestens in der nächsten Wahlperiode umsetzen, weil der Koalitionsvertrag derzeit eine stärkere Belastung deutscher Autofahrer ausschließt. Dennoch, so gibt sich Schäuble gegenüber Mitarbeitern überzeugt, mache sein Plan Dobrindts Maut obsolet. Bereits bei den anstehenden Gesprächen über die Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern will Schäuble seine Idee einbringen. Seehofer gibt sich keiner Illusion da - rüber hin, dass die entscheidenden Aus - einandersetzungen noch ausstehen. Zum Glück, so erzählte er am vergangenen Mittwochabend auf der Wahlkampfbühne im sächsischen Plauen, habe er aber im Urlaub ein Mittel gefunden, um seine Schlagkraft im Berliner Politikpoker zu erhöhen. Um den Hügel zu seinem Ferienhaus leichter zu erklimmen, habe er sich kürzlich ein Elektrofahrrad zugelegt. Das helfe auch in Berlin. Denn wenn man gegen Berlin fährt, flachste Seehofer, hat man sowieso immer Gegenwind. Melanie Amann, Peter Müller, Christian Reiermann DER SPIEGEL 36 /

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34 Deutschland Alchemie im Kanzleramt Kabinett Eine Arbeitsgruppe der Regierung entwickelt Psychotricks, um die Bürger zu lenken. Ist das Verfahren die bessere Regulierung oder eine besonders hinterhältige Form der Gängelei? Im sechsten Stock des Bundeskanzleramts, eine Etage unter Angela Merkels Büro, trifft sich seit einigen Monaten eine kleine Runde aus Spitzenbeamten und Wissenschaftlern; sie hat den rätselhaften Namen Projektgruppe Wirksam Regieren. Eva Christiansen, Chefin des Merkel-Stabs für Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben, hat alle Ministerien um Zuarbeit gebeten. Experten von außerhalb unterstützen das Team: Mal war ein Experimentalpsychologe aus London bei einer Sitzung zu Gast, mal ein Verhaltensforscher aus Brüssel. Demnächst sollen noch drei Referenten hinzustoßen, die sich, so die Stellenausschreibung, durch hervorragende psychologische, soziologische oder anthropologische Kenntnisse auszeichen müssen. Experimentalpsychologie? Anthropologische Kenntnisse? Langgediente Regierungsbeamte wundern sich: Was soll die Alchemie im Kanzleramt? Die Runde geht einem delikaten Auftrag nach. Sie will herausfinden, wie der Bürger tickt, welche Macken er hat und mit welchen psychologischen Kniffen es der Regierung gelingen könnte, ihn zu beeinflussen, ohne scharfe Instrumente wie Verbote und Vorordnungen einzusetzen. Die Teilnehmer des Projekts sind fasziniert von der Idee, sich die jüngsten Erkenntnisse der Verhaltensforschung für ihre politischen Ziele zunutze zu machen. Als Vorbild dient das Behavioural Insights Team der britischen Regierung, eine Beratereinheit, der es in Pilotprojekten gelungen ist, beispielsweise die Bereitschaft der Briten zur Organspende zu verbessern. Premierminister David Cameron nennt sie stolz seine Nudge Unit, auf Deutsch: Anstups-Einheit. In den nächsten Wochen will die Kanzleramtsrunde entscheiden, welche konkreten Projekte sie sich vornimmt. Das Justizministerium möchte gern seine Verbraucherinformationen so überarbeiten, dass mehr Bürger als bislang darauf zugreifen. Das Bundesgesundheitsministerium regt an, sich um das Thema Impfschutz zu kümmern. Vor allem Erwachsene sollen dazu gebracht werden, sich piksen zu lassen aber ohne gesetzlichen Zwang. Braucht es dazu ein neues Bonussystem bei der Krankenversicherung? Reicht eine Kampagne? Vom Autor erscheint am 29. September ein SPIEGEL- Buch bei DVA: Total beschränkt. Wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt. 304 Seiten; 19,99 Euro. 34 DER SPIEGEL 36 / 2014 Auch das Finanz- und das Innenministerium haben Vorschläge gemacht. Für die Regierung eines Landes, in dem selbst die Feuerfestigkeit von Unterhosen per Gesetz normiert wird, klingen die Pläne der Kanzleramtsrunde revolutionär: Regulierung ist out, es lebe die sanfte Manipulation? Doch während in den Papieren der Projekt - gruppe bereits von kreativen Prozessen, neuen politischen Lösungsansätzen und verhaltenswissenschaftlicher Evidenz geschwärmt wird, dürften viele Wähler zumindest überrascht sein zu erfahren, dass die Regierung jetzt mit Psychotricks arbeiten will, um ihre Ziele zu erreichen. Eine Grundsatzdebatte ist nötig: Werden die Bürger als Versuchskaninchen missbraucht? Wie soll die Anstupserei funktionieren? Das Geheimnis der Toilettenfliege Ende der Neunzigerjahre klebte auf der Herrentoilette am Flughafen Schiphol in Amsterdam plötzlich das Bild einer Fliege im Urinal. Ein Manager glaubte, dass es die Trefferquote der Männer erhöht, wenn man ihnen ein Ziel gibt. Und tatsächlich: An den Urinalen ging bis zu 80 Prozent weniger daneben, die Putzleute freuten sich, die Reinigungskosten sanken. Überall auf der Welt werden Männer auf der Toilette seither aufgefordert, Bilder zu treffen, Bälle zu bewegen oder in Tore zu zielen. Raucherhinweis, WC-Fliege Stups in die erwünschte Richtung Die Toilettenfliege wurde zum Symbol eines neuen, sanften Paternalismus, dem Nudging. Psychologen, Ökonomen, Poli - tikwissenschaftler und Hirnforscher denken über Möglichkeiten nach, den Bürger sanft in die gewünschte Richtung zu schubsen. Mal sollen Kantinenbesucher durch geschickte Platzierung der Lebensmittel verführt werden, statt Pommes mehr Gemüsesticks zu essen. Mal werden Drucker und Kopierer jetzt so voreingestellt, dass automatisch Vor- und Rückseite bedruckt werden, um Papier zu sparen. In den USA zahlen manche Unternehmen ihren Beschäftigten das Gehalt nicht einmal im Monat aus, sondern alle 14 Tage. In zwei Kalendermonaten gibt es dadurch nicht zwei, sondern drei Zahltage. Einige Beschäftigte legen diesen dritten Scheck für die Altersvorsorge zurück und gehen dadurch insgesamt vorsichtiger mit ihrem Geld um. Kalifornische Kommunen testeten eine Energiesparaktion, bei der die Bewohner informiert wurden, wie viel Strom sie im Vergleich zu den Nachbarn verbrauchen. Sparsame Haushalte bekamen einen Brief mit einem Smiley-Logo ganz wie in der Grundschule, als man für gute Mitarbeit mit Glanzbildchen und Fleißbienchen belohnt wurde. Die Grundschulpädagogik funktionierte auch hier: In einigen Nachbarschaften kam ein Wettlauf um den niedrigsten Stromverbrauch in Gang. Dänische Wissenschaftler vom Netzwerk inudgeyou halfen dabei, einen Konflikt zwischen Rauchern und Nichtrauchern am Flughafen von Kopenhagen zu entschärfen. Im Flughafengebäude gilt striktes Rauchverbot. Umso größer war das Gedrängel vor den Eingängen, wo sich täglich Hunderte Raucher zwischen Checkin und Abflug noch schnell eine Zigarette anzündeten. Am Flughafen wurden deshalb zunächst weitere Verbotsschilder aufgestellt. Auch direkt vor den Eingängen sollte nicht mehr gequalmt werden; die dort platzierten Aschenbecher wurden entfernt und stattdessen Verbotszeichen auf den Boden geklebt. Doch der Erfolg war gleich null. Die Raucher hielten sich nicht an das Verbot. Weil es keine Aschenbecher mehr gab, lagen noch mehr Kippen auf dem Boden. Die Nudging-Experten schlugen deshalb einen anderen Weg ein: Sie ersetzten die Rauchen-verboten-Schilder durch Hinweise, wo Rauchen erlaubt ist. Bereits im Flughafenterminal weisen jetzt blaue Fußbodenmarkierungen den Weg nach draußen FOTO: ALAMY / MAURITIUS IMAGES (U.)

35 Noch günstiger fiel das Ergebnis aus, als die Nudge Unit das Unterschriftenfeld und eine Ehrenerklärung ( Ich erkläre, dass ich dieses Formular vollständig und nach bestem Wissen wahrheitsgemäß ausfüllen werde ) vom Ende des Steuerformulars an dessen Anfang verlegte. Es wurde weniger gelogen. In einem Jahr kamen durch diese und andere Maßnahmen der Nudge Unit zusätzlich 200 Millionen Pfund herein. FOTO: HC PLAMBECK Merkel-Beraterin Christiansen: Sanfter Paternalismus zur nächsten Raucherzone. Diese liegt etwa zehn Meter vom Eingang entfernt und ist durch eine weitere Bodenmarkierung und orangefarbene Aschenbecher gut zu erkennen. Die Zahl der Raucher vor der Eingangstür hat sich dadurch schlag - artig etwa halbiert, ebenso die Zahl der Kippen auf dem Boden. Ein Psychologe im Kanzleramt Die Gurus der Bewegung sind zwei amerikanische Professoren, Richard Thaler und Cass Sunstein, deren 2008 veröffentlichtes Buch Nudge (deutscher Untertitel: Wie man kluge Entscheidungen anstößt ) in den USA und Großbritannien eine breite Regulierungsdebatte auslöste. Thaler und Sunstein glauben, den perfekten Mittelweg zwischen Regulierung und Laisser-faire, Verbot und Libertinage, Plan und Markt gefunden zu haben. Wir sind nicht für mehr staat - liche Vorgaben, sondern für bessere, sagt Sunstein. US-Präsident Barack Obama jedenfalls war so begeistert von dem Konzept, dass er Sunstein zum Chef einer Regulierungsbehörde im Weißen Haus ernannte. Koautor Thaler half, die Nudge Unit von Premier Cameron in London aufzubauen. In Deutschland reagierte die Politik zunächst reservierter auf die Vorschläge der Professoren. Als Sunstein im Sommer vergangenen Jahres Deutschland besuchte, traf er sich zwar mit Abgeordneten des Bundestags sowie mit dem damaligen Bundesumweltminister und heutigen Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU). Es ging um die Frage, welche Nudges die deutsche Politik den Bürgern verpassen könnte, um die Energiewende zu beschleunigen. Doch das Treffen verlief enttäuschend. Sunstein, der auf Detailfragen zum Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht vorbereitet war, hielt eine 30 Minuten lange Standardrede. Altmaier wirkte nicht inspiriert. Merkels Vertraute Eva Christiansen allerdings reiste damals nach London, um sich über die Arbeit der britischen Nudge Unit zu informieren. Und auch bei der SPD war man dem Geheimnis der Toilettenfliege auf der Spur. Oliver Schmolke, inzwischen Chef der Planungsabteilung von Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel, machte führende Genossen auf das Thema aufmerksam. Nach der Bundestagswahl tauchte das Thema dann unter dem Stichwort Wirksam und vorausschauend regieren auf Seite 105 des Koalitionsvertrags auf. Im März lud das Kanzleramt den Psychologen David Halpern, Chef der britischen Nudge Unit, ein, von seinen Erfahrungen zu berichten. Dessen Auftritt hinterließ bleibenden Eindruck; so machte er Vorschläge, wie sich die Steuermoral heben ließe. In Großbritannien ist es üblich, dass Kleinunternehmer und Freiberufler selbst schätzen, wie viele Steuern sie dem Staat über - weisen müssen. Verpassen sie den Termin, bekommen sie ein standardisiertes Mahnschreiben. Die Nudge Unit veränderte den Wortlaut des Schreibens. Sie teilte den Betroffenen mit, dass die meisten anderen Menschen in ihrer Gemeinde die Steuern pünktlich bezahlt hätten. Auf diese Weise, so vermuteten die Wissenschaftler, werde Gruppendruck ausgeübt. Und tatsächlich beeilten sich viele Betroffene, ihre Steuerschuld zu begleichen. Die Zahlungsmoral verbesserte sich um 15 Prozent. Stupser oder Rempler? Die Verfechter des sanften Paternalismus nehmen für sich in Anspruch, den Willen des Bürgers zu respektieren. Niemand werde gezwungen, dem Stupser Folge zu leisten, abweichendes Verhalten werde nicht bestraft. Sie sprechen von libertärem Paternalismus. In gewisser Weise ähneln sie einer etwas strengen, aber lebenserfahrenen Tante, die ihrem Patenkind zum Geburtstag lange Unterhosen und ein gutes Buch schenkt. Liberale Kritiker hingegen halten Nudging für eine besonders hinterhältige Form des bevormundenden Staates. Der Bürger merke nicht einmal mehr, dass er entmündigt werde. Zudem schlage sich auch der sanfte Paternalist mit den typischen Problemen jeder staatlichen Verhaltenslenkung herum, in der aus Anreizen schnell Fehlanreize werden. Und was passiert, wenn sich herausstellt, dass der Stupser nicht ausreicht, um den Bürger in die gewünschte Richtung zu manövrieren? Wird der sanfte Paternalist nur ein beleidigtes Gesicht machen wie die Tante, die beim nächsten Besuch feststellt, dass ihr Patenkind die langen Unterhosen noch nie getragen hat? Oder wird dann aus dem Stups ein rüder Rempler? In der bislang dogmatisch geführten Diskussion um Nudging treffen glühende Fans auf erbitterte Gegner. Doch die Debatte greift zu kurz. Die Forschung der Verhaltensökonomen steht erst am Anfang. Sie könne nur einer von mehreren Pfeilern der Politikberatung sein, sagt der Kölner Ökonom Axel Ockenfels. Es wäre dumm, die Verhaltensökonomie zu ignorieren, denn sie könnte die Politikberatung verbessern, so der Magdeburger Wirtschaftswissenschaftler Joachim Weimann. Sorgsam ausgewählte Nudges sind eine Alternative zu einer harten Verbots- und Regulierungspolitik. Sie greifen weniger in die Freiheitsrechte der Bürger ein. Nudges verursachen keine hohen Kosten und kommen ohne Gesetzgebungsverfahren aus. Und sollte sich herausstellen, dass ein Nudge nicht so funktioniert, wie die Politik es sich vorgestellt hat, lässt er sich leicht korrigieren, nach dem Motto: Es gibt keinen guten Paternalismus, aber vielleicht einen besseren. Alexander Neubacher DER SPIEGEL 36 /

36 Deutschland Bizarre Situation Hauptstadt Der Rückzug des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit eröffnet den Kampf ums Rote Rathaus und offenbart das Elend der Berliner SPD. Zumindest ein Gewinner steht nach dem angekündigten Rückzug von Klaus Wowereit aus dem Roten Rathaus fest: Klaus Wowereit. Am Tag eins nach seinem Versprechen, zum Jahresende aufzuhören, flaniert er abends bei bester Laune über ein Grillfest von Szenekünstlern in Berlin-Marzahn und langt kräftig zu bei Speis und Trank. Befreit vom Ballast der Verantwortung, lässt er seiner berüchtigten und in der Hauptstadt beliebten Berliner Schnauze freien Lauf: Mit drei Bier und einer Caipirinha im Blut holt er sich noch eine Bratwurst mit Senf und lässt den verdutzten Verkäufer stehen: Das bezahlt jetzt die SPD. Der Preis für Wowereits Rückzug könnte für die Hauptstadt-Genossen allerdings sehr hoch werden. Der chaotische Kampf um die Nachfolge offenbart das ganze Elend der Berliner SPD. Das schwere Erbe inklusive Flughafendebakel ist nicht ge regelt. Wowereit hat den Staffelstab nicht übergeben, sondern in die Luft geworfen und gleich drei Kandidaten strecken sich danach: Fraktionschef Raed Saleh, 37, der Landesvorsitzende Jan Stöß, 41, und der Senator für Stadtentwicklung Michael Müller, 49. Da die SPD seit Monaten im Umfragetief hängt, der davon profitierenden CDU aber ein anderer Partner fehlt, scheut die Große Koalition Neuwahlen. Bis 2016 will sie mit einem Ersatzbürgermeister durch - regieren. Das führt zu der bizarren Situation, dass in der Millionenmetropole nun nur die rund Mitglieder der SPD mittels Basisbefragung darüber befinden sollen, wer Wowereit im Winter ablöst. Das Rote Rathaus als Erbhof; um das einst stolze Amt des Regierenden Bürgermeisters, das mal Männer wie Ernst Reuter, Willy Brandt und Richard von Weizsäcker ausfüllten, feilschen nun wochenlang mindestens drei von der SPD- Zankstelle, bis einer übrig bleibt: drei, zwei, eins, meins. Als aussichtsreicher Kandidat gilt Senator Müller aufgrund seiner großen Erfahrung: Er war lange Landes- und Fraktionsvorsitzender, bis Saleh und Stöß ihn gemeinsam stürzten. Mit dem wichtigen Bauressort besetzt der geborene Berliner eine Schlüsselposition in der Exekutive. Als sein größtes Manko gelten das fehlende Charisma und die ewige Treue zu Wowereit. Dahinter rangeln die Newcomer Stöß und Saleh. Das Einzige, was sie verbindet, ist ihr großes Selbstvertrauen und dass sie ziemlich unbekannt sind. Jurist Stöß hat sich frühzeitig von Wowereit abgesetzt, die Landespartei klar vom Se - Stadtoberhaupt Wowereit Genossen Stöß, Müller Ohne externe Hilfe nat abgegrenzt und setzt mit linkem Kurs auf die Unter - stützung der SPD-Funktionärs - riege. Stöß ärgerte sich im Laufe der vergangenen Woche da - rüber, wie Parteichef Sigmar Gabriel sich in die Berliner Angelegenheiten eingemischt hat. Der hätte im Sommer am liebsten den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überredet, als Wowereit-Nachfolger zu kandidieren. Wir haben gute Kandidaten, die einen fairen Wettbewerb um die besten Ideen für Berlin austragen, sagt Stöß, wir werden einen ausgezeichneten Regierenden Bürgermeister stellen, auch ohne externe Hilfe und Hinweise. Mitreden will dabei aber auch noch Berlins zurzeit populärster Politiker, Finanzsenator Ulrich Nußbaum. Doch weil er kein Mitglied der SPD ist, kann er sich schlecht selbst einwechseln und klagt: Mich hat bisher keiner gefragt. Die Kandidatenliste jedenfalls sollte bis Montag dieser Woche offen bleiben. Egal, wer es wird, der Neue braucht ein dickes Fell (Wowereit), und ihm bleiben kaum zwei Jahre bis zur nächsten Wahl, um sich einen Namen zu machen. Und das möglichst über Berlin hinaus. Zwar spielt die Hauptstadt-SPD mit ihrer bescheidenen Mitgliederzahl keine große Rolle in der Bundes-SPD, auch sind die vier Berliner Stimmen im Bundesrat überschaubar. Bundeschef Gabriel treiben die Hauptstadt-Genossen dennoch Sorgenfalten auf die Stirn. Gabriel fürchtet ausgerechnet in der wichtigsten Stadt den Nimbus als Großstadt-Partei zu verlieren. Ende 2016 dann womöglich das Rote Rathaus räumen zu müssen wäre ein schlechter Start der SPD in das Bundestagswahljahr So nahm sich Gabriel kürzlich, noch vor Wowereits Verkündung, den Berliner Fraktionschef Saleh spontan zur Brust und blaffte ihn bei einem Wahlkampftermin in Brandenburg an: Was treibt ihr da eigentlich in Berlin? Was wollt ihr eigentlich machen, wenn Wowereit hinschmeißt? Sie machten das, was sie schon immer am besten konnten: gegeneinander ar - beiten. Nur einer sorgte sich vergangenen Mittwoch auf dem Grillfest nicht um die Zukunft, jedenfalls nicht um seine. Er könne ja Chef der Arbeitsgemeinschaft 60plus in der SPD werden: Dann habe ich, frotzelte Wowereit im Hinblick auf die überalterte Mitgliederstruktur der Partei, die Mehrheit wieder hinter mir. Markus Deggerich, Gordon Repinski, Andreas Wassermann FOTOS: SABETH STICKFORTH / IMAGO (O.); HAUKE-CHRISTIAN DITTRICH / DPA (M.); FABRIZIO BENSCH / REUTERS (U.) 36 DER SPIEGEL 36 / 2014

37 Aufstieg ist möglich Kandidaten Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh, 37, über den Kampf um die Nachfolge von Klaus Wowereit FOTO: WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL SPIEGEL: Herr Saleh, was ist Ihre früheste Erinnerung an Berlin? Saleh: Das Wort verboten. Ein Grenzpolizist rief es, als ich 1982 als Fünfjähriger aus dem Westjordanland am Flughafen ankam. Und dann weiß ich noch, wie mein Vater mich und meine Geschwister angeschaut hat und sagte: Das ist eure neue Heimat. Wir sind hier nicht nur vorübergehend. Also benehmt euch und denkt daran, dass ihr Botschafter unserer alten Heimat seid. SPIEGEL: Ihr Vater ist als Gastarbeiter gekommen? Saleh: Ja, aber er hat sich nie so gefühlt. Er hat sich sehr früh als Deutscher verstanden. Als er uns nachholte, hat er sofort Deutsch mit uns gesprochen. Wir sollten nicht glauben, dass wir hier auf gepackten Koffern säßen. Deshalb sind wir auch nicht in die Araberviertel von Neukölln gezogen, sondern an den Stadtrand. SPIEGEL: Früher sprach man von Ausländern, Gastarbeitern, dann von Zuwanderern, Migranten, Menschen mit Migrations - hintergrund. Welchen Begriff halten Sie für passend? Saleh: Ach, diese Schubladen spielten schon keine Rolle mehr, als ich noch klein war. Nicht das Anderssein, sondern das Gemeinsame hatte in meiner Familie Priorität. Und nur mal nebenbei: Ich habe mich schon als Jugendlicher fürs deutsche Liedgut eingesetzt als Mitbegründer eines Biene-Maja-Schlagerklubs. Damals lief ja alles auf Englisch. Da habe ich mir gedacht: Mensch, das ist doch schade, unsere Sprache kann so viel Emotion ausdrücken. SPIEGEL: Klaus Wowereit wurde durch den Spruch Ich bin schwul, und das ist auch gut so berühmt. Wie stellen Sie sich den Berlinern vor? Saleh: Auch wenn es langweiliger klingen mag: Ich bin deutscher Sozialdemokrat und habe zufällig einen Migrationshintergrund. SPIEGEL: Sie bewerben sich als Wowereits Nachfolger. Wenn Sie gewinnen, wären Sie in Deutschland der erste SPD-Minister - präsident mit diesem Profil. Saleh: Na und? Ich glaube, dass Aufstieg möglich ist. Für alle. Ich habe gekämpft, ich habe meinen Weg gesucht, und das war mit meiner Geschichte auch in einer großen Partei wie der SPD nicht immer einfach. SPIEGEL: Als Sie Fraktionschef wurden, spotteten Berliner Abgeordnete: Jetzt müssen wir auch noch den Gebetsteppich ausrollen. Dann gab es Karikaturen, die Ihre Frau in der Burka zeigten. Saleh: Er kann nicht mit Messer und Gabel essen, hieß es auch noch. Aber ich kann mich nicht beschweren. Andere arbeiten härter. Was machen denn Leute, die den ganzen Tag auf dem Bau schuften? Was macht eine alleinerziehende Mutter, die die Familie über die Runden bringen muss? Was machen denn die Leute, die sich Tag für Tag an die Kasse stellen, um ein paar Euro zu verdienen? Die kämpfen täglich hart, und für die setze ich mich ein. Ich möchte, dass die Leute Hoffnung haben hier in Berlin. Ich möchte, dass die jungen Berliner sagen können: Egal wo ich geboren, egal wo ich aufgewachsen bin hier kann ich meinen Weg machen. SPIEGEL: Vorigen Dienstag kündigte Wowereit überraschend seinen Rücktritt an. Keine zwei Stunden später haben Sie sich um seine Nachfolge beworben. Mehr Bedenkzeit brauchten Sie nicht? Saleh: Der Termin hat uns alle überrascht. Aber natürlich konnte man vorher schon mal über die Zukunft nachdenken. SPIEGEL: Da sind Sie nicht der Einzige. Ihre Partei ist zerstritten. Landesparteichef Jan Stöß kandidiert ebenfalls, und auch SPD- Bausenator Michael Müller möchte Regierender Bürgermeister werden. Wären Neuwahlen in dieser Lage nicht das Beste? Saleh: Das Abgeordnetenhaus ist bis 2016 gewählt. Wir haben ein Bundesland zu regieren, 3,4 Millionen Menschen. Deshalb müssen wir jetzt alles daransetzen, dass es stabil und kontinuierlich weitergeht. SPIEGEL: Aber mit wem? Nach einem wochenlangen Machtkampf wären Sie alle drei beschädigt. Saleh: Ich bin überzeugt davon, dass wir ein geeignetes Verfahren finden, um zügig einen neuen Regierenden Bürgermeister zu präsentieren. Machtwechsel mitten in der Legislaturperiode hat es auch in an - deren Bundesländern gegeben, ebenfalls ohne Neuwahlen. SPIEGEL: Erst haben Ihre Genossen monatelang an Wowereits Stuhl gesägt. Und jetzt können sie sich nicht mal auf einen Nachfolger verständigen. Saleh: Ich bin froh darüber, dass der Regierende Bürgermeister bei seiner Rücktrittsankündigung auch erwähnt hat, dass die Fraktion in den letzten Jahren loyal an seiner Seite stand. SPIEGEL: Anders als die Landespartei? Saleh: Das müssen andere beurteilen. Die Fraktion ist jedenfalls stabil, und die Ko - alition mit der CDU ist es auch. DER SPIEGEL 36 /

38 Deutschland SPIEGEL: Berlin ist zur Stadt der Großprojekte geworden, vom neuen Flughafen bis zur neuen Autobahn. Und jetzt soll es auch noch Olympische Spiele geben. Was würden Sie hinzufügen? Saleh: Mein Großprojekt soll werden, dass wir eine Stadt des Miteinanders hin - kriegen, eine sichere, weltoffene Stadt, die ihre Liberalität dadurch bewahrt, dass wir für unser Miteinander klare Regeln aufstellen. Neben den großen Vorhaben müssen wir uns viel stärker in die kleinteiligen Dinge hineinknien, in die Sorgen der Menschen. SPIEGEL: Wo würden Sie beginnen? Saleh: Im Kindergarten. Kitas müssen zu Bildungsstätten werden, und Kleinkinder sollten frühestmöglich dorthin. Damit sie zum Beispiel, wenn sie das zu Hause nicht können, rechtzeitig die deutsche Sprache lernen. Ich kann mir deshalb auch eine Kita-Pflicht gut vorstellen. Wichtig ist, dass wir unterm Strich mehr Verbindlichkeit herstellen. Das gilt natürlich überall, auch in der Schule. Wer schwänzt, dessen Eltern müssen ein Bußgeld zahlen. Das ist in Berlin heute schon Praxis, und in diese Richtung sollten wir weiterdenken. SPIEGEL: Das ist eigentlich nicht die Art von Integrationspolitik, die man aus Berlin kennt. Saleh: Wenn die Jungs aus Marzahn oder Neukölln auf der Straße abhängen, statt im Unterricht zu sitzen, dann haben wir ein Problem. Eine Gesellschaft, die wegschaut, versagt. Wir müssen uns im Inter - esse einer guten Integrationspolitik für die nächsten 10, 15 Jahre auf Spielregeln verlassen können. Deshalb haben wir schon einen Millionenbetrag für 200 Berliner Brennpunktschulen bereitgestellt. SPIEGEL: Das ist dann die gefühlt 23. Schulreform im SPD-regierten Berlin? Saleh: Wir brauchen keine weitere Reform. Allen dasselbe aufdrücken das funktioniert nicht mehr. Ich habe viele Problemschulen besucht, jede hat ihre eigenen Nöte. Die einen brauchen eine Psychologin, die anderen einen Anti-Gewalt-Trainer, jemand Drittes einen Sprachvermittler für rumänische Schüler oder einen Sozial arbeiter. Deshalb haben wir diesen Schulen jeweils bis zu Euro zur freien Verfügung eingeräumt. Die wissen selbst am besten, was sie damit machen müssen. SPIEGEL: Ihr Parteifreund Heinz Busch - kowsky beschreibt in Neukölln, wo er Bezirksbürgermeister ist, Parallelgesellschaften, in denen Kinder und Jugendliche mitunter ziemlich losgelöst von Staat und Gesellschaft aufwachsen. Hat er recht? Saleh: Es gibt tatsächlich Strukturen, die nicht akzeptabel sind. Ich möchte eine tolerante Stadt. Aber Toleranz kann man nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln. Ich glaube, dass wir in einigen Feldern eine neue Ernsthaftigkeit brauchen. SPIEGEL: In welchen? Saleh: Mich nervt zum Beispiel, dass immer wieder schnell von Polizeigewalt gesprochen wird, wenn es bei Demonstrationen irgendwelche Probleme gibt. Zu selten höre ich, dass die Polizei in Berlin unseren vollsten Respekt verdient. SPIEGEL: Ist in Berlin der Staat zu schwach? In Kreuzberg haben Flüchtlinge monatelang erst einen Platz und dann eine ehemalige Schule besetzt, es gab Gewalt und sogar einen Todesfall aber die Politik hielt sich sehr lange raus. Saleh: Es war eine wegschauende und keine hinschauende Integrationspolitik. Öffentliche Plätze sind für alle da, Sicherheit gilt für alle. Es war ein Fehler, die Besetzung des Oranienplatzes zu dulden. Damit Bildungsaktion mit Berliner Kindern: Ich kann mir eine Kita-Pflicht gut vorstellen hat man auch den übrigen Flüchtlingen, die hier auf Klärung ihrer Situation warten, keinen Gefallen getan. Der Staat muss sich durchsetzen, aber er braucht auch eine moderne, liberale Flüchtlingspolitik. SPIEGEL: Wie sähe die aus? Saleh: Ich möchte, dass die Residenzpflicht abgeschafft wird. Ich möchte, dass die Flüchtlingskinder sofort in die Kita oder in die Schule kommen und hier nicht einfach abhängen. Und ich möchte, dass ihre Eltern, während sie hier sind, eine Arbeit annehmen dürfen. SPIEGEL: Wie hoch ist Berlins aktueller Schuldenstand? Saleh: 63 Milliarden Euro. SPIEGEL: Und vielleicht werden es noch mehr, wenn irgendwann die Endrechnung für den Flughafen BER vorliegt. Welcher Gestaltungsspielraum bleibt da noch für den nächsten Regierenden Bürgermeister? Saleh: Im Moment sprudeln unsere Ein - nahmen. Ich habe einen Schuldentil - gungsfonds vorgeschlagen: Eine Hälfte der Überschüsse wird investiert, und mit der anderen bauen wir die Schulden ab. Aber gerade in schlechteren Jahren brauchen wir verlässliche Einnahmen. Deshalb bin ich froh, dass wir die Wasserwerke schon zurückgekauft haben und nun auch die Gas- und Stromnetze zurück - holen wollen. SPIEGEL: All das haben doch Ihre eigenen Parteifreunde vor nicht allzu langer Zeit selbst mitverkauft. Saleh: Das war ein großer historischer Fehler. Deswegen will ich neben der Schuldenbremse auch eine Privatisierungsbremse in der Landesverfassung verankern. Manchmal muss man ja Politiker vor ihren eigenen Entscheidungen schützen. Wasser, Strom, Gas, Nahverkehr und das Gesundheitswesen: Das alles gehört den Berlinern. Wenn man es verkaufen will, muss man sie vorher fragen. SPIEGEL: Vor fast 25 Jahren fiel die Mauer. Ist Berlin noch eine gespaltene Stadt? Saleh: Die Spaltung besteht nicht mehr zwischen Ost und West oder zwischen Deutschen und Migranten. Sie besteht zwischen Arm und Reich. Berlin ist eine tolle Stadt, die tollste in Europa. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass es gerecht zugeht in unserer Gesellschaft. Wenn uns das gelingt, können wir zum Vorbild, zum Integrationsmodell für andere internationale Metropolen werden. SPIEGEL: Im Moment sieht es allerdings so aus, als kämen Sie womöglich gar nicht zum Zug: Ihre Mitbewerber Jan Stöß und Michael Müller gelten als Favoriten. Saleh: Das bin ich gewöhnt. Mein ganzes Leben lang musste ich mich von unten nach oben arbeiten und andere erst mal überzeugen. Interview: Markus Deggerich, Frank Hornig FOTO: STEFFI LOOS / COMMONLENS / DDP IMAGES 38 DER SPIEGEL 36 / 2014

39 FOTO: HC PLAMBECK / LAIF Attacke sieht anders aus Familie Ein Gutachten kritisiert das Ehegattensplitting. Nun könnte die SPD dagegen vorgehen, aber der Parteichef bremst seine Genossen. Dieses Kribbeln im Bauch. Vergangenen Mittwoch steigt Holger Bonin die Treppen zum Pressesaal des Berliner Bundesfamilienministeriums hinauf, erfüllt von einem feierlichen Gefühl. Fünf Jahre lang hat der 45-jährige Ökonom vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung auf diesen Tag hingearbeitet. Tausende Tabellen hat Bonin ausgewertet, ganze Nächte lang durchgerechnet, in strapaziösen Sitzungen bei Filter - kaffee und Pappbrötchen diskutiert. Nun würde die Politik ihm endlich zuhören. Bonin ist einer der Hauptautoren der bislang aufwendigsten Untersuchung über die Wirksamkeit deutscher Familienpolitik. Gut 70 Forscher sollten klären, ob zentrale familienpolitische Leistungen, von Kindergeld bis Ehegattensplitting, im Wert von jährlich 153 Milliarden Euro überhaupt zielführend sind. Vergangene Woche durfte Bonin die Ergebnisse vorstellen, gemeinsam mit der neuen Ministerin Manuela Schwesig (SPD). Sein Team lobte das Elterngeld und den Kita-Ausbau. Kritik übten die Forscher dagegen am Ehegattensplitting, einem familienpolitischen Instrument im Geiste der Fünfzigerjahre. Das Verdikt der Forscher ist vernichtend: Das Splitting wirkt gegen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und trägt nicht zur wirtschaftlichen Stabilität von Haushalten bei. Bonin wünscht sich, dass seine Ergebnisse nun auch Wirkung zeigen: Ich hoffe, dass sich unsere Schlussfolgerungen politisch niederschlagen. Doch das wird so bald nicht geschehen, ganz sicher nicht im Fall des Ehegattensplittings. Nach fast fünf Jahren, Projektkosten von gut elf Millionen Euro und einem 425 Seiten starken Abschlussbericht plant die Bundesregierung hierzu: nichts. Zwar hat die Große Koalition nun schwarz auf weiß, dass der Steuervorteil für verheiratete Paare, von dem vor allem wohlhabende Einverdiener-Ehen profitieren, an Millionen Deutschen vorbeigeht. Dass sie Fehlanreize schafft und viele Familien mit Kindern nicht erreicht. Nur, wen kümmert s? Die SPD will den fiskalpolitischen Fehlgriff zwar seit Jahren beseitigen. Doch ausgerechnet jetzt, da sie wissenschaftliche Schützenhilfe bekommen, halten die Genossen still. Der Koalitionsfrieden mit der Union, die nichts von einer Abschaffung hält, ist wichtiger, da müssen Opfer gebracht werden. Gewiss, Schwesig warnt: An den Ergeb - nissen dieser Evaluation kommt keiner vorbei. Man werde sie innerhalb der Koalition diskutieren. Auch Sönke Rix, familienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, nennt den Bericht der Forscher eine gute Arbeitsgrundlage. Aber Attacke sieht anders aus. Schwesig gibt sich kooperativ, sie will einen zu schnellen Vorstoß und ein sofortiges Nein der Union verhindern. Ich Ministerin Schwesig Opfer für den Frieden möchte keinen ideologischen Kleinkrieg führen, sagt sie. Tatsächlich fehlt ihr für den Kampf gegen das Ehegattensplitting die innerparteiliche Rückendeckung. Obwohl sie stellvertretende Parteivorsitzende ist, gilt die Ministerin nicht als Schwer - gewicht in der Parteihierarchie. Um den absehbaren Widerstand von Finanzminister Wolfgang Schäuble beim Splitting aufzubrechen, brauchte Schwesig die Unterstützung von Parteichef Sigmar Gabriel. Aber genau der ist ihr Problem. Der Vizekanzler will keinen Streit in der Koalition. Wiederholt hat er die SPD- Kabinettskollegen angehalten, Konflikte mit der Union möglichst zu vermeiden. Sogar das CSU-Lieblingsprojekt der Autobahnmaut, das unter Sozialdemokraten für Kopfschütteln sorgt, muss von offener Kritik verschont bleiben. Jetzt wird erst einmal verlässlich und gut regiert, wie es Gabriel gern propagiert. So kann sich der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Marcus Weinberg, unbekümmert über den Expertenrat hinwegsetzen: Das Ehegattensplitting ersatzlos abzuschaffen wäre der falsche Weg. Es sei auch nur ein Instrument von vielen, und Familienpolitik dürfe ohnehin nicht zu stark von einer ökonomischen Sichtweise geprägt werden. Dabei hatte die CDU die Expertise der Ökonomen, die sie nun ignoriert, einst selbst bestellt, nämlich unter der dama - ligen Familienministerin Ursula von der Leyen. Viele Unionspolitiker hätten auch nichts mehr dagegen, das Ehegattensplitting zum Familiensplitting auszubauen, mit dieser Forderung hat die CDU sogar ihren letzten Bundestagswahlkampf bestritten. Wir müssen uns der Frage stellen, ob unser Steuerrecht noch der heutigen Lebenswirklichkeit entspricht, sagt Ralph Brinkhaus, Fraktionsvize für Finanzen. Aber die Reform hätte ihren Preis: jedes Jahr bis zu 32 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen, wie das Bundesfinanzministerium im April 2013 auf Anfrage der Grünen hin errechnete. Zu teuer. Im Moment hat die schwarze Null finanzpolitische Priorität, sagt Brinkhaus. Deshalb fällt die Reform des Ehegattensplittings aus. Stattdessen denkt die SPD verstärkt über Qualitätsverbesserungen bei den Erziehern nach und über ein einkommensbezogenes Kindergeld. Das sind Themen, für die Fachpolitiker Rix Verständigungsmöglichkeiten mit der Union sieht. Spätestens Ende 2016 dürfte die kollegiale Tonlage dann wieder schriller werden. Wenn wir beim Familiensplitting auch jetzt nicht weiterkommen, sagt Rix, im Wahlkampf wird das sicher ein Thema sein. Nicola Abé, Melanie Amann, Horand Knaup DER SPIEGEL 36 /

40 Ein Stigma, lebenslang Es gibt Momente, in denen wird Geschichte zur Gegenwart. Als Dorothea Buck ihre Bettdecke zurückschlägt, ist das so ein Moment. Vorsichtig tastet die 97-Jährige über ihren Bauch. Hier, sagt sie, da ist sie. Ihre Finger streichen über eine Narbe, knapp sechs Zentimeter lang: Ich war 19. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit mir gemacht haben. Horst S. war gerade mal zwölf Jahre alt, als Pfleger ihn festhielten und ein Arzt ein Messer in die Hand nahm. Weinend hatte ihn seine Mutter zuvor in der Potsdamer Klinik abgegeben. Ich habe sie noch getröstet. Dabei wusste ich nicht mal, worum es geht, sagt er. Der Blick des 93- Jährigen ist auf die geblümte Tischdecke vor ihm geheftet, die Lippen hat er fest zusammengepresst; er wirkt so verletzlich wie auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das ihn als Jungen zeigt. Zwei Menschen tauchen in ihre schmerzhaften Erinnerungen. Dorothea Seniorin Buck Zeitgeschichte Rund Menschen wurden im Dritten Reich zwangssterilisiert aber sie gelten rechtlich nicht als NS- Opfer. Aus mangelndem politischem Willen, urteilen Staatsrechtler. Buck im Norden Hamburgs, Horst S. im Süden Münchens. Sie sind einander nie begegnet, doch sie verbindet das gleiche Schicksal: Sie wurden im Dritten Reich zwangssterilisiert; verfolgt und gequält, weil sie als minderwertig und somit schädlich für den sogenannten Volkskörper galten. Rund Menschen erging es zwischen 1933 und 1945 wie Dorothea Buck und Horst S. Die meisten von ihnen sind inzwischen tot. Aber die Gräueltaten der Nazis wirken bis heute nach. Jedes Schulkind wird mit Hitlers Exzess der Gewalt konfrontiert; mit dem Leid, das er brachte, mit den Verbrechen, die der NS-Staat vor allem an Juden, aber auch an Ausländern, Andersgläubigen und Andersdenkenden beging. Viele Gruppen führt das Bundesentschädigungsgesetz als NS-Opfer auf. Jene Menschen, die gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht wurden, fallen indes nicht darunter. So sind auch Horst S. und Dorothea Buck bis heute rechtlich nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt. Seit Jahren fordern Opfervertreter, dieses Versäumnis nachzuholen. Sie haben eine Theorie, warum sie immer wieder abgeschmettert werden weil ansonsten weitere Gruppen Ansprüche anmelden könnten: die verfolgten Homosexuellen, Deserteure oder die einst als Asoziale Gebrandmarkten. Das Gesetz, das die Opfergruppen der NS-Diktatur benennt, sei nun mal 1969 geschlossen worden, erklären Politiker, und zwar endgültig. Doch ist das tatsächlich so? Staatsrechtler der Universität Köln haben sich jüngst des Themas noch einmal angenommen und ziehen in einem juristischen Vermerk andere Schlüsse. Eine Öffnung des Gesetzes und somit eine rechtliche Anerkennung und Gleichstellung der Zwangssterilisierten sei durchaus möglich. Es fehle nur eines: der politische Wille. Dorothea Buck wuchs in Oldenburg auf. Die Pfarrerstochter wollte Kindergärtnerin werden. Doch dann, am frühen Morgen des 2. März 1936, sie weichte gerade die Wäsche ein, ereilte sie ein schizophrener Schub. Ich war davon überwältigt, dass ein ungeheurer Krieg kommt, ich die Braut Christi bin und einmal etwas zu sagen haben würde, erzählt Buck. Sie wurde in die Von-Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld gebracht; schon damals wurden in der diakonischen Einrichtung Menschen mit Epilepsie, geistiger Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen betreut. Knapp 80 Jahre ist das her. Heute lebt Dorothea Buck in einem Pflegeheim. Ihr dünner Rollkragenpullover hat das helle Blau ihrer Augen. Trotz ihres hohen Alters blicken sie noch klar auf die Welt. Ihre Eltern hätten sie damals gezielt nach Bethel gebracht, berichtet sie. Ein christliches Haus, hofften sie, würde mich vor dem Schlimmsten bewahren. Sie irrten. Nach fünf Monaten in Bethel kam eine Schwester zu ihr, entkleidete sie und rasierte ihr die Schamhaare ab. Ich fragte, was mit mir passieren würde, erinnert sich Dorothea Buck. Ein notwendiger kleiner Eingriff, lautete die Antwort. Am nächsten Tag hatte sie die gleiche Blinddarmnarbe wie die Mädchen und Frauen in den Betten neben ihr. Die Nazis beriefen sich auf das 1934 eingeführte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Es war ein zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Gesundheits- und Rassenpolitik. Durch das Sterilisieren von Minderwertigen und Ballastexistenzen sollte der Volkskörper langfristig gereinigt werden. Als Ballastexistenzen beschrieb das Gesetz Menschen, die unter angeblichen FOTOS: MARIA FECK / DER SPIEGEL (L.); MARCUS KAUFHOLD / DER SPIEGEL (R.) 40 DER SPIEGEL 36 / 2014

41 Deutschland NS-Krankenakten von Sterilisationsopfern Unter Polizeizwang in die Klinik Erbkrankheiten litten wie angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, erblich bedingter Fallsucht, Blindheit oder Taubheit. Auch schwere körperliche Miss bildungen und Alkoholismus zählten dazu. Über Jahre wurden fortan Frauen und Männer busweise aus Heil- und Pflegeanstalten zwecks Sterilisierung in die Krankenhäuser gebracht, zudem Kinder aus Hilfsschulen herausgeholt. Ärzte waren verpflichtet, all jene beim Gesundheitsamt anzuzeigen, die unter das Gesetz fallen konnten. Letztlich konnte dort jeder jeden denunzieren. Am Ende entschied ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht über die Zwangssterilisation. Zwar bestand die Möglichkeit des Einspruchs, doch in erster Linie auf dem Papier. Viele Betroffene wurden unter Polizeizwang in die Kliniken gebracht. Nach dem Eingriff mussten sie oft unterschreiben, nie darüber zu sprechen. In Archiven bundesweit, insbesondere jenen der Frauenkliniken, finden sich bis heute Krankenakten der Opfer. Vielerorts haben Studenten über das Thema promoviert. Die Dissertationen offenbaren, mit welchen Diagnosen die Eingriffe in der Praxis noch legitimiert wurden: In München etwa wurde eine junge Frau unfruchtbar gemacht, weil sie nach dem Tod der Mutter als melancholisch galt. In Mainz wurde bei einer Patientin nur vermerkt: Zigeunermischling. Eine Indikation war auch, uneheliche Kinder zu haben oder eines zu sein. Angeborener Schwachsinn wurde mithilfe eines Intelligenztests abgefragt wer zu klug antwortete, bekam mitunter moralischen Schwachsinn attestiert. Horst S. ging in die vierte Klasse, als er erstmals einen epileptischen Anfall erlitt. Der Schularzt zeigte ihn daraufhin an. Er sei als Baby von der Chaiselongue gefallen, beteuerte seine Mutter beim Gesundheitsamt. Auch der Vater habe vor dem Erbgesundheitsgericht um ihn gekämpft, sagt Horst S.: Er war Offizier. Aber auch das hat nichts genützt. Zwei Wochen nachdem seinen Eltern der Beschluss zugestellt wurde, musste Horst S. in die Klinik. Ich habe den Eingriff bei vollem Bewusstsein miterlebt, sagt er und schüttelt den Kopf. Als müsse er die Erinnerung sofort durch ein positives Erlebnis verdrängen, greift der ehemalige Gärtnermeister nach der Hand seiner Frau Elfriede. Weißt du noch, wie wir uns zum ersten Mal ge - sehen haben?, fragt er. Das hat gleich gefunkt, nicht wahr? Seine Frau strahlt ihn an. Ich wollte dich unbedingt, erzählt die 87-Jährige. Vor Kurzem erst haben sie eiserne Hochzeit gefeiert, 65 Jahre Ehe. Sie hat ein großes Opfer für mich gebracht, sagt Horst S. über seine Frau. Aber es gab eine Zeit, so mit 40, da habe auch ich sehr gelitten, niemals Vater sein zu können. Ich wäre so gern abends nach Hause gekommen, und am Abendbrottisch wäre ordentlich Trubel gewesen. Als hör-

42 Deutschland NS-Propaganda 1936: Schädlich für den Volkskörper te sie dies zum ersten Mal, sagt seine Frau ganz leise: Ach Gottchen, Horst. Im Rahmen des Euthanasie-Programms wurden rund Menschen in den Jahren 1940/41 systematisch ermordet. Im Zuge der Zwangssterilisationen starben schätzungsweise 6000 Menschen. Besonders für Frauen war der Eingriff gefährlich: Über tiefe Bauchschnitte wurde ihnen die Eileiter zerquetscht oder zerschnitten. Mancherorts bekamen sie Radium vaginal eingeführt, für 50 Stunden. Selbst vor bereits schwangeren Frauen machten die Nazis nicht halt. Bis zum siebten Monat wurde abgetrieben alles für den reinen Volkskörper. Erst Wochen nach dem Eingriff erfuhr Dorothea Buck von einer Mitpatientin, dass sie unfruchtbar gemacht worden war. Ich war am Boden zerstört, erinnert sie sich. Um Kontakte zu anderen Menschen zu erschweren, durften Zwangssterilisierte keine sozialen Berufe ausüben. Aus der Traum, Kindergärtnerin zu werden, sagt Dorothea Buck. Nach einem Dreivierteljahr in Bethel wurde sie entlassen. Ohne dass ein einziges Mal ein Arzt mit ihr gesprochen habe, sagt sie. Von ihrer Psychose habe sie sich letztlich selbst geheilt, behauptet sie. Ich habe einen Schub einfach nicht mehr als Teil der Wirklichkeit gesehen, sondern als Traum, erzählt sie. Das Gefühl, minderwertig zu sein, wurde sie dagegen nie mehr los. Das bescheinigt zu bekommen war zu verletzend, sagt sie. Der Schmerz, keine Kinder bekommen zu können, traf Dorothea Buck erst später. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihr womöglich Leid erspart blieb: Nicht alle Kinder sind ja gesund oder wohlgeraten. Nichts jedoch tröstete sie über den Verlust ihrer großen Liebe hinweg. Sie waren sich bei einem Orgelkonzert im Harz begegnet. Mehr möchte Dorothea Buck darüber nicht berichten. Weil zwangssterilisierte Frauen nicht heiraten durften, hatte ihre Liebe damals keine Chance. Dorothea Buck zog nach Hamburg, widmete sich der Bildhauerei. Viele Skulpturen zeigen Mutter und Kind. Doch statt in ihrer Kunst zu verstummen, wurde Dorothea Buck im Laufe ihres Lebens immer lauter: Vor allem die Wut trieb sie, in Briefen und Büchern kämpfte sie gegen seelendumme Psychiater und für eine moderne, menschenfreundliche Psychiatrie. Und dafür, dass es Unrecht war, Menschen wie sie als minderwertig zu erniedrigen. Eugenische Sterilisationen wurden noch viele Jahre nach Kriegsende als angemessene Methoden der Gesundheitskontrolle angesehen. Erst 1974 wurde das NS-Gesetz auf Bundesebene endgültig außer Kraft gesetzt. 1980, im Rahmen der Debatte um ebenjene vergessenen NS-Opfer wie Dorothea Buck und Horst S., erhielten die Geschädigten einmalig 5000 Mark sofern sie unterschrieben, keine weiteren Forderungen zu stellen wurden ihnen dann monatliche Zahlungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz zugestanden. Im selben Jahr bezeichnete der Bundestag die Zwangssterilisationen als NS- Unrecht, bevor er 1998 die Urteile der Erbgesundheitsgerichte aufhob. Eine Würdigung ihrer Qualen, eine rechtliche Anerkennung, wie sie andere Opfergruppen nach Paragraf 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erfuhren, erfolgte nicht. Das stets gleiche Argument: Ihr Leid sei kein typisches NS-Unrecht gewesen, da sie nicht aus Gründen der Rasse oder der Weltanschauung verfolgt worden seien. Das Gegenargument, dass ihre Sterilisation der sogenannten Rassenhygiene gedient habe, bleibt bis heute ungehört. Empörend und beschämend findet das Michael Wunder, Mitglied des Deutschen Ethikrats und des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen Euthanasie und Zwangssterilisation: Die Opfer werden dadurch weiterhin ausgegrenzt. Es ist die längst überfällige ethische und moralische Pflicht des Gesetzgebers, dies zu korrigieren. Wunder und andere Fachleute und Opfervertreter drängen darauf, das BEG zu öffnen und es um die Zwangssterilisierten sowie um die Angehörigen von Euthanasie-Geschädigten zu erweitern. Dass das durchaus möglich wäre, haben sie seit Kurzem schriftlich. Anfang des Jahres hatte Wunder den Kölner Staatsrechtler Wolfram Höfling, einen Kollegen aus dem Ethikrat, um dessen Einschätzung gebeten. Höflings Urteil ist eindeutig: Das Schlussgesetz ist kein Schlusspunkt. Das ist aus meiner Sicht ein vorgeschobenes Argument. Eine Erweiterung wäre aus verfassungsrechtlicher Sicht ohne Wei - teres möglich, erscheint mir aber nicht politisch gewollt. Inzwischen liegt ein juristischer Vermerk zu Wunders Anfrage vor, aus Höflings Institut für Staatsrecht der Uni Köln. Die Stellungnahme, die auch eine mögliche ergänzende Formulierung im BEG vorschlägt, nutzten Wunder und seine Mitstreiter im April für einen Appell unter anderem an den Bundespräsidenten, die Ministerpräsidenten der Länder und die Fraktionsvorsitzenden des Bundestags. Von Bundespräsident Joachim Gauck gibt es bislang keine Reaktion. Die Regierungsfraktionen sehen keinen Änderungsbedarf, und die Länder verweisen auf den Bund, dieser auf das zuständige Bundesfinanzministerium. Von dort gibt es eine Einlassung des Staatssekretärs Werner Gatzer, für den die Causa vor allem eine Frage der Entschädigung zu sein scheint: Auch wenn eine rechtliche Gleichstellung mit anderen Opfergruppen nicht zu erzielen ist, so wurden in der Vergangenheit materielle Unterschiede ausgeglichen. Seit 2011 bekommen die Geschädigten eine monatliche Rente von 291 Euro. Laut Bundesfinanzministerium beziehen diese Rente derzeit noch drei Euthanasie -Geschädigte und 364 Zwangssterilisierte. Mit Wunders Anliegen tut sich offenkundig nicht nur das Ministerium schwer. Auch der Hamburger Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) sieht kaum Erfolgsaussichten für die Initiative des Ethikratsmitglieds. Wunders bittere Replik: Die Politik setzt auf die biologische Lösung. Antje Windmann FOTO: BPK 42 DER SPIEGEL 36 / 2014

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44 Jagdschülerin Sticher: Üben für den perfekten Schuss Fährten im Schlamm Jagd Immer mehr Frauen und Städter zieht es auf Hochsitze. Den neuen Jägern geht es nicht um Tradition, sondern um Landlust und bewusste Ernährung. Carolin Sticher weiß, sie muss jetzt ruhig bleiben. Luft holen, langsam ausatmen, Jagdgewehr anheben, zielen, abdrücken. Die 24-jährige Studentin steht in einem Kiefernwald in Mecklenburg-Vorpommern, es ist noch sehr früh und so kalt, dass Sticher ihren Atem sieht. Es ist ihr zweites Mal am Schießstand, sie ist unruhig. Sie denkt: Belaste die Füße gleichmäßig, um einen sicheren Stand zu haben. Sie denkt: Zieh den Gewehrschaft fest in die rechte Schulter, damit der Rückstoß nicht schmerzt. Sie denkt: Krümm den rechten Zeigefinger nur leicht, um den Abzug mit dem oberen Glied zu erwischen. Sie denkt: Ich muss treffen. Es knallt, 165 Dezibel, Düsenjägerlautstärke. Daneben. Scheiße, sagt Sticher. Hör auf zu denken, sagt der Schießlehrer an ihrer Seite. Carolin Sticher steht in Sneakers, Jeans und weißem Kapuzenpulli in der Bretterbude eines Schießstands bei Schwerin, die braunen Haare hat sie zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, die Wimpern getuscht. An der rechten Hand trägt sie drei Silberringe, auf den Nägeln farblosen Lack. 50 Meter vor ihr fährt das Bild eines 44 DER SPIEGEL 36 / 2014 Keilers von rechts nach links. Sie müsste die Zielscheibe auf der vorderen Körperhälfte treffen. Zehn Punkte sind perfekt, sie bedeuten: Lunge getroffen. Neben der Novizin steht an diesem Sommermorgen Helmut Herbold, 55, Jäger seit seinem 17. Lebensjahr. Er trägt derbe Schuhe, einen grünen Wollpulli über dem karierten Hemd und eine Schiebermütze. Er sagt: Das ist Hochleistungssport, was wir hier machen. Und: Das muss auch Spaß machen. Wenn Herbold das alte Bild der Jagd verkörpert, steht Sticher für das neue. Sie ist jung, sie kommt aus der Stadt, in ihrer Familie hat das Schießen keine Tradition. Die Studentin steht für einen erstaunlichen Trend: Die Jägerschaft in Deutschland wird jünger, weiblicher, moderner. Noch nie interessierten sich so viele Menschen fürs Pirschen und Schießen. Im vorigen Jahr besaßen deutschlandweit Menschen den Jagdschein, rund mehr als noch vor zehn Jahren; auf 223 Einwohner kommt ein Jäger. Inzwischen sind knapp 20 Prozent der Anwärter Frauen. Auf Gut Grambow bei Schwerin, wo Carolin Sticher gemeinsam mit ihrem Vater, ihrem jüngeren Bruder und ihrem Freund den Jagdschein macht, lag die Frauenquote 2013 bei 27 Prozent, von allen Teilnehmern kommen etwa 40 Prozent aus der Stadt. Für Herbold, der seit 1998 auf dem Gut die Schulungen leitet, ist es die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit, die viele Frauen und Großstädter zur Jagd treibt. Vor Jahrzehnten war die Rolle der Frau bei der Jagd klar definiert: Sie bereitete das Wildbret zu. Inzwischen gelten Jägerinnen nicht mehr als Exotinnen. Prüfer schätzen sie als besonnene Schützen. Es gibt Internetseiten und Bücher, die sich an jagende Frauen richten, seit 2011 sogar ein Fachmagazin. Die typische Jungjägerin, so eine Umfrage des Deutschen Jagdverbands (DJV), sei Mitte dreißig und komme aus der Stadt. Viel mehr als ihre Vorliebe für Wildbraten hat Carolin Sticher mit der Jagd bisher nicht verbunden. Sie macht die Ausbildung, weil sie die Natur besser verstehen und einen Ausgleich zum Uni-Alltag will. Weg vom Laptop, raus in den Wald. Damit gehe es Sticher, so der Jägerverband, wie dem Großteil der Jungjäger: 86 Prozent der Prüflinge machen laut DJV ihren Jagdschein, weil sie gern in der Natur sind, auf Platz zwei der Motivationsrangliste liegt mit 74 Prozent der Naturschutz. FOTO: JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL

45 Deutschland Jagdscheininhaber in Deutschland in Tausend Quelle: Deutscher Jagdverband 1992/ 93 Sticher hat in Hannover und Hildesheim Mathematik und Biologie auf Lehramt studiert, ein halbes Jahr fehlt ihr noch bis zum Abschluss. Trotzdem hat sie das Gefühl, zu wenig über die Natur zu wissen. In der Jagdschule beschäftigt sie sich drei Wochen lang mit wenig anderem. Auf dem Weg vom Klassenzimmer bis zum Kaffeeautomaten hängen 17 Tierschädel und fünf Infotafeln zu Themen wie Die Rote Waldameise oder Die Entwicklung des Damhirschgeweihs, abends geht sie in der Jagd-App die Prüfungsfragen durch. Der Großteil des Kurses, mindestens 123 Stunden, besteht aus Theorie, der Ordner mit Materialien fürs grüne Abitur ist fast zehn Zentimeter dick. Die Schüler müssen einen Schießtest, eine schriftliche und eine mündliche Prüfung bestehen. Dass Sticher in ihren Semesterferien nun in Mecklenburg-Vorpommern sitzt, hat auch mit ihrem Wunsch nach gesunder Ernährung zu tun. Sie will wissen, woher das Fleisch auf ihrem Teller kommt; und nicht, dass es vorher mit Antibiotika vollgepumpt und in Plastikfolie verpackt beim Discounter im Regal lag wobei das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung warnt, die Belastung mit giftigem Blei aus der Jagdmunition stelle bei zu hohem Wildverzehr ein erhöhtes Gesundheitsrisiko dar. Wenn Sticher überhaupt Fleisch kauft, geht sie zu einem Metzger, dessen Produk - te von Tieren aus der Region stammen. Öl und Pesto holt die angehende Lehrerin beim Italiener, der die Waren aus seiner Heimat importiert. Wenn ich ein Tier schieße, hat es bis zu seinem Tod nicht gelitten, sagt Sticher. Neben den Schießübungen und der Theorie gehört natürlich auch der blutige Teil zur Jagdausbildung. Aufbrechen heißt es im Fachjargon, wenn die Tiere aufgeschnitten und die Eingeweide entfernt werden. Für Sticher ist es gleich am ersten Tag so weit: Einer der Lehrer hat einen zwei Jahre alten Rehbock geschossen, nun liegt das 16-Kilogramm-Tier in der Wildkammer der Jagdschule, ein weiß gefliester Raum, in dem Metalltische stehen, große Haken von der Decke hängen und in dem das Atmen durch die Nase schwerfällt, so unangenehm riecht es nach Eisen, nach Blut. Sticher beobachtet mit den 14 anderen Schülern, wie der Jäger den Hals des Bocks aufschlitzt und die Speiseröhre verknotet, damit der Mageninhalt nicht nach außen dringt. Am Ende hängt der Bock kopfüber, leer und in der Mitte aufgeklappt am Haken, wird mit Wasser ausgespült und in die Kühlkammer gehängt. Ist doch interessant, sagt Sticher. Wer nur die Keule kennt, hat den Bezug zum Tier verloren. Sie hat in ihrem Studium schon Ratten seziert und an Gehirnzellen von Zwerghamstern geforscht. Aber an toten Tieren zu arbeiten oder Tiere selbst zu töten macht auch für sie einen großen Unterschied. Deshalb hat sie am Schießstand gezögert, obwohl sie bloß eine Zielscheibe im Visier hatte: Den Anspruch habe ich schon, dass das Tier sofort tot ist, wenn ich schieße. Ich will es nicht verwunden, es soll sich nicht verletzt weiterschleppen und leiden was aber in der Praxis viel zu häufig vorkommt. Als Carolin Sticher in ihrem Freundeskreis erzählte, wie sie ihre Semesterferien verbringen werde, hätten die meisten posi - tiv reagiert. Passt doch zu dir, der angehen - den Biolehrerin, habe es geheißen. Nur einer wollte diskutieren: Wie kannst du das nur? Tiere töten? Für Sticher ist klar: Die Jagd ist notwendig, um Wildbestände zu regulieren und Schäden in der Land- und Forstwirtschaft möglichst gering zu halten. Naturschützer hingegen betrachten die Jagd vor allem als Hobby und kritisieren, dass Jäger Wild Veränderung gegenüber 1992/ % 2002/ / 13 häufig über den Winter hinweg füttern, um es dann zu erlegen. Drei Wochen auf Gut Grambow kosten 2880 Euro, für Führungskräfte wird ein Zwei- Wochen-Schnelldurchlauf für 6000 Euro angeboten, Unterkunft und Verpflegung gehen extra. Lehrer Herbold macht sich mit Carolin Sticher auf den Weg zum Hochsitz, er zeigt ihr Fährten im Schlamm und erklärt, an welchen Bäumen das Rehwild fegt, sich also den Bast vom Gehörn reibt. Vor zwei Jahren war Sticher das letzte Mal bewusst in der Natur, zum Pflanzensammeln für die Uni. Elf Holzsprossen steigen Ausbilder und Azubi zum Ansitz hoch, rechts von ihnen erstreckt sich ein Weizenfeld bis zum Horizont, links ein Wald, und wenn das ungleiche Paar geradeaus blickt, sieht es eine Wiese, einen Bach, ein abge - erntetes Rapsfeld. Herbold hat sein Gewehr griffbereit stehen, beide holen sich die Außenwelt durchs Fernglas in das Holzkabuff. Ruhig müssen sie sein, bloß kein Wild verschrecken. Sticher und Herbold sitzen und schweigen und warten. Um Uhr kommt ein Heißluftballon vorbeigeflogen, um Uhr zwei Ringeltauben. Um Uhr entdecken sie im Rapsfeld eine Ricke mit ihrem Kitz, um Uhr schiebt sich der Mond über die Baumwipfel. An was denken Sie, Frau Sticher? Man schaut und denkt nicht viel. Anna-Lena Roth DER SPIEGEL 36 /

46 Sechserpack Die Italiener mögen s zum Frühstück süß, die Deutschen gesund, die Chinesen deftig; es gibt Klischees, die einfach stimmen. Die Bilder zeigen erste Mahlzeiten des Tages im russischen Krasnodar (1), in Wrocław, Polen (2), in Yicheng in China (3), in Hongkong (4), Verona (5) und Stuttgart (6). Und wie heißt Guten Morgen! auf Chinesisch? Bitte sehr: Zao an! Gastronomie Führen Sie Hamburgs schlechtestes Lokal, Herr Schultz- Brummer? Wanja Schultz-Brummer, 36, Mitinhaber des Hamburger Restaurants Chapeau! Grill & Bar, über böse Gästekommentare SPIEGEL: Herr Schultz-Brummer, Ihr Restaurant liegt bei Tripadvisor auf Rang Schultz-Brummer: Wir nehmen uns jede Kritik zu Herzen. SPIEGEL: Kein Restaurant in Hamburg wurde schlechter bewertet. Schultz-Brummer: Echt? Na, immerhin Rekord! SPIEGEL: Ein Bewerter schrieb: pommes waren laberig. der burger war furchtbar. hab zwei bisse genommen u konnte mir das nicht antun. Außerdem hätte seine Begleitung einen lieblosen teller bekommen. Was sagen Sie? Schultz-Brummer: Unsere Pommes sind frisch und von Hand gemacht. Der Burger ist klasse. Aber jeder hat mal einen schlechten Tag. SPIEGEL: Ein Gast beschwerte sich, dass seine Vorspeise erst nach zweieinhalb Stunden Restaurant Chapeau! gekommen sei. Er schrieb: Das war mit Abstand der schlechteste Restaurantbesuch, den ich je erlebt habe. Ein anderer wartete eine halbe Stunde auf eine Flasche Mi - neralwasser. Ein dritter Gast schrieb: Nie wieder. Sind das böswillig platzierte Kommentare von Konkurrenten? Schultz-Brummer: Nein, das glaube ich nicht. Tripadvisor ist eine gute, seriöse Plattform. SPIEGEL: Aber? Schultz-Brummer: Manchmal geht etwas schief. Die Gäste sind sauer. Zu Recht. Und schreiben einen Online - kommentar. Wer zufrieden ist, kommt häufiger oder ist Stammgast, hat immer eine gute Zeit, schreibt nichts. SPIEGEL: Unmut ist ein besserer Antrieb als Zufriedenheit? Schultz-Brummer: Anscheinend. Unsere Top-Platzierung bei Tripadvisor basiert auf vier Einträgen. Unser Laden ist fast jeden Tag voll. Kann ja so schlecht nicht sein. Onlinebewertungen spiegeln nicht die Realität im Laden wider. SPIEGEL: Wie finden Sie gute Restaurants? Schultz-Brummer: Ich frage gute Freunde. / EYEEM.COM P / EYEEM.COM / EYEEM.COM / EYEEM.COM / EYEEM.COM / EYEEM.COM (6); GOLDBEK CHAPEAU! (U.) 46 DER SPIEGEL 36 / 2014

47 Gesellschaft QUELLE: YOU TUBE Das hässliche Entlein Ein Video und seine Geschichte Wie ein Mädchen im Internet erst vernichtet und dann gerettet wurde Das Video, das Lizzie Velásquez vor Millionen Menschen bloßstellte, dauerte nur acht Sekunden. Es war kein Ton zu hören, ein unscharfes Standbild zeigte lediglich ihr Gesicht: die faltige Haut, die schnabelförmige Nase, die hervorstehenden Augen. Jemand in der Schule musste das Foto heimlich von ihr gemacht und ins Internet gestellt haben. Es trug den Titel: Die hässlichste Frau der Welt. Als Lizzie Velásquez das Video auf YouTube entdeckte, saß sie allein vor dem Computer. Sie weinte, und sie rang nach Luft. Sie sah, dass das Video bereits vier Millionen Mal angeklickt worden war. Tausende Nutzer von Amerika bis Europa hatten es kommentiert. Viele schrieben, wie sehr sie sich vor Lizzie Velásquez ekelten. Sie fragten, ob sie ein Monster sei oder ein Außerirdischer. Einer hinterließ die Nachricht: Lizzie, tu der Welt einen Gefallen, und setz dir eine Pistole an den Kopf! Lizzie Velásquez war damals 17. Sie ging noch zur Highschool und wog bei einer Körpergröße von 1,57 Metern gerade mal 28 Kilogramm. Heute, acht Jahre später, wiegt sie nicht ein Gramm mehr. Es sei beinahe ihr Maximalgewicht, sagen ihre Ärzte. Lizzie Velásquez leidet an einer seltenen Erbkrankheit, am neonatalen progeroiden Syndrom, ihrem Körper fehlen Muskelmasse und Unterhautfettgewebe. Um aktiv zu bleiben und ihr Immunsystem zu stärken, isst sie zwischen 7000 und 8000 Kalorien am Tag. Trotzdem sehe ich aus wie ein Storch, sagt Velásquez, als sie am Telefon von ihrer Krankheit erzählt. Sie lacht dabei, und ihre helle Stimme überschlägt sich kurz. Lizzie Velásquez spürte schon früh, dass sie anders war. Nach ihrer Geburt, sagt sie, hätten die Ärzte ihrer Mutter und ihrem Vater zunächst nur ein Foto von ihr gezeigt. Sie wollten die Eltern nicht erschrecken. Lizzie sah nicht aus wie die meisten Babys. Sie war ein knochiges Wesen von knapp 1200 Gramm, die Haut spannte sich direkt über das Skelett. Ihre Eltern liebten sie trotzdem. Bis Lizzie vier Jahre alt wurde, kauften sie ihr zum Anziehen Puppenkostüme in Spielwarenläden, für normale Kleidung war ihre Tochter zu dünn. Später, im Kindergarten und in der Schule, lachten die anderen Kinder über das Mädchen mit dem Gesicht einer alten Frau. Mobbing-Opfer Velásquez Als sie sich dabei ertappte, sich wegen ihres Aussehens umbringen zu wollen, machte es plötzlich klick. Fremde Menschen drehten sich auf der Straße nach Lizzie Velásquez um. Sie bekam das alles mit, und sie war häufig traurig darüber, aber nie verzweifelt. Ihre Eltern und auch ihre zwei Geschwister, die beide gesund auf die Welt gekommen waren, liebten sie, das gab ihr Kraft. Als sie aber das Video im Internet entdeckte und die Verachtung spürte, brach diese Welt für Lizzie Velásquez ganz plötzlich in sich zusammen. Sie las, sie sei eine Beleidigung für die Menschheit. Sie las, dass jemand, der so aussehe wie sie, nicht würdig sei zu leben. Sie verließ bald nicht mehr das Haus, weil sie Angst bekam und weil sie sich schämte. Sie versteckte sich in ihrem Zimmer, erst Wochen, dann Monate, schließlich fast ein ganzes Jahr. Erst als sie sich eines Nachts bei dem Gedanken ertappte, sich allein wegen ihres Aussehens umbringen zu wollen, so sagt sie, machte es plötzlich klick. Sie lag in ihrem Bett und dachte darüber nach, weshalb es Menschen in ihrem Leben gab, die sie mochten; da war eine Familie, die sie liebte, und da waren wenige, aber dafür enge Freunde, die immer zu ihr standen und denen ihr Aussehen egal war. In dieser Nacht, erzählt Lizzie Velásquez, sei ihr klar geworden, dass nicht sie selbst hässlich war, sondern nur das Verhalten jener Menschen, die sie absichtlich verletzten. Sie beschloss, sich nicht länger zu verstecken und sich nicht darüber zu definieren, was andere über sie dachten oder sagten oder über sie im Internet verbreiteten. Sie ging bald wieder zur Schule und ein paar Jahre später sogar aufs College. Auch dort gab es Menschen, die sie verspotteten, aber Lizzie Velásquez hörte ihnen einfach nicht mehr zu. Mit jedem bösen Wort und jeder Beleidigung, sagt sie, wuchs mein Wille, es diesen Leuten zu zeigen und erst recht ein glückliches Leben zu führen. Es dauerte vier Jahre, dann machte sie ihren ersten Hochschulabschluss. Nebenbei schrieb sie zwei Selbst - hilfebücher, der dritte Titel, Choosing Happiness, ist gerade erschienen. Lizzie Velásquez ist heute eine erfolgreiche Motivationstrainerin, tritt häufig in Talkshows auf und plant einen Dokumentarfilm zum Thema Mobbing. Vor einigen Monaten sprach sie auf einer Konferenz über ihren Umgang mit Beleidigungen und über die Frage, ob sie sich manchmal wünsche, in einem anderen Körper geboren zu sein. Lizzie Velásquez sagte, sie würde nichts mehr an sich ändern wollen. Sie klang wie eine zufriedene junge Frau. Das Video ihrer Rede erreichte im Internet mehr als sechs Millionen Aufrufe zwei Millionen mehr als das Schmähvideo aus ihrer Jugend. In den Kommentaren darunter schrieben Tausende Menschen, wie sehr sie Lizzie Velásquez für ihren Mut bewunderten. Ein Nutzer bemerkte, was für hübsches langes Haar sie doch habe. Es war das erste Mal in ihrem ganzen Leben, sagt Lizzie Velásquez, dass jemand Fremdes etwas Schönes an ihr fand. Claas Relotius DER SPIEGEL 36 /

48 Europas tödliche Grenzen Asyl Während Deutschland über einen humaneren Umgang mit Flüchtlingen debattiert, rüstet die EU auf: Sie schottet den Kontinent ab, mit Satelliten, Polizisten, Drohnen und sie bezahlt die Nachbarstaaten für die heikle Arbeit der Abschreckung. Von Maximilian Popp Afrikanische Flüchtlinge in Melilla auf dem Weg zum spanischen Festland 48 DER SPIEGEL 36/ 2014

49 Gesellschaft FOTO: CARLOS SPOTTORNO / DER SPIEGEL Auf den Monitoren an den Wänden blinken grüne Punkte, Linien dokumentieren den Grenzverlauf. Im 23. Stock dieses Wolkenkratzers in Warschau liegt das Lagezentrum der Festung Europa. Das Kommando hat Klaus Rösler, 59, deutscher Polizeibeamter, seit 40 Jahren im Staatsdienst. Er spricht von einem Sturm auf die Grenzen, von Risiko- regionen, von Krisenbewältigung. Der Deutsche leitet die Einsatzabteilung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, er ist Director of Operations Division. Rösler vermittelt den Eindruck, seine Behörde verteidige Europa gegen einen Feind. Die grünen Punkte kennzeichnen aufgegriffene Flüchtlinge. Zwischen der Küste Westafrikas und den Kanarischen Inseln sind die Punkte klein und spärlich. Im türkisch-griechischen Grenzgebiet in der Ägäis verdichten sie sich. Der Seeweg zwischen Libyen und Italien erscheint als große grüne Fläche. Rösler hat als hoher Beamter der Bundespolizei in Mazedonien gearbeitet, an der deutsch-tschechischen Grenze, am Münchner Flughafen. Im September 2008 wechselte er zu Frontex nach Warschau. Lange Zeit interessierten sich in Brüssel allenfalls Fachpolitiker für die Arbeit von Frontex. Seit 2005 baut die Agentur die Außengrenzen Europas gegen den Zustrom von Flüchtlingen aus. Doch jetzt treibt der Bürgerkrieg in Syrien Millionen Menschen in die Flucht. Und im Irak beginnt nach dem Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) der nächste Exodus. Beinahe jeden Tag fischt die italienische Küstenwache im Mittelmeer verzweifelte Menschen aus seeuntüchtigen Booten. In Deutschland beantragten im Juli fast Menschen Asyl, so viel wie seit mehr als 20 Jahren nicht. Insgesamt werden in diesem Jahr wohl Flüchtlinge in die Bundesrepublik kommen. Angesichts dieser Zahlen und der Bilder von den Booten auf dem Mittelmeer, den Zäunen und den überfüllten Aufnahme - einrichtungen in deutschen Städten entwickelt sich die Frage nach der Grenzpolitik der EU zu einer Frage über das Wesen und die Werte Europas. Als vergangenen Oktober 387 Menschen bei einer Schiffskatastrophe vor Lampedusa ertranken, sprach die EU-Kommissarin Cecilia Malmström von einer schrecklichen Tragödie. Die Särge in einem Hangar des Flughafens von Lampedusa passten nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selber haben, sagte Bundespräsident Joachim Gauck Ende Juni in Berlin. Er mahnte die EU, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Viele Bürger empfinden Mitgefühl mit jenen Menschen, die sich auf die gefährliche Reise nach Europa machen. Doch die Politik der europäischen Regierungschefs hat sich seit dem Unglück nicht verändert. Die italienische Küstenwache und Marine haben zwar seit dem vergan - genen Oktober mit der Operation Mare Nostrum häufig Boote aus Seenot gerettet und etwa Menschen auf italienischen Boden gebracht. Doch Ende August starben erneut 200 Flüchtlinge bei dem Versuch, mit einem alten Holzboot das Mittelmeer zu überqueren. Italien hat zudem angekündigt, die Rettungsoperationen zu beenden, die jeden Monat neun Millionen Euro kosten, Frontex müsse übernehmen. Nun soll die Grenzschutzagentur unter dem Namen Frontex Plus wohl wenigstens einen Teil der Aufgaben der Italiener übernehmen. Die Finanzierung ist allerdings noch nicht geklärt. Für Flüchtlinge gibt es so gut wie keine legalen Wege nach Europa. Nicht für die meisten Syrer, von denen nur wenige als so genannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gebracht werden, nicht für Iraker, nicht für Menschen aus afrikanischen Krisenstaaten. Wer in der EU Asyl beantragen will, muss zuvor illegal einreisen auf Booten Asyl in der EU Erst- und Folgeanträge, in Tausend Quelle: Eurostat Asyl in Deutschland Erstanträge, in Tausend Quelle: Bamf; *geschätzt * DER SPIEGEL 36 /

50 Gesellschaft von Schmugglern, versteckt in Kleinbussen, mit falschen Pässen in Flugzeugen. Die EU schottet sich ab, weil sie fürchtet, andernfalls könnten mehr Menschen kommen, gerade aus ärmeren Ländern. Aber richtig ist auch, dass erst der Ausbau der EU zur Festung die Bedingungen für das Sterben an den Grenzen geschaffen hat. Viele Flüchtlinge entscheiden sich für die lebensgefährliche Route über das Mittelmeer, weil Frontex die Landwege abriegelt. Klaus Rösler koordiniert Europas Abwehr gegen die Migranten. Seit 2005 hat sich das Jahresbudget seiner Agentur von gut 6 auf knapp 90 Millionen Euro mehr als verzehnfacht. EU-Länder schicken auf Empfehlung von Frontex Polizisten und Ausrüstung in Grenzregionen. Einige Beamte aus Deutschland, Frankreich und Rumänien patrouillieren unter dem Mandat von Frontex gemeinsam an den Rändern Europas. Rösler sagt, Aufgabe von Frontex sei es, Migration zu steuern, nicht zu verhindern. Doch der Erfolg der Agentur bemisst sich danach, wie effektiv sie Europa gegen irreguläre Einwanderer verteidigt und damit gegen potenzielle Asylbewerber. Frontex-Mitarbeiter werten die Daten der nationalen Grenzbehörden aus, der spanischen Guardia Civil oder der griechischen Küstenwache. Sie zählen illegale Grenzübertritte, sammeln Informationen über Schleuser und Migrationsrouten. Unter der Federführung von Frontex startete die EU im vergangenen Dezember ein neues Programm zur Überwachung der Grenzen mithilfe von Drohnen und Satelliten etwa 340 Millionen Euro gibt die Union dafür aus. Wie viele Menschen an Europas Außengrenzen sterben, diese Zahl erhebt Frontex nicht. Eine Arbeitsgemeinschaft europäischer Journalisten ermittelte, dass es mehr als Menschen sind, die in den vergangenen 14 Jahren auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen sind. In Griechenland berichten Flüchtlinge von Misshandlungen durch Offiziere der Küstenwache. Ungarische Gefängnisärzte verabreichen Gefangenen in den Lagern systematisch Betäubungsmittel, um sie ruhigzustellen. Marokkanische Soldaten misshandeln Migranten, die an der Grenze zu Spanien kampieren. Hilfsorganisationen haben diese Vorkommnisse dokumentiert. Frontex ist an solchen Menschenrechtsverletzungen fast nie direkt beteiligt. Aber fast alle Übergriffe geschehen im Einflussbereich der Agentur. Mit Methoden, die allem Hohn sprechen, wofür Europa steht. Spanien Marokko In der Nacht vor dem Sprung schläft Claude Eog kurz und traumlos. Der Wind bläst über sein Zelt aus zerrissenem Plastik hinweg. Eog erwacht um Mitternacht von dem Lärm im Lager auf dem Berg Gourougou. Flüchtlinge aus Mali, Somalia, Guinea wärmen ihre Hände über einem Feuer. Eog schlüpft in seine zerschlissene Jeans, zieht ein Hemd über den ausgemergelten Körper. Im Tal sieht er die Lichter Europas strahlen, in Melilla. Dort setzt sich, etwa zur gleichen Zeit, Leutnant Antonio Rivera an den Rechner im Centro Operativo Complejo, dem Kontrollzentrum der spanischen Guardia Civil. Neonlicht scheint von der Decke. Rivera und seine Kollegen klicken sich durch die Bilder der Überwachungskameras auf den Monitoren. Keine zehn Kilometer trennen den Gendarm Rivera, 56 Jahre alt, Vater zweier Kinder, und Eog, 22 Jahre alt, Halbwaise aus Zentralafrika und doch eine Welt: Durch Melilla, eine spanische Enklave auf Frontex-Einsatzleiter Rösler: Sturm auf die Grenzen marokkanischem Boden, verläuft die Landgrenze zwischen Afrika und Europa. Spaniens Regierung hat ab 1998 und verstärkt ab 2005 mithilfe der EU für mehr als 30 Millionen Euro ein Bollwerk an der Grenze zu Melilla errichtet: Drei Zäune, zwölf Kilometer lang, sechs Meter hoch, gesichert mit Nato-Draht, bewacht von marokkanischen Soldaten auf der einen Seite und der Guardia Civil auf der anderen, sie schotten Europa gegen Einwanderer ab. Der Wall ist zu einem Symbol der Festung Europa geworden. Dennoch gelingt es Migranten immer wieder, den Zaun zu überwinden. Fast 7000 illegale Grenzübertritte vermeldete Frontex im vergangenen Jahr für die beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sowie die Straße von Gibraltar. Auf dem Berg Gourougou im Norden Marokkos beraten Claude Eog und die anderen Flüchtlinge ihre Strategie: Zu Hunderten, so wird er später erzählen, wollen sie losziehen, die Dunkelheit nutzen, um unentdeckt von marokkanischen Soldaten den Zaun zu erreichen. Claude Eog hat in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, als Mechaniker gearbeitet. Als Rebellen vergangenen Sommer seinen Vater ermordeten, sei er geflohen, erzählt er. Schlepper schleusten ihn nach Marokko, von dort fuhr er im November in einem Kleinbus Richtung Gourougou. Laut Schätzungen der marokkanischen Regierung leben zwischen und Menschen ohne Papiere im Land, etwa eintausend Männer und einige wenige Frauen verstecken sich in den Wäldern am Gourougou, wo sie notdürftige Lager errichtet haben. Sie warten auf eine Gelegenheit, die Grenze nach Europa zu überwinden manche jahrelang. Die Flüchtlinge bilden Gruppen nach Herkunftsländern: Nigerianer haben sich zusammengeschlossen, Kameruner, Malier. An einem Mittag im Sommer hocken Männer um einen Kochtopf. In den Wäldern des Gourougou essen die Menschen Reste, die sie im Abfall der Marokkaner finden, an vielen Tagen finden sie aber nichts. Auf dem Boden liegen leere Flaschen, Dosen, Schutt. Es riecht nach verbranntem Plastik. Das Leben im Lager ist die Hölle, sagt Mohammed, 14 Jahre alt, aus Guinea geflohen. Die Migranten schlafen unter Planen und Zedern. Im Winter fallen die Temperaturen am Gourougou unter den Gefrierpunkt. Kranke und Verletzte lehnen an Bäumen. Fast jede Woche suchen örtliche Sicherheitskräfte das Lager heim, brennen die Zelte der Flüchtlinge nieder und verprügeln all jene, die nicht schnell genug fliehen können, so schildern es Hilfsorganisationen vor Ort. Auch Eog wurde mehrmals vom Militär gefasst. Er behauptet, die FOTO: CARLOS SPOTTORNO / DER SPIEGEL 50 DER SPIEGEL 36 / 2014

51 Flüchtlinge auf dem Grenzzaun in Melilla: Methoden, die allem Hohn sprechen, wofür Europa steht FOTO: JOSE COLON / AFP Soldaten hätten ihn mit Holzstöcken geschlagen, bespuckt und auf ihn uriniert. Sie quälen uns wie Hunde. Immer wieder dachte Eog daran aufzugeben, umzukehren. Doch seine Heimat, die Zentralafrikanische Republik, ist zerfallen. Warlords und Milizen terrorisieren das Land. Beobachter vergleichen die Verhältnisse in Zentralafrika mit denen in Ruanda zu Zeiten des Genozids 1994 an den Tutsi. In Marokko zu bleiben ist auch keine Möglichkeit; hier haben Migranten aus Schwarzafrika kaum Aussicht auf Arbeit oder eine Unterkunft, sie werden wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert. Wir wollen ein menschenwürdiges Leben führen, sagt Eog. Leutnant Rivera empfängt im Centro Operativo Complejo über Funk Nachrichten der marokkanischen Patrouillen. Sie haben von Spitzeln in den Lagern erfahren, dass die Migranten eine Attacke auf den Wall planen. Rivera ist in Melilla aufgewachsen. Er erinnert sich noch an die Zeit vor 2005, als der Grenzübergang lediglich aus einem besseren Drahtgeflecht bestand. Der Zaun hat unsere Stadt in ein Gefängnis verwandelt, sagt Rivera. 600 Beamte der Guardia Civil sind in Melilla inzwischen im Einsatz. Nächtliche Gewalttaten marokkanischer Soldaten sind von der EU nicht abgesegnet. Doch im marokkanisch-spanischen Grenzland erprobt die Union die Zukunft der Migrationskontrolle. Hier delegiert die EU die Abwehr von Migranten an Nachbarländer. Allein im Rahmen des sogenannten Meda-Programms überwies Europa zwischen den Jahren 2007 und 2010 für den Schutz der Grenze 68 Millionen Euro an Marokko. Frontex koordinierte gemeinsame Operationen spanischer und marokkanischer Sicherheitskräfte. Die Organisation Human Rights Watch prangert in einem Bericht exzessive Gewalt gegen Flüchtlinge durch spanische und marokkanische Grenzschützer vor Melilla an. Selbst Schwangere und Kinder würden geschlagen und misshandelt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) beendete vergangenes Jahr ihr Engagement in Marokko aus Protest gegen die institutionalisierte Gewalt gegen Migranten. Zwischen 2010 und 2012 versorgte MSF kranke oder verwundete Flüchtlinge, die teilweise Opfer der Grenzschützer geworden waren. Wir fanden Männer mit gebrochenen Armen, gebrochener Nase. Ein Mann war derart Video: Europas tödliche Grenzen spiegel.de/app362014frontex oder in der App DER SPIEGEL schlimm verprügelt worden, dass er eine dreifache Schädelfraktur und eine Hirnblutung hatte, erzählt eine Ärztin. Die EU hat ihr Engagement mit Marokko trotzdem ausgebaut. Gegenwärtig verhandelt sie über ein Abkommen, nach dem die Union Menschen, die über Marokko illegal in EU-Staaten eingereist sind, auch nach Marokko abschieben könnte. In Libyen bilden deutsche Polizisten im Zuge der europäischen EUBAM-Mission Milizen zu Grenzschützern aus, obwohl dort Flüchtlinge in Internierungslagern gefoltert worden sind, wie Human Rights Watch berichtet. Der Vertreter der spanischen Regierung in Melilla, Abdelmalik El Barkani, Mitglied der konservativen Volkspartei von Ministerpräsident Mariano Rajoy, preist die hervorragende Zusammenarbeit mit den Staaten Nordafrikas. Gewalt gehe lediglich von Migranten aus. Die Bürger in Melilla sind müde, über Flüchtlinge zu sprechen. Am Strand liegen Touristen in der Sonne. In den Bars trinken junge Frauen Bier. Direkt neben dem Auffanglager spielen Rentner Golf. Manche Migranten versuchen, für 3000 Euro im Boot eines Schleppers von Marokko nach Spanien zu gelangen. Eog hatte sein Geld auf dem Weg nach Marokko aufgebraucht. Ihm blieb nur, den Zaun zu DER SPIEGEL 36 /

52 Lager auf dem Berg Gourougou in Marokko: Sie quälen uns wie Hunde überklettern. Bei den ersten drei Versuchen rissen die Klingen des Nato-Drahts Wunden in seine Hände und Arme. Marokkanische Soldaten packten ihn noch auf der afrikanischen Seite des Zauns, er sagt, danach hätten sie ihn verprügelt und nach Algerien gebracht, weit weg von der Grenze zur EU. Er kam zurück, und dieses Mal, am 17. März, schaffte Eog es, sich unbemerkt an die Grenze zu schleichen. Er versteckte sich bis zum Einbruch der Dunkelheit in Büschen. Antonio Rivera bemerkte um Mitternacht auf seiner Kamera Bewegungen großer Gruppen. Später erfuhr er: Es waren 800 Menschen. So viele wie selten zuvor. Eog lief als einer der Ersten auf das Bollwerk zu. Flutlicht blendete seine Augen. Er krallte seine Finger in die engen Maschen des Zauns. Seine Arme und Beine schmerzten. Der Weg vor ihm war jedoch frei von Patrouillen. Er wusste: Dieses Mal würde ihm der Sprung nach Europa glücken. Zwei Monate später lehnt Eog an der Mauer des Flüchtlingsheims in Melilla. Seine Hände sind vernarbt. 120 Migranten, erzählt er, hätten es in der Nacht vom 17. auf den 18. März nach Europa geschafft. Sie seien freudetrunken durch die Straßen von Melilla gelaufen, hätten gebrüllt: Freiheit! Freiheit! 52 DER SPIEGEL 36 / 2014 Nun ist Eog in einem Lager untergebracht. Er hofft, auf das spanische Festland verlegt zu werden. Eog will weiterfliehen, am liebsten nach Deutschland. Ich will in Deutschland als Mechaniker arbeiten. Leutnant Rivera versucht unterdessen zu erklären, was im März schiefgelaufen ist. Er fährt im Geländewagen der Guardia Civil durch Melilla. Der Druck auf die Grenze sei in den vergangenen Jahren stetig gewachsen, sagt Rivera. In den ersten Monaten 2014 hätten bereits mehr Flüchtlinge den Wall überwunden als im ge - samten Jahr zuvor. Wir können einzelne Migranten abschrecken, aber gegen große Gruppen sind wir machtlos. Sogar die Gewerkschaft der Guardia Civil protestierte gegen die scharfen Klingen am Zaun von Melilla: Ihre Beamten würden den Anblick schwer verletzter Flüchtlinge dort nicht länger ertragen. Sie fragten sich nach dem Sinn ihrer Arbeit. Die spanische Regierung hat angekündigt, weitere Millionen in den Grenzwall zu stecken. Der Zaun soll noch feinmaschiger werden, damit ihn Menschen nicht mehr überklettern können. Auf die erneut steigenden Flüchtlingszahlen reagiert Europa nach dem stets gleichen Muster: mit mehr Abschreckung. Die EU will in den kommenden sieben Jahren weitere 2,8 Milliarden Euro in einen neuen Fonds für die innere Sicherheit investieren. Hinzu kommen die Ausgaben der einzelnen Mitgliedstaaten und Forschungsgelder zur Entwicklung von Grenztechnologie. Künftig sollen etwa Roboter mit Über - wachungskameras zur Flüchtlingsabwehr eingesetzt werden. Einzelne Routen werden vorübergehend blockiert. So vermochte Frontex die Zahl illegaler Grenzübertritte zwischen der Küste Westafrikas und den Kanarischen Inseln im Zuge der Operation Hera von fast im Jahr 2006 auf nur noch 250 im Jahr 2013 senken. Trotzdem gelangen insgesamt nicht weniger Flüchtlinge nach Europa. Die Migranten weichen auf andere, oft gefährlichere Wege aus. Griechenland Türkei Am 19. Januar kenterte ein Flüchtlingsboot auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland. 12 Menschen ertranken vor den Augen der griechischen Küstenwache, Frauen und Kinder. Mindestens 7 Migranten starben bei einem ähnlichen Unglück in der Ägäis im März, 6 im April, mindestens 22 im Mai. Rana Fida, 42, tritt auf den Balkon ihrer Flüchtlingswohnung auf der griechischen Insel Lesbos. Sie blickt auf das Meer, über das sie kam, und sagt: Es ist ein Wunder, hier zu sein. FOTOS: CARLOS SPOTTORNO / DER SPIEGEL

53 Gesellschaft Fida hat gemeinsam mit ihren zwölf Jahre alten Zwillingen Aya und Abdullah dreimal versucht, auf dem Landweg aus Syrien über die Türkei nach Europa zu fliehen: Zweimal wurden sie von bulgarischen Sicherheitskräften festgenommen und zurück in die Türkei geschleppt, einmal wurde die Familie von türkischen Polizisten aufgehalten. Beim vierten Anlauf riskierte Fida ihr Leben und das Leben ihrer Kinder: Sie stieg in das Schlauchboot eines Schleppers. Das ist die unmittelbare Folge der Grenzsicherung durch Frontex. Bis vor Kurzem gelangten Flüchtlinge im südöst - lichen Mittelmeerraum auf dem Landweg nach Europa. Auf Druck der EU riegelte Griechenland die Grenze zur Türkei jedoch ab. Die griechische Regierung zog 2012 nach dem Vorbild Melillas einen 10,5 Kilometer langen Grenzzaun am Fluss Evros, entsandte 1800 zusätzliche Polizisten, eröffnete neue Internierungslager für Migranten. Frontex investierte in den Jahren 2011 und 2012 für die Operation Poseidon etwa 37 Millionen Euro zur Sicherung der griechisch-türkischen Grenze. Einige Kilometer weiter nördlich hat Bulgarien gerade mit Unterstützung der EU einen 30 Kilometer langen Metallzaun entlang eines Grenzabschnitts fertiggestellt. Die technische Aufrüstung sei Teil eines effektiven Grenzmanagements, heißt es bei Frontex. Immer mehr Flüchtlinge nehmen nun die Route über das Meer. In der Ägäis kamen zwischen August 2012 und Juli 2014 mindestens 218 Menschen ums Leben. Einige von ihnen wurden nach Berichten von Spanischer Gendarm Rivera, Flüchtling Eog Scharfe Klingen am Zaun Menschenrechtsorganisationen von der griechischen Küstenwache zurück aufs offene Meer getrieben, wo sie ertranken. Rana Fida, die ihren wirklichen Namen nicht nennen möchte, knetet eine Gebetskette. Sie trägt einen langen schwarzen Rock und ein Kopftuch. Fida hat in Damaskus als Grundschullehrerin gearbeitet, ihr Mann als Manager für ein Busunternehmen. Der Bürgerkrieg hat die Familie auseinandergerissen. Die beiden ältesten Söhne flüchteten bereits zu Beginn der Gefechte 2011 vor dem Militärdienst nach Schweden und Dänemark. Fida harrte mit ihrem Mann und den Zwillingen in Damaskus aus. Ich wollte meine Heimat nicht verlassen. Ich hoffte bis zuletzt, der Krieg würde bald zu Ende gehen, sagt sie. Vergangenen Sommer verschleppten Schergen des Diktators Baschar al-assad Fidas Mann. Fida floh in den Libanon und von dort weiter mit dem Flugzeug nach Istanbul. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind mehr als eine Million Flüchtlinge in der Türkei angekommen. Vielleicht ein Drittel von ihnen ist in provisorischen Camps untergebracht. Sie erhalten regelmäßige Mahlzeiten, die Kinder Schul - unterricht. Die meisten Neuankömmlinge sind jedoch gezwungen, ohne jede staat - liche Hilfe zu überleben. Fida hauste in Istanbul gemeinsam mit ihren Kindern in einer Einzimmerwohnung, die Bekannte ihr vermittelt hatten. Ihr Sohn Abdullah arbeitete als Laufbursche in einer Maklerfirma, um die Miete zu bezahlen. Fida wollte weiterreisen nach Europa, zu ihren Söhnen im Norden des Ceuta spanisch Europäische Union MAROKKO 250 km SPANIEN M i t Melilla spanisch t e l m e e r ALGERIEN 6838 illegale Grenzübertritte 2013 * +7% zum Vorjahr *hauptsächlich über Marokko und Algerien; Quelle: Frontex Kontinents. Ein Schlepper lotste die Familie für 800 Euro an die bulgarische Grenze. Fidas Stimme stockt, als sie von ihrer ersten Begegnung mit Europa erzählt. Gemeinsam mit zwei Dutzend Migranten irrte sie nachts durch das türkisch-bulga - rische Grenzland, ihre beiden Kinder an der Hand. Hunde der bulgarischen Polizei spürten die Flüchtlinge in einem Wald auf. Fida wurde verhaftet, ihr Sohn sei von Sicherheitskräften geschlagen worden, sagt sie. Einen Tag habe die Familie auf einer Polizeistation verbracht, bis bulgarische Polizisten sie zurück in die Türkei karrten. Zwar sind die Mitgliedstaaten der EU dazu verpflichtet, die Situation jedes einzelnen Flüchtlings zu prüfen. Nationen an den Außengrenzen wie Spanien, Bulgarien oder Griechenland setzen sich jedoch immer wieder über diese Bestimmung hinweg. Sie schicken Flüchtlinge im Zuge ungesetzlicher sogenannter Push-Back - Operationen kurzerhand in die Nachbarländer zurück. Nach einem halben Jahr in Istanbul und einem weiteren missglückten Versuch, über Land nach Europa zu gelangen, folgte Fida dem Rat anderer Migranten, die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wagen: Wir hatten keine andere Wahl. Wovon hätten die Kinder und ich in der Türkei leben sollen?, sagt sie. Menschenhändler profitieren von der Verzweiflung der Geflüchteten. Denn ohne die Hilfe von Schmugglern überwindet fast keiner von ihnen die Grenze nach Europa. Fida bezahlte 2500 Euro für die Reise nach Griechenland. Verwandte liehen ihr das Geld. Ein Schlepper sollte die Familie von Istanbul mit einem Kleinbus in den Süden schmuggeln und von dort mit einem Schlauchboot auf eine griechische Insel. Fida hinterlegte das Honorar bei einem Mittelsmann. Der Betrag sollte dem Schlepper nach ihrer Ankunft in der EU ausbezahlt werden. Beim ersten Anlauf stoppten türkische Polizisten den Wagen und nahmen den Fahrer fest. Eine Woche später gelangten die Flüchtlinge nach Izmir. Die Stadt, 330 Kilometer südwestlich von Istanbul, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Knotenpunkt für Migranten entwickelt. Aus Izmir fahren die Busse der Schleuser an die Küste ab. Dutzende Flüchtlinge hocken an einem schwülen Sommernachmittag in den Gassen hinter dem Bahnhof Basmane. Familien aus Syrien, Männer aus dem Sudan und aus Somalia. Faris, ein junger Syrer, erklärt, wie das Schleppergeschäft funktioniert. Er ist im Jahr 2012 vor dem Krieg aus Aleppo geflohen. Eineinhalb Jahre lang schuftete er auf einer Baustelle in der türkischen Grenzstadt Kilis. Ein Bekannter vermittelte ihn als Fahrer an ein Schleppernetzwerk DER SPIEGEL 36 /

54 Gesellschaft in Izmir. Ich wollte nie als Schleuser arbeiten. Aber ich brauche das Geld für Europa, sagt Faris. Banden haben das Geschäft mit Migranten in der Türkei unter sich aufgeteilt. Ihre Anführer engagieren Flüchtlinge wie Faris als Handlanger. Faris schleust Migranten gegen eine Provision von Izmir an die Küste. Zwar hat die EU vergangenen Dezember einen Deal mit der Türkei geschlossen: Ankara soll Flüchtlinge aus der EU, die über die Türkei kamen, wieder zurücknehmen und darf dafür auf Visafreiheit für türkische Staatsbürger in Europa hoffen. Es ist ein weiterer Versuch der Union, die Flüchtlinge schon vor der Grenze aufzuhalten. Doch die türkische Polizei kontrolliert Schlepperrouten nur sporadisch, zu weitläufig ist das Gelände. Etliche Beamte, erzählt Faris, würden zudem von Menschenhändlern geschmiert. Fida und ihre Kinder erreichten nach einer Nacht in Izmir die türkische Küste. Der Schleuser setze die Familie in einer Bucht ab und schickte sie zu einem Boot. Fida klammerte sich während der Fahrt über die Ägäis an ihren Sohn Abdullah. Wasser schwappte in das überfüllte Schlauchboot. Fida übergab sich vor Angst. Die Menschen auf dem Boot aber hatten Glück: Nach vier Stunden auf See erreichten sie unbemerkt von griechischen Patrouillen die Insel Lesbos. Die Passage zwischen der türkischen Mittelmeerküste und den griechischen Inseln hat sich in eine Kampfzone ver - wandelt: Migranten versuchten laut Frontex 2013, irregulär von der Türkei, meist übers Meer, in die EU zu gelangen, so viele wie in kaum einer anderen Region. Ein Heer türkischer, griechischer und anderer europäischer Grenzschützer soll dies verhindern. Schwacher Wind weht über die Ägäis. Panagiotis Polidoras, Kapitän der griechischen Küstenwache auf der Insel Lesbos, hat Reporter eingeladen, sein Team auf einer Patrouille zu begleiten. Er möchte demonstrieren, wie gewissenhaft die Küstenwache auf Lesbos arbeitet. Sein Schnellboot gleitet über die glatte See. In der Ferne flackern die Lichter der türkischen Siedlungen. Die Regeln für Einsätze im Grenzgebiet sind streng: Die griechische Küstenwache darf nicht in türkischem Gewässer patrouillieren. Entdeckt Polidoras ein Flüchtlingsboot auf dem Radar, verständigt er türkische Kollegen. Etliche Migranten werden auf diese Weise von der türkischen Küstenwache gestoppt, bevor sie die Seegrenze überqueren. Flüchtlinge, die griechisches Gewässer erreichen, können laut nationalem und europäischem Recht von der griechischen Küstenwache zwar aufgehalten, jedoch M i t BULGARIEN GRIECHEN- LAND Lesbos Europäische Union Ä t e l g ä i s m e e r Istanbul Izmir TÜRKEI 250 km illegale Grenzübertritte über Land 2013, 61 % zum Vorjahr illegale Grenzübertritte über See 2013, + 171% zum Vorjahr *hauptsächlich über die griechisch-türkische Grenze; Quelle: Frontex nicht in die Türkei zurückgewiesen werden. Die meisten Migranten reisen auf seeuntüchtigen Booten. Polidoras sagt, sein Team rette immer wieder Flüchtlinge vor dem Ertrinken. Menschenrechtsbeobachter werfen der griechischen Küstenwache jedoch vor, Mi - granten zum Teil mit brutalen Methoden abzuwehren. Mehrere Syrer berichteten vergangenes Jahr der Organisation Pro Asyl von Misshandlungen durch griechische Patrouillen. Männer in schwarzen Uniformen mit Masken hätten Flüchtlinge auf einen Militärstützpunkt geschleppt und dort mit Holzstöcken auf sie eingeschlagen. Sie hätten die Hände der Migranten hinter deren Rücken gefesselt sowie Handys und Pässe konfisziert. Wir dachten, wir waren in Europa und in Sicherheit, sagte einer der Flüchtlinge. Viele Stunden lang hätten sie eingesperrt in einem fensterlosen Raum ausharren müssen. Am Abend hätten die Sicherheitskräfte die Migranten in Booten ohne Benzin zurück aufs Meer geschleppt. Türkische Patrouillen griffen die Flüchtlinge schließlich auf. Der Chef der griechischen Küstenwache auf Lesbos, Antonios Sofiadelis, bestreitet die Vorwürfe, es handle sich höchstens um Einzelfälle. Die Schilderungen der Syrer decken sich jedoch mit den Berichten von Amnesty International und der Anwaltskammer in Izmir, die ähnliche Fälle untersucht haben. Nach Angaben von Pro Asyl wurden zwischen Oktober 2012 und September 2013 an den Landund Seegrenzen etwa 2000 Flüchtlinge im Rahmen oft gewaltsamer Push-Back-Einsätze aus Griechenland in die Türkei zurückgewiesen, völkerrechtswidrig. Im März schossen griechische Grenzschützer laut Berichten von Amnesty International sogar mit scharfer Munition auf syrische Flüchtlinge. Der griechische Parlamentsabgeordnete Konstantinos Triantafyllos glaubt, die Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis zeugten von einer grundsätzlichen Krise der europäischen Flüchtlingspolitik. Die EU mute den Ländern an ihren Rändern eine unlösbare Aufgabe zu: Sie sollen einerseits die Grenzen abschotten, andererseits Menschenleben retten das gleiche Dilemma, vor dem auch die italienischen Behörden stehen. Griechenland hat mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen, die Bereitschaft der Regierung, Flüchtlinge aufzunehmen, ist entsprechend niedrig. Athen drängt die Küstenwache wohl nicht offen zu Push-Back-Einsätzen, geht jedoch auch nicht dagegen vor. Jeder Migrant, der von griechischen Patrouillen in der Ägäis gerettet wird, ist ein potenzieller Asylbewerber. Premier Antonis Samaras versprach 2012 als Oppositionsführer, Griechenlands Städte von ebenjenen zurückzuerobern. Athens ehemaliger Polizeichef forderte in einer Rede: Wir müssen den Migranten das Leben unerträglich machen. Die EU fördert diesen Umgang mit Flüchtlingen. Sie überwies Griechenland in den vergangenen drei Jahren gut 12 Millionen Euro für die Versorgung von Migranten. Die Sicherung der griechischen Grenze war ihr im selben Zeitraum 228 Millionen wert. Küstenwachenchef Sofiadelis, Lager für Flüchtlinge auf Lesbos Aufs Meer zurückgetrieben? 54 DER SPIEGEL 36 / 2014

55 Syrische Flüchtlingsfamilie auf Lesbos: Es ist ein Wunder, hier zu sein FOTOS: CARLOS SPOTTORNO / DER SPIEGEL Fida lebt nun in der Wohnung einer griechischen Hilfsorganisation auf Lesbos. Sie will zu ihren Söhnen nach Schweden ziehen und hat bei den Behörden einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt. Die wenigsten Migranten beantragen Asyl in Griechenland, denn die Bedingungen dort sind auch für anerkannte Flüchtlinge elend. Viele tauchen deshalb in Ländern Nord- und Mitteleuropas unter trat das Dubliner Übereinkommen in Kraft, das die Zuständigkeit für Asylverfahren regelt: Jeder Flüchtling, der Europa erreicht, darf sich seither nur in dem Land um Asyl bewerben, das er zuerst betritt. Die Dublin-Regelung nützt Deutschland, das von EU-Ländern umgeben ist. Sie verleitet zugleich überforderte Staaten an den Außengrenzen, Flüchtlinge schlecht zu behandeln, damit diese andere Fluchtrouten wählen. Ungarn Serbien Zuerst überfalle ein Schauer den Körper, erzählt Abu Naffa. Hände und Füße würden taub, die Nerven vibrierten, der Kopf schwindle. Die Pillen töten deinen Verstand, sagt Naffa. Du wirst zu einem Zombie. Ein halbes Jahr lang war Naffa, Flüchtling aus Palästina, in einem Asylgefängnis im Norden Ungarns eingesperrt. Die Wärter, sagt er, hätten den Insassen zur Beruhigung Rivotril verabreicht, ein Mittel zur Anwendung bei Epilepsie und Angst - zuständen, das in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Die Pillen können schon nach kurzer Zeit abhängig machen. In Ungarn, berichtet Naffa, seien Sicherheitskräfte jeden Abend von Zelle zu Zelle gegangen und hätten Migranten genötigt, das Medikament zu schlucken. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) warnte bereits 2011, ungarische Asylwächter würden Migranten mit Drogen ruhigstellen. Der Menschenrechtsbeauftragte des ungarischen Parlaments, Máté Szabó, kritisiert, im Asylgefängnis Nyírbátor mit 922 Insassen seien innerhalb eines Jahres neben Tausenden anderen Beruhigungsmitteln 7800 Pillen Rivotril verteilt worden. Szabó mahnt, die Zustände dort seien schlechter als in einem gewöhnlichen Gefängnis. Die Flüchtlinge schlafen auf zerschlissenen Matratzen in beengten Zellen, sind mangels Toiletten teilweise gezwungen, in Plastikflaschen zu urinieren. Migranten, die einen Arzt aufsuchen wollen oder eine Behörde, werden an einer Leine und in Handschellen durch den Ort geführt. Abu Naffa ist 22 Jahre alt, doch er sieht aus wie ein Greis. Er hat seine Haare um die Ohren kahl geschoren, seine Zähne sind braune Stümpfe. Naffa fährt mit seiner Hand über rosa Narben auf seinem Bauch. Er sagt, er habe im Rivotril-Entzug seine Haut mit einer Rasierklinge aufgeritzt. Ich konnte ohne den Stoff nicht leben. Ungarn hat kein funktionierendes Asylsystem. Die wenigen bestehenden Einrichtungen sind überfüllt, etliche Flüchtlinge werden deshalb in ehemalige Militärbaracken oder Gemeindegebäude gesteckt, die zu Gefängnissen für Migranten umgebaut wurden. Im April waren in Ungarn mehr als 40 Prozent aller männlichen Asylsuchenden in einem Knast untergebracht. Die Gründe für Verhaftungen sind willkürlich und undurchsichtig. Migranten werden in der Regel monatelang festgehalten, ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen kritisiert die Bedingungen in ungarischen Asylgefängnissen als unmenschlich und erniedrigend. Mehrere Dutzend Demonstranten haben sich an einem Samstag im Mai vor dem Asylgefängnis Debrecen an der ungarisch-rumänischen Grenze versammelt. Sie sind mit einem Bus aus Budapest angereist, um gegen den Umgang ihrer Regierung mit Flüchtlingen zu protestieren. Auf dem Zufahrtsweg haben Anhänger der rechtsextremen Partei Jobbik Stellung DER SPIEGEL 36 /

56 Gesellschaft bezogen. Sie tragen Bomberjacken und Springerstiefel. Polizisten bewachen das Gelände. Abu Naffa ist an diesem Samstag erst vor wenigen Stunden aus dem Gefängnis in ein offenes Lager in Debrecen verlegt worden. Er hat sich dem Protestmarsch angeschlossen. Die Europäer sollen wissen, was Flüchtlingen in Ungarn an - getan wird, sagt er. Als die Demonstranten das Gefängnis erreichen, stürmen Häftlinge ans Fenster. Männer aus Afghanistan, Frauen aus Syrien, Kinder. Sie winken mit weißen Handtüchern, schreien: Rettet uns! Naffa ist aus Gaza-Stadt auf dem Landweg über die Türkei und den Balkan in die EU geflohen. Er sah in Palästina nach dem Schulabschluss keine Zukunft für sich, träumte von einem Leben in Frankreich oder Deutschland. Doch in der Realität griffen ihn ungarische Polizisten auf und sperrten ihn im Nordosten des Landes mit vielen anderen Migranten in ein Gefängnis. Naffa klagt, er sei von Sicherheitskräften regelmäßig misshandelt worden. Viele seiner Mitinsassen seien Rivotril verfallen, manche hätten versucht, sich umzubringen. Nach internationaler Kritik hatte Ungarn ab Januar 2013 die gröbste Verfolgung von Flüchtlingen abgeschafft. Als daraufhin jedoch erheblich mehr Asylsuchende ins Land kamen, führte die Regierung von Premier Victor Orbán ein halbes Jahr später ein neues Haftregime ein. Die Asyl - gefängnisse dienten in erster Linie der Abschreckung, sagt Júlia Iván von der ungarischen Menschenrechtsorganisation Hel- Flüchtling Naffa, Asylgefängnis in Debrecen Mit Medikamenten ruhiggestellt 56 DER SPIEGEL 36 / 2014 sinki-komitee. Sie sollen Geflüchtete dazu bewegen, Ungarn zu meiden oder weiterzuwandern nach West- und Nordeuropa. Wer Ungarn nicht freiwillig verlässt, wird häufig in den Nordosten oder den Süden abgeschoben in die Ukraine oder nach Serbien. In Subotica, der fünftgrößten Stadt Serbiens an der Grenze zu Ungarn, haben Migranten ein Lager am Rande einer Müllhalde errichtet. Zwischenzeitlich vegetierten hier mehrere Hundert Flüchtlinge, überwiegend aus Syrien und Afghanistan, in Behausungen aus Plastikplanen und Spanplatten. Die Migranten ernähren sich von Abfällen, waschen sich in einem Tümpel. Sie warten darauf, dass Angehörige Geld schicken für die Weiterfahrt. Abu Naffa lebte vorübergehend in dem Lager in Subotica, nachdem ungarische Polizisten ihn abgeschoben hatten. Pastor Tibor Varga fährt jede Woche zu den Flüchtlingen, verteilt Decken, Brot, Aspirin. Der Pfarrer ist einer der wenigen im Ort, die sich um die Migranten kümmern. Varga parkt seinen Wagen im Hof einer stillgelegten Ziegelfabrik, steigt durch hohes Gras, folgt den Spuren am Boden. Das Lager ist an diesem Vormittag verwaist. Kleidung liegt auf dem Boden, Telefonkarten, Kochtöpfe. Die serbische Polizei hat wenige Tage zuvor eine Razzia auf dem Gelände durchgeführt und all jene Migranten verhaftet, die nicht fliehen konnten. Wie andere Anrainerstaaten drängt die EU auch Belgrad dazu, Flüchtlinge erst gar nicht in die Nähe der Grenze zu lassen. Serbien soll Flüchtlinge davon abhalten, illegale Grenzübertritte 2013 * % zum Vorjahr *hauptsächlich über die serbisch-ungarische Grenze; Quelle: Frontex M i t Budapest UNGARN Subotica t e l m e e r Nyírbátor Europäische Union SERBIEN Debrecen UKRAINE RUMÄNIEN BULGARIEN 250 km nach Ungarn zu kommen. Frontex-Polizisten patrouillieren im ungarisch-serbischen Grenzgebiet führte die serbische Regierung ein Asylsystem ein. Seither wurde jedoch lediglich drei Menschen tatsächlich der Flüchtlingsstatus gewährt. Kein Flüchtling kann auf Dauer anständig in Serbien leben, sagt Pfarrer Varga. Die meisten Migranten fliehen nach wenigen Wochen weiter nach Norden. Abu Naffa gelangte bei seinem zweiten Anlauf unbemerkt bis nach Österreich. Dort wurde er von Polizisten gefasst und zur Rückreise nach Ungarn gezwungen. Nun sitzt er, etwas verloren, vor dem Eingang zu den Flüchtlingscontainern. Er sagt, das offene Lager, in das er verlegt wurde, unterscheide sich kaum von dem Gefängnis. Auch hier lebten Migranten zusammengepfercht, kontrollierten Wärter die Zellen. Naffa will nun ein drittes Mal versuchen, nach Deutschland zu kommen. Die Polizisten können mich verhaften, sie können mich schlagen. Ich werde nicht aufgeben. Im vergangenen Jahr waren laut UNHCR weltweit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Neun von zehn Migranten wurden von Entwicklungsländern aufgenommen. Im Libanon, einem Land mit gut vier Millionen Einwohnern, leben derzeit eine Million Syrer. In der EU beantragten in den vergangenen drei Jahren gerade einmal Flüchtlinge aus Syrien Asyl. Die Einwanderung nach Europa sei im Vergleich zu Staaten wie dem Libanon verschwindend gering, sagt der UNHCR-Direktor für Internationalen Schutz, Volker Türk. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström fordert die EU-Staats- und Regierungschefs auf, mehr legale Wege für Flüchtlinge zu schaffen. Bislang ist es für Menschen aus armen Ländern beinahe unmöglich, ein Arbeitsvisum für die EU zu erhalten. Ebenso gering ist die Chance, in einem Resettlement-Programm unterzukommen, das Flüchtlinge aus akuten Krisengebieten wie Syrien oder Südsudan dauerhaft ohne bürokratisches Asylver - fahren in sichere Staaten vermittelt. Das UNHCR sucht gegenwärtig für Flüchtlinge Resettlement-Plätze. Die USA nahmen zuletzt über solcher Umsiedler auf, die gesamte EU mehr als 5000, Deutschland 300. Es sei eine Schande, dass die Europäer nur so wenige Flüchtlinge aufnähmen, sagt Kommissarin Malmström. Ich bin überzeugt, dass die EU- Mitgliedsländer viel mehr tun müssen, um den Menschen, die vor Hunger, Elend und Gewalt aus ihren Heimatländern fliehen, zu helfen. Die Europäische Union hat bislang ihre Grenze geschützt. Sie sollte beginnen, Menschen zu schützen. FOTOS: CARLOS SPOTTORNO / DER SPIEGEL

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58 Gesellschaft Russenfrühstück Homestory In Amerika gilt der Deutsche als Experte für Fußball, Krieg, Kunst, aber auch für die russische Seele. In Amerika, wo ich gerade lebe, erwartet man von mir, dass ich mitmache. Als Vater, als Nachbar, als Bürger. Ich mag das, obwohl es eigentlich nicht meinem Naturell entspricht. Es hält die Gemeinde zusammen, man lernt sich besser kennen. Man macht Geschäfte miteinander, statt sich umzubringen, was in einer Stadt wie New York wichtig ist. Die Frage ist, was man beitragen kann. Ich backe keine Plätzchen, ich habe kein Baugeschäft und keine Loge bei den Brooklyn Nets. Ich bin Journalist und Deutscher. Da wird man gern als Experte eingeladen. In der Schule meiner Tochter gibt es zum Beispiel den Breakfast Club, wo einmal in der Woche vor Unterrichts - beginn über aktuelle politische Fragen diskutiert wird. Da werde ich eingeladen. Anfangs dachte ich, ich solle über Deutschland sprechen oder wenigstens über Ostdeutschland. Als Ostdeutscher war ich jahrelang Experte für die deutsche Wiedervereinigung, für Probleme bei der deutschen Wiedervereinigung und auch ein bisschen für Rechtsradikalismus, Alkoholismus, Spionage und Kindermord, die als ostdeutsche Themenfelder galten. In letzter Zeit kippt es Richtung Russland. Je weiter ich nach Westen reise, desto östlicher erscheine ich offenbar. Als in Sotschi die Winterspiele stattfanden, lud mich der Breakfast Club zum ersten Mal als Gast ein. Ich dachte, ich würde ein bisschen über die Olympischen Spiele reden, von denen ich als Reporter berichtete. Ich habe einst in Hackensack, New Jersey, eine junge Frau interviewt, die wenig später in Salt Lake City Olympiasiegerin wurde. Ich dachte, damit kann man ein paar Zehntklässler in Brooklyn beeindrucken. Aber so lief es nicht. Es ging vor allem um den Gastgeber der Olympischen Winterspiele von Sotschi. Öl. Oligarchen. Weltherrschaft. Den russischen Bären und so weiter. Ist es nicht viel zu warm in Sotschi?, fragten die Schüler. Darf man in einem homophoben Land überhaupt auftreten? Was ist mit Pussy Riot? Was will Russland wirklich? Ich erzählte ihnen von einer IOC-Tagung in St. Petersburg, an der ich im vergangenen Jahr teilgenommen hatte. Und davon, dass sich Präsident Wladimir Putin für Ringen begeistert. Putin selbst hatte ich nicht gesehen, nur die Rücken seiner Sicherheitsleute. Dafür hatte ich kurz mit einem rumänischen Ringerfunktionär gesprochen, der als Putin-Freund gilt und aussah, als würde er jedem IOC-Mitglied die Nase brechen, der das Ringen als olympische Disziplin abschaffen will. Die Schüler wirkten nicht zufrieden. Ein Bibliothekar erklärte aus dem Hintergrund, dass er sich gut daran erinnere, wie die Russen die Olympischen Spiele von Los Angeles boykottiert hätten. Bevor ich darauf verweisen konnte, dass die Amerikaner zuvor die Spiele von Moskau boykottiert hatten, war mein erster Breakfast Club vorbei. Der Unterricht begann. Lorne, Geschichtslehrer und Breakfast- Club-Chef, schlug mir auf die Schulter und entließ mich in den Tag. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, sagte er. Ich auch, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, es waren noch jede Menge Fragen offen. Ich war gerade an der New York University, um auf einem Forum mit zwei Literaturprofessoren über Kunst und Fußball zu diskutieren wo wir Deutsche ja ebenfalls als Experten gelten, als die nächste Einladung in den Breakfast Club in der Mailbox eintraf. Diesmal sollte es nur noch um Russland gehen. Kein deutscher Umweg. Nur Russland. Ich schrieb Lorne: Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas beitragen könnte? Wahrscheinlich lag es an den hitzigen Debatten, die sich deutsche Russlandverächter und -versteher lieferten. Helmut Schmidt arbeitete seine Soldatenjahre auf, Gerhard Schröder sein wirtschaftliches Interesse, und meine Freunde erklären mir im Suff ihre russische Seele. Andere verglichen Putin mit Hitler und forderten deutsches Engagement. Man konnte mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit einen Militäreinsatz sowohl begrüßen als auch verurteilen. Es ist nicht einfach. Jeder Deutsche scheint seine russische Geschichte zu haben. Ich beispielsweise habe eine russische Großmutter. Ihr Vater war ein Kampfgefährte Lenins, ihr Mann ein deutscher Kapitalist, der in den Zwanzigerjahren nach St. Petersburg aufbrach, um die Neue Ökonomische Politik der Sowjetunion durchzusetzen. Nach dem Krieg wurde er von der Roten Armee mitgenommen und tauchte nie wieder auf. All das wusste Lorne, Direktor des Brooklyner Frühstücksklubs, nicht. Aber er ahnte es wohl. Wahrscheinlich sind es Schuljungengedanken, Alex, schrieb er. Nummer eins ist die Abhängigkeit der Deutschen vom russischen Gas. Die unterschwelligen neofaschistischen Tendenzen in Russland scheinen mit den nationalistischen Strömungen in Europa zu korrespondieren. Putin spricht Deutsch und hat ein besonderes Verhältnis zu dem Land, in dem er mal stationiert war. Ich habe gerade,bloodlands von Timothy Snyder gelesen, ein Buch, in dem die gemeinsamen Ziele von Hitler und Stalin beschrieben werden. Katharina die Große war Preußin, Marx war Deutscher, Lenin war Russe. Habe ich noch irgendwas vergessen? Nein, das war s im Wesentlichen. Lorne hatte es schön zusammengefasst. Bloodlands. Ich sah mich in der Bibliothek der Highschool meiner Tochter sitzen. Mitten in Brooklyn, Vogelgezwitscher, Kaffeebecher und Muffins, der Schlaf in den Augen amerikanischer Zehntklässler, die aufgeschlossenen, freundlichen Gesichter ihrer Lehrer. Dazwischen ich, Zeuge eines blutigen Jahrhunderts. Der deutsche Experte. Lenin, Marx, Katharina die Große, Hitler. Um Gottes willen. Der Breakfast Club der Berkeley Carroll School war ein Club der toten Dichter. Ich wartete mit meiner Antwort. Deutschland wurde Weltmeister, über Donezk wurde ein malaysisches Flugzeug abgeschossen, zwei Berliner Künstler hissten auf der Brooklyn Bridge weiße Fahnen, auf einem SPIEGEL-Titel wurde Putin angegangen. Dann war das Schuljahr glücklicherweise vorbei. Im Herbst ziehe ich zurück nach Berlin. An die Front. Alexander Osang FOTO: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL 58 DER SPIEGEL 36 / 2014

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60 Wirtschaft Friki-Schlachthof in Brandenburg Landwirtschaft Großschlachter vor Verkauf? In der Geflügelwirtschaft bahnt sich offenbar ein bedeutender Eigentümerwechsel an: Brancheninsider berichten vom bevorstehenden Verkauf von Plukon, einem der größten Hähnchenschlachter Europas. Das niederländische Unternehmen, das rund sieben Millionen Hühner pro Woche vermarktet, erzielt einen Großteil des Umsatzes mit der deutschen Marke Friki. Im Jahr 2009 wurde Plukon von dem niederländischen Finanzinvestor Gilde Buy Out übernommen. Unter Gilde-Führung und mithilfe einiger Zukäufe stieg der Umsatz von 800 Millionen auf rund 1,3 Milliarden Euro. Der Gewinn lag zuletzt jedoch nur noch bei gut einer Million Euro. Der lange Zeit boomende Sektor der Hähnchenproduktion leidet inzwischen unter Verdrängung und Überproduktion. Plukon, vor Kurzem noch mit 500 Millionen Euro taxiert, soll inzwischen nur noch rund 200 Millionen Euro wert sein. Plukon-Chef Peter Poortinga bestreitet konkrete Verkaufsprozesse. Er spricht von Gerüchten, räumt allerdings ein, dass Investoren wie Gilde derartige Beteiligungen üblicherweise vier bis sechs Jahre halten. Das wäre höchstens bis zum nächsten Jahr. nkl Zinsen Wieder aufwärts Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) rechnet damit, dass die Kosten für die Schuldenaufnahme des Bundes schon bald wieder steigen. Derzeit befänden sich die Zinssätze für deutsche Staatspapiere auf einem historisch niedrigen Niveau, was für die Zukunft eher Zinssteigerungen als weitere Senkungen erwarten lässt, heißt es in einem internen Vermerk des Finanzministeriums. Verglichen mit früheren Erfahrungen sei ein Zinsanstieg auf Jahressicht um etwa zwei Prozentpunkte möglich, schreiben Schäubles Experten. Gegenwärtig werfen Bundesanleihen mit zehnjähriger Laufzeit eine Rendite von weniger als einem Prozent ab, viel weniger als vergleichbare amerikanische Anleihen. Langfristig jedoch werden auch die deutschen Zinsen wieder Anschluss an die höheren US-Dollar-Renditen finden. Als Gründe dafür nennen Schäubles Experten die allmähliche Überwindung der Eurokrise und die sich anbahnende Konjunkturbelebung in Europa. rei Steuern Mehr Rechte für Länder Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg fordert weitreichende Steuerbefugnisse für die Bundesländer. Diese sollten künftig selbst die Höhe der Lohnund Einkommensteuer in engen Grenzen festlegen dürfen. Nach den Plänen könnten die Länder künftig Zuoder Abschläge zu den bundeseinheitlichen Steuersätzen fixieren. Das geht aus einem Papier des baden-württembergischen Finanzministeriums hervor. Außerdem soll es bei der Grundsteuer stärkere regionale Unterschiede geben können. Finanzminister Nils Schmid (SPD) wird die Forderungen nach mehr Steuer - autonomie diese Woche in die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über die Neuordnung der Finanz - beziehungen einbringen. fri Schufa Hunger auf Daten Die Deutsche BKK hat sich bei der Schufa nach der finanziellen Lage Tausender Schuldner erkundigt. Seit März 2011 haben Mitarbeiter der Abteilung Vollstreckung/ Insolvenz in bis zu Fällen eine Auskunft bei der Schufa eingeholt. Die Deutsche BKK, eine gesetzliche Kasse mit Versicherten, konsultiert die Schufa etwa, wenn freiwillig Versicherte, wie Selbstständige, oder Arbeitgeber ihre Beiträge hartnäckig nicht gezahlt haben. Das Verfahren trage dazu bei, wirtschaftlich unnötige Vollstreckungshand- lungen zu vermeiden, so eine Sprecherin der Kasse. Der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte hatte schon 2009 in einem anderen Fall Zweifel an Ablauf und Notwendigkeit eines solchen Austauschs angemeldet. Aus Datenschutzsicht ist es nicht vorstellbar, dass die Schufa- Anfrage ohne die Übermittlung von Sozialdaten durchgeführt wird, so eine Sprecherin. Sogenannte Sozial - daten, wozu nach Auffassung von Datenschützern auch Name oder Geburtsdatum von Versicherten gehören, dürfen Krankenkassen nur in Ausnahmefällen weitergeben. Die Deutsche BKK bestreitet, dies im Rahmen des Vertrags mit der Schufa zu tun. Bei der vom ehemaligen Hamburger Finanzsenator Michael Freytag geleiteten Auskunftei heißt es: Die Schufa hilft Forderungen von Personen einzubringen, die trotz mehrfacher Aufforderung fällige Versicherungsbeiträge schuldig geblieben sind. Die Datenübermittlung ist gesetzlich zulässig und liegt auch im Interesse der Gesellschaft und der Versicherten. Man zähle zudem nur einige wenige gesetzliche Kassen zu seinen Kunden. Das Bundesversicherungsamt sieht zwar keinen Anlass, die Zusammenarbeit zu monieren, will sie nun aber erneut prüfen. akn Freytag Zahl der Woche Euro beträgt der durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen (inkl. Unternehmens- und Vermögenseinkommen). Quelle: DIW FOTOS: MICHAEL URBAN / DDP IMAGES (O.); MEIKO HERRMANN / IMAGETRUST (U.) 60 DER SPIEGEL 36 / 2014

61 Bahn Dieser Stil enttäuscht mich FOTOS: WOLFRAM STEINBERG / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); ANNEGRET HILSE / SVEN SIMON / PICTURE ALLIANCE / DPA (M.); ARNE DEDERT / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.) Ulrich Weber, 64, Personalvorstand der Deutschen Bahn, über die Forderungen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und einen möglichen Streik SPIEGEL: Die Fronten im Tarifkonflikt der Bahn verhärten sich. Geht es um mehr Geld oder erleben wir den Machtpoker zweier Gewerkschaften, die darum streiten, wer welche Berufsgruppe vertreten darf? Weber: Sowohl die GDL als auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG wollen ihren Verantwortungsbereich erweitern und machen sich bezogen auf Berufsgruppen wie Zugbegleiter und Ikea Garantie ohne Kosten Lokführer gegenseitig Konkurrenz. Das würde zum Beispiel zu unterschiedlichen Arbeitsbedingungen für ein und dieselbe Mitarbeitergruppe führen und in der Folge zu Ungerechtigkeiten. SPIEGEL: Können Sie ernsthaft verhindern, dass sich konkurrierende Gewerkschaften um die gleichen Mitarbeitergruppen bemühen? Weber: Ich werde jedenfalls alles daransetzen, neue Spielregeln zu entwickeln, um Unordnung in den Betrieben zu vermeiden. Kooperationen von verschiedenen Gewerkschaften sind bereits gelebte Praxis in Deutschland. Das ist nicht zu viel verlangt. Wir schlagen deshalb ein Modell der wechselseitigen Beteiligung vor. Jede Gewerkschaft sitzt dann bei allen Fragen mit am Tisch. Das stärkt die GDL und schwächt sie nicht. SPIEGEL: Die GDL tut Ihr Angebot, einen Einmalbetrag von 350 Euro zu zahlen, als einen Witz ab. Weber: Dieser Stil enttäuscht mich schon. Was an einem Einstiegsangebot von 1,9 Prozent ein Witz sein soll, weiß ich nicht. Wir stehen am Anfang von Verhandlungen, und die GDL wollte bisher darüber nicht weiter sprechen. Die Einmalzahlung sollte für den Übergang sein, bis wir eine Einigung in Sachen der Kooperation zwischen den Gewerkschaften erzielt haben. Die lange Wunschliste der GDL macht mit Geld und Arbeitszeit - senkungen insgesamt mehr als 15 Prozent aus das ist nicht erfüllbar, das weiß auch die GDL. SPIEGEL: Wenn gestreikt wird, nehmen die Kunden es weniger der Gewerkschaft als vielmehr dem Konzern übel. Sitzen Sie nicht in der Falle? Weber: Wir sind weiter gesprächsbereit. Es gibt von uns Angebote zur Kooperation und zur Lohnrunde diese waren immer mit der Einladung verbunden, wieder zu verhandeln. Wir werden in den nächsten Tagen einen weiteren Anlauf unternehmen und einen neuen Vorschlag unterbreiten. Drohszenarien helfen keinem. mum Trotz der neuen lebenslangen Rückgabegarantie für seine Produkte erwartet das schwedische Möbelhaus Ikea keinen Ansturm auf seine Filialen. Unsere Erfahrung aus anderen Ländern zeigt, dass auch die Rück gaben in Deutschland nicht sprunghaft steigen werden, sagt eine Sprecherin des Unternehmens. In Dänemark und Norwegen, wo sich Ikea schon länger ähnlich kulant gibt, habe sich die Zahl der Retouren kaum ver ändert. Künftig gehe man daher auch in Deutschland von einer konstanten Garantiequote von sechs Prozent aus. Vergangene Woche hatten die Schweden mit ihrem neuen Rückgaberecht von sich reden gemacht: Ab sofort können Kunden nicht nur originalverpackte, sondern auch gebrauchte und sogar kaputte Waren umtauschen. Einzige Ausnahme sind Pflanzen, reduzierte Artikel aus der Fundgrube und zugeschnittene Waren wie Stoffe oder Arbeitsplatten. Wir werden nicht über jede Macke diskutieren, so die Sprecherin. Einzige Bedingung des Möbelhauses: Der Kunde muss eine Rechnung oder einen Kassenzettel vorlegen. Statt Gutschrift oder Gutschein gibt es dann auf Wunsch sogar den kompletten Kaufpreis in bar zurück. red Ikea-Filiale DER SPIEGEL 36 /

62 So wird Hass gesät SPIEGEL-Gespräch Igor Setschin, Chef des Ölriesen Rosneft und nach Putin wohl zweitmächtigster Mann Russlands, über die Krise zwischen Moskau und dem Westen, Gaslieferungen für Europa und die Schadensersatzprozesse wegen der Jukos-Zerschlagung Rosneft-Direktor Setschin in der Moskauer Konzernzentrale 62 DER SPIEGEL 36 / 2014

63 Wirtschaft FOTO: YURI KOZYREV / NOOR / DER SPIEGEL Seine Gegner nennen ihn Darth Vader, seine Bewunderer den Energie- Zaren. Den Ruf hat der Direktor des größten börsennotierten Ölkonzerns der Welt wohl auch deshalb, weil er nur selten in der Öffentlichkeit auftritt. Doch als Igor Setschin, 53, den Raum zum SPIEGEL-Interview betritt, zeigt er sich jovial und aufgeräumt: Der Chef des Ölund Gaskonzerns Rosneft überreicht seinen Gästen eine Visitenkarte, darauf steht: No Name, No Company, No address. Das ist sein bissiger Kommentar zu den Sanktionen des Westens, die nicht nur Russland gelten, sondern auch ihm persönlich. Die USA lassen ihn nicht mehr einreisen. Setschin ist eine Unperson geworden im Westen, seit der Krieg in der Ukraine tobt. Der untersetzte Mann gilt in der komplizierten Kreml-Hierarchie als der mächtigste Mann hinter Putin. Die beiden kennen sich seit den Neunzigerjahren, sie arbeiteten damals beide in der Stadtregierung von Sankt Petersburg. Als Putin aufstieg, nahm er seinen Gefolgsmann mit, erst als stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung, dann als Vizepremier. Der studierte Romanist hat innerhalb eines Jahrzehnts einen Konzern geschaffen, der über mehr Öl- und Gasreserven verfügt als der Energiegigant ExxonMobil. Jeden Tag fördert Rosneft 4,2 Millionen Barrel Öl, fast fünf Prozent des weltweiten Verbrauchs. Das Hauptquartier, ein zaristischer Prachtbau direkt gegenüber dem Kreml, dokumentiert den Machtanspruch des Konzerns. Doch hinter den prunkvollen Fassaden wehen Kantinengerüche durch weißgekachelte Flure. Die Bürotüren sind nummeriert wie in einem Billighotel. Im Konferenzraum hängt eine beleuchtete Karte an der Wand, die alle Förderanlagen des Konzerns auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zeigt. Der trapezförmige Konferenztisch verengt sich zur Kopfseite hin, wo ein Sessel mit hoher Lehne und grünem Leder thront. Setschin lässt ihn stehen, setzt sich auf einen einfachen Stuhl, den Rücken der Kreml-Kulisse zugewandt. SPIEGEL: Igor Iwanowitsch, die US-Regierung hat Sie persönlich auf die Sanktionsliste gesetzt, zudem soll Ihr Rosneft-Konzern keine Ölfördertechnik aus dem Westen mehr bekommen. Wie sehr stört es Sie, dass Sie in Europa und den USA nicht mehr willkommen sind? Setschin: Weder ich noch mein Unternehmen haben mit der Krise in der Ukraine etwas zu tun. Deshalb entbehren die Sank- Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Gerald Traufetter und Matthias Schepp. tionen gegen mich und Rosneft jeder Grundlage. Sie verletzen das Völkerrecht. Rosneft ist eine internationale Gesellschaft mit Aktionären aus Amerika, Europa und Asien. Neben dem russischen Staat ist BP mit knapp 20 Prozent der größte. So treffen die Sanktionen auch unsere west lichen Partner. Ich finde es eigenartig, dass Rosneft auf diese Liste kommt, obwohl wir wie keine andere russische Firma eng mit amerikanischen und europäischen Unternehmen zusammenarbeiten. SPIEGEL: Tun die Sanktionen Rosneft und Russland doch weh? Setschin: Die Ölreserven, die wir heute mit unseren Mitteln fördern können, reichen allein für 20 Jahre. Die Sanktionen hindern uns nicht, unsere Lieferverträge einzuhalten. Die Technologie, die unter die Sanktionen fällt, betrifft Zukunftsprojekte. Im Übrigen möchte ich einen Experten zitieren. Juan Zarate, Berater des damaligen Präsidenten George W. Bush, schreibt in Treasury s War, dass Amerika auch weiter auf eine neue Art des Krieges setzt. Er wird ohne militärische Angriffe geführt, lässt den Gegner finanziell ausbluten. SPIEGEL: Wollen Sie sagen, dass Amerika Russland im Streit über die Ukraine solch einen Krieg erklärt hat? Abhängig von Russland Energie-Importe der EU in Prozent Sonstige 45 Quelle: Eurostat Öl 8 Saudi- Arabien Russland Norwegen 11 Katar Sonstige Algerien Gas Russland Setschin: Ich zitiere bloß. Der amerikanische Sicherheitspolitiker Zbigniew Brzezinski hat schon früh vor einer Hinwendung der Europäer zu Moskau gewarnt. Brzezinski reagierte auf das Erdgas-Röhren-Geschäft zwischen Russland und der Bundesrepublik. Er schrieb, dass die USA kein geopolitisch vereintes, Amerika herausforderndes Europa zulassen dürften. Dies entstehe, wenn Europäer begreifen, dass Russland ihr natürlicher Wirtschaftspartner sei. SPIEGEL: Trotz des Krieges in der Ostukraine und der Sanktionen scheint es um die amerikanisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen nicht schlecht bestellt zu sein, wenn es um Öl geht. Rosneft hat gerade zusammen mit dem amerikanischen Konzern ExxonMobil eine Bohrplattform Norwegen in der Arktis eröffnet. Präsident Wladimir Putin war direkt zugeschaltet. Setschin: Mit Exxon arbeiten wir schon 20 Jahre gern zusammen, und jetzt auf der nördlichsten Ölplattform der Welt. Wir denken, dass dort so viel Öl lagert, wie Saudi-Arabien an bekannten Reserven hat. Bis 2030 wollen wir in der Arktis 400 Milliarden Dollar investieren. Außerdem haben wir vor der Halbinsel Sachalin mit unserer Plattform Berkut einige Rekorde aufgestellt. Sie ist die größte der Welt. SPIEGEL: Berkut bedeutet Steinadler. Das war der Name der Sondereinheit, mit der in Kiew der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch vergebens versuchte, den Volksaufstand niederzuschlagen. Setschin: Jetzt lassen Sie die Katze aus dem Sack. Sie wollen über die Ukraine reden. Mir aber geht es um Rosneft und unsere Strategie. SPIEGEL: Als börsennotierter Konzern mit den weltweit größten Ölreserven operieren Sie aber vor dem Hintergrund der Krise. Die Sanktionen schneiden Sie von den weltweiten Finanzströmen ab. Wie wollen Sie trotz 46 Milliarden Dollar Nettoschulden Ihre Rieseninvestitionen stemmen? Setschin: Wir werden unseren Verpflichtungen leicht aus eigener Kraft nachkommen. Rosneft hat im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn erzielt. Bei einem Umsatz von 80 Milliarden Dollar beträgt unser Gewinn im ersten Halbjahr 2014 fünf Milliarden Dollar, Ende des Jahres sind es 13,5 Milliarden. Kein russisches Unternehmen zahlt mehr Steuern als wir, 2014 werden es mehr als 80 Milliarden Dollar sein. SPIEGEL: Wieso haben Sie dann den Staat kürzlich um Finanzhilfe gebeten? Setschin: Weil wir gern schwer zu fördernde Ölvorkommen in Ost - sibirien erschließen und dort eine Petrofabrik bauen wollen. Wenn die Regierung uns dafür Anleihen ich unterstreiche: keine Subventionen zur Verfügung stellt, freuen wir uns. Wenn nicht, sehe ich darin keine Katastrophe. Wir setzen das Projekt dann einfach ein wenig später um. Rosneft hat keinen Finanzengpass. SPIEGEL: Wann fangen die Sanktionen an, Rosneft und Russland richtig wehzu - tun? Setschin: Alle leiden unter den Sanktionen. Es ist ein Irrweg, sie auf Firmen auszuweiten und Unternehmen in einen politischen Konflikt hineinzuziehen. Sanktionen sind eine Art von Krieg. So wird Hass gesät, Rachsucht kommt ins Spiel. SPIEGEL: Die Sanktionen treffen Rosneft, weil Sie als Vertrauter Putins gelten. So will Amerika Druck auf ihn ausüben. DER SPIEGEL 36 /

64 Wirtschaft Der Aufstieg von Rosneft 1993 Gründung von Rosneft: unter dem Firmendach werden Unternehmen des ehemaligen sowjetischen Ministeriums für Öl und Gas gebündelt. Ex-Jukos-Chef Chodorkowski vor Gericht Sergej Bogdantschikow wird Rosneft-Chef und bringt das marode Staatsunternehmen auf Wachstumskurs. Oktober 2003 Michail Chodorkowski, Chef des privaten russischen Ölkonzerns Jukos und Putin-Kritiker, wird wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung inhaftiert. Juli 2004 Igor Setschin, enger Vertrauter Putins und mutmaßlicher Mitinitiator des Verfahrens gegen den Jukos- Konzern, wird Rosneft-Chef. Dezember 2004 Eine von Rosneft gegründete Briefkastenfirma kauft wesentliche Teile des Jukos- Konzerns weit unter Wert. Rosneft- Aktionärsstruktur russischer Staat Mai 2005 Chodorkowski wird zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Juli 2006 Der Börsengang bringt Rosneft 10,7 Mrd. Dollar ein. Oktober 2012 Mit Übernahme der russischen Ölfirma TNK-BP wird Rosneft zum weltgrößten börsennotierten Ölkonzern. August 2014 Die Russland- Sanktionen schneiden den Konzern von westlichen Krediten ab. Rosneft bittet um Staatshilfe ,5 % 19,75 % 10,75 % BP institutionelle Anleger, private Investoren Setschin: Da kennt der Westen Russlands Präsidenten schlecht. Putin lässt sich nicht unter Druck setzen. SPIEGEL: Haben Sie Putin in Sachen Ukraine Ratschläge gegeben? Setschin: Der Präsident trifft seine Entscheidungen selbst. Es ist absurd anzunehmen, dass ich ihn dabei beeinflusse. Mein Verhältnis zu Putin ist auch nicht so, dass ich mit solchen Fragen zu ihm kommen könnte. Diese Vorstellung ist ebenso absurd, wie mich auf die Sanktionsliste zu setzen. SPIEGEL: Sie haben von Rachsucht geredet, die bei Wirtschaftskriegen ins Spiel kommt. Werden die Europäer in diesem Winter in kalten Wohnzimmern sitzen, weil Russland den Gas- und Ölhahn zudreht? Setschin: Jeder sitzt da, wo er will. Aber machen Sie sich keine Sorgen, nur Laien können auf so eine Idee kommen. Rosneft und andere russische Unternehmen werden sich streng an ihre Lieferverträge halten, die mit Krediten und Vertragsstrafen abgesichert sind. Dazu sind Verträge da. Als internationale Aktiengesellschaft ist Rosneft an der Londoner Börse notiert und hält sich an deren Standards. SPIEGEL: Fürchten Sie, dass Europa künftig weniger Öl und Gas aus Russland beziehen will? Setschin: Wie jeder Kunde hat Europa das Recht, so zu entscheiden. Europa kann aber auch einen Vorteil gegenüber Konkurrenten daraus ziehen, dass es auf Russlands günstige Energiereserven zurückgreift. Jetzt ist viel von Schiefergas und anderen neuen Erschließungstechniken die Rede. Für den europäischen Verbraucher aber würde das Gas dadurch teurer. Da bin ich sicher. Auf Vorteile zu verzichten ist unvernünftig. SPIEGEL: Ist Ihre Zusammenarbeit mit deutschen Konzernen wie Siemens durch die Sanktionen betroffen? Setschin: Nein, die Gasturbinen und Steuerungssysteme, die wir kaufen, fallen nicht 64 DER SPIEGEL 36 / 2014 unter die Beschlüsse. Im ersten halben Jahr sind die Technologieimporte aus Deutschland insgesamt aber um rund 15 Prozent gesunken. Trotzdem gibt es in Russland kein Defizit an solchen Maschinen. Die Lücke haben amerikanische und asiatische Unternehmen schnell und gern ausgefüllt. Sicher produziert Deutschland gute Bohranlagen oder Rohrsysteme. Aber wenn die Deutschen nicht liefern wollen, kaufen wir eben in Südkorea oder China. Wenn das deutsche Ziel darin besteht, die eigenen Unternehmen kein Geld mehr verdienen zu lassen, bitte schön. SPIEGEL: Rosneft hat Ende vergangenen Jahres einen 270-Milliarden-Dollar-Deal mit China abgeschlossen. Orientiert sich Rosneft nach Asien? Setschin: Ich möchte nicht von Umorientierung sprechen. Wir diversifizieren einfach unsere Märkte. Diversifizierung führt zu größerer Stabilität. Außerdem leisten die Chinesen Vorauszahlungen, und ein Teil unserer Lagerstätten liegt im Osten Sibiriens nahe an den asiatischen Märkten. SPIEGEL: Russland schreibt Europa ab? Setschin: Ich bitte Sie. Der Anteil Chinas an den Rosneft-Exporten beläuft sich heute gerade einmal auf 13 Prozent. Der Anteil der Europäer liegt bei 39 Prozent. Wir haben vier petrochemische Werke in Deutschland und sind damit der größte russische Investor. SPIEGEL: Aber mit Rohstoffen wird immer auch Politik gemacht. Setschin: Den ersten Vertrag mit China hat Rosneft 2010 abgeschlossen, vor den Sanktionen. Auch die Inder brauchen Öl. Im Asien-Pazifik-Raum ist der Bedarf an Flüssiggas gewaltig. Russland isolieren zu wollen ist deshalb unmöglich. Die Welt ist heute eine andere als vor einigen Jahrzehnten. Mit den Sanktionen schränkt der Westen in erster Linie sich selbst ein, beim Import russischer Rohstoffe und bei Absatzmärkten für Maschinen und An - lagen. SPIEGEL: Rosneft ist auch deshalb aufgestiegen, weil das Unternehmen Teile des zerschlagenen Jukos-Konzerns von Michail Chodorkowski übernommen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Jukos-Verfahren gerügt, und das Schiedsgericht in Den Haag hat Russland verurteilt, 50 Milliarden Dollar an die ehemaligen Jukos-Eigner zu zahlen. Wird das Ihre weltweite Expansion stören? Setschin: Alle großen Energiekonzerne haben andere geschluckt. Wir waren kein Teil des Schiedsverfahrens. Rosneft hat lediglich ehemalige Jukos-Unternehmensteile gekauft, so wie das auch die italienischen Konzerne Enel und Eni getan haben oder Gazprom und andere. Die Wirtschaftsprüfer waren von Pricewaterhouse- Coopers. Ich schließe nicht aus, dass die beiden Urteile politisch beeinflusst sind. SPIEGEL: Worauf stützen Sie diesen Verdacht? Setschin: Es gibt eine große, internationale PR-Kampagne der ehemaligen Jukos-Aktionäre. Es gab Verfahrensfehler. Juristen zweifeln den Den Haager Schiedsspruch auch deshalb an, weil das Gericht nach dem Vertrag über die Energiecharta gar nicht zuständig ist. Die Charta schützt ausländische Investoren. Wo sehen Sie diese denn? Die damaligen Aktionäre von Jukos wie Michail Chodorkowski und Leonid Newslin sind Russen und haben russisches Öl gefördert. Sie haben ihr Unternehmen lediglich über Offshore-Firmen registriert. Jukos haben sie unter Verletzung russischer Gesetze für 300 Millionen Dollar bekommen mit einem Kredit des Finanz - ministeriums, der nie zurückgezahlt wurde. Konkurrenten wurden von der Auk - tion ferngehalten. Zwei Unternehmen der Chodorkowski-Bank Menatep mit den vielsagenden Namen Montblanc und Wolna, die Welle, haben dann hart gegen-

65 einander gekämpft. Das sage ich mit Ironie. SPIEGEL: Sie gelten als Organisator hinter der Zerschlagung von Jukos. Stimmt das? Setschin: Das ist ein Mythos. Jukos steht heute bei vielen als unschuldiges Opfer böser Aggressoren da. So ein Unsinn. Ich erzähle Ihnen jetzt mal von meinem ersten Kontakt mit Jukos. Ich war im Herbst 1999 kaum zum Leiter des Sekretariats der Regierung unter Wladimir Putin ernannt worden, als Wassilij Schachnowski, einer der Jukos-Aktionäre, bei mir uneingeladen vor der Tür stand. Schnell und ohne Umschweife bot er mir ein Bestechungsgeld an. Im Moment brauchen wir nichts von Ihnen, sagte er, wir wollen Ihnen regelmäßig Geld zahlen, damit Sie unsere Interessen vertreten. Ich habe den Herrn aus meinem Büro geworfen. Chodorkowski hat das dann später so ausgedrückt, dass Jukos und ich kein gutes Verhältnis aufbauen konnten. SPIEGEL: Schachnowski dürfte das anders sehen. Als Chodorkowski im Dezember freigelassen wurde, haben Sie gesagt, er könne ja als Angestellter bei Jukos anfangen. Wollten Sie ihn veräppeln und demütigen? Setschin: Ich habe gesagt, er könne sich an unsere Personalabteilung wenden. Diese Herren haben damals keine Witze gemacht. Wer ihnen im Weg stand, wurde aus dem Weg geräumt. Der Aufstieg von Jukos ist mit Leichen gepflastert. Das haben russische Gerichte festgestellt. SPIEGEL: Chodorkowski hat in einem schriftlich aus der Lagerhaft mit dem SPIEGEL geführten Interview 2010 festgestellt, dass bei Jukos niemals physische Gewalt angewendet worden sei. Lügt er? Setschin: Chodorkowski hat man keine Beteiligung an Morden nachweisen können, seinen Mitarbeitern schon, auch seinem engsten Vertrauten Leonid Newslin. Ich bezweifle, dass Chodorkowski als Chef des Unternehmens von alldem nichts gewusst hat. SPIEGEL: Um welche Vorwürfe geht es? Setschin: Der Bürgermeister der Ölstadt Neftejugansk, der wollte, dass Jukos Steuern anständig zahlt, wurde umgebracht. Walentina Kornejewa, die Besitzerin eines Moskauer Teeladens, hat man mit einem Kopfschuss erledigt. Sie wollte ihr Geschäft nicht Chodorkowskis Bank Menatep überlassen, die das Gelände brauchte. Es gab Attentatsversuche auf unbequeme Minderheitsaktionäre. Mitarbeiter von Jukos-Vorstand Newslin haben Banditen damit beauftragt. Ein Gauner, ein Herr namens Gorin, versuchte, Chodorkowski zu erpressen. Gorin und seine Frau wurden dann brutal in ihrer Garage um - gebracht, die Leichen beseitigt. Nur etwas Gehirnflüssigkeit auf dem Boden blieb übrig. DER SPIEGEL 36 / SPIEGEL: Sie versichern, nicht hinter der Zerschlagung des Jukos-Konzerns zu stehen. Sie kennen jedoch sogar den Namen einer Teeladen-Besitzerin, die Michail Cho - dorkowski damals angeblich im Wege stand. Wie passen die Aussagen zusammen? Setschin: In meiner Zeit in der Präsidialverwaltung hatte ich solche Informationen. Außerdem regt mich das Ganze auf. Es ist Zeit, objektiv auf diese Dinge zu schauen! Chodorkowski und Co. waren und sind keine Heiligen. Das sind Menschen, die vor nichts zurückschrecken. Unseren Rechtsschutzorganen liegen Informationen vor, dass Chodorkowski und Newslin auch weiter hin auf Rache sinnen, wohl auch gegen mich. SPIEGEL: Wie schwer hat die Zerschlagung von Jukos das Investitionsklima in Russland beschädigt? Setschin: Das Gegenteil ist der Fall. Jukos hat über Offshore-Firmen seine Aktionäre betrogen. Heute gibt es in Russland größere Transparenz, höhere Steuergerech - tigkeit und höhere Rechtssicherheit für Unternehmen. SPIEGEL: In Wahrheit ging es im Fall Jukos darum, ein nach dem Zerfall der Sowjetunion privatisiertes Energieunternehmen wieder unter die Fittiche des Staates zu nehmen. Wollen Sie das bestreiten? Setschin: Beim Fall Jukos geht es nicht um Eigentumsfragen, sondern um Verbrechen. Bei der Eigentumsfrage geht es um Effizienz. In den Neunzigerjahren hieß es im-

66 Wirtschaft mer, es werde eine Klasse von Privatbesitzern geschaffen, die durch effektives Management und hohe Steuern das ganze Land voranbringen. Das ist nicht passiert. Der ganze Öl- und Gassektor wurde für weniger als sieben Milliarden Dollar privatisiert. Vor zwei Jahren haben wir allein mit dem Verkauf von zwölf Prozent Rosneft-Aktien an BP mehr erzielt, inflationsbereinigt, versteht sich. SPIEGEL: Treten Sie also dafür ein, dass Energiekonzerne Staatseigentum sein sollen? Setschin: Das wird in der Welt überall unterschiedlich geregelt. In Amerika gibt es Privateigentum von Rohstoffkonzernen, aber strenge Regulierung durch den Staat. Regulierung ist das Wichtigste, denke ich. Wir haben entschieden, den Staatsanteil auch bei Rosneft zu reduzieren. Allerdings wird der Staat das Kontrollpaket behalten. Das ist auch ein Plus für unsere Minderheitsaktionäre. Denn nach russischem Gesetz können nur Unternehmen mit mehrheitlicher Staatsbeteiligung Offshore-Bohrungen durchführen. SPIEGEL: Nun werden Ihre Geschäfte beeinträchtigt durch den Konflikt im Osten der Ukraine. Müssten Sie als weltweit operierende Firma nicht an der schnellstmög - lichen Beendigung der Kämpfe interessiert sein, die Russland mit seiner Unterstützung für Separatisten nährt? Setschin: Am wichtigsten ist es, das Blutvergießen zu stoppen. Im Osten der Ukraine spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab. Zu Ihren politischen Einschätzungen möchte ich mich nicht äußern. SPIEGEL: Was geschieht mit den Rosneft-Investitionen in der Ukraine? Setschin: Wir haben geplant, Ende des Jahres in Lyssytschansk in der Ostukraine eine von uns modernisierte Raffinerie in Betrieb zu nehmen. Es gab keine Kämpfe dort, aber die ukrainische Artillerie hat einen Teil der Anlage in Schutt und Asche gelegt. Wir schätzen den Schaden auf 140 Millionen Dollar und werden mit der Regierung der Ukraine Verhandlungen über eine Kompensation führen. SPIEGEL: Aber trägt Russland nicht die Hauptverantwortung für den Krieg? Setschin: Russland jedenfalls hat die Ukrainekrise nicht initiiert. Das ist die historische Wahrheit, die Zeit wird sie ans Licht bringen. Als Präsident von Rosneft habe ich die Aufgabe, für meine Aktionäre den Wert ihrer Beteiligungen zu steigern. Als größter russischer Investor in Deutschland setzen wir auf die Weiterentwicklung unserer Zusammenarbeit. Unsere Grundsätze sind Vertrauen, Nachhaltigkeit und Respekt vor den Interessen des anderen. Für politische Angelegenheiten habe ich keine Zeit. Ich will mich ja noch um meine Kinder kümmern. SPIEGEL: Igor Iwanowitsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 66 DER SPIEGEL 36 / 2014

67 Schaukampf am Himmel Lufthansa Mit ihrem Streik wollen die Piloten ihre Frührente sichern aber vor allem geht es um die Macht. Interne Rundschreiben zeigen: Die Gewerkschaft will offenbar den Plan von Konzernchef Spohr vereiteln, neue Billiganbieter zu betreiben. FOTO: PHILIPP GUELLAND / DDP IMAGES / DAPD Am Ende ging alles ganz schnell, vermutlich ein bisschen zu schnell. Gerade mal eine gute Stunde saßen Tarifunterhändler der Lufthansa und der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) am Donnerstagvormittag vergangener Woche zusammen, um den zweiten großen Ausstand von Flugzeugführern des Konzerns in diesem Jahr zu verhindern da war das Treffen auch schon wieder vorbei. Prompt schob jeder die Schuld auf den anderen. Den seit Längerem schwelenden Streit um die Frühverrentung des Cockpitpersonals an einem einzigen Tag zu lösen, rügte Lufthansa-Personalchefin Bettina Volkens, sei von vornherein unrealistisch gewesen. Die VC-Funktionäre wiederum fühlten sich düpiert, weil sie bis zuletzt auf einen neuen Kompromissvorschlag der Geschäftsführung gehofft hatten, allerdings vergebens. Mehr als Passagiere der Lufthansa-Tochter Germanwings strandeten am Freitag vergangener Woche auf bundesdeutschen Flughäfen oder mussten ihre Wochenendpläne ändern. Ihnen dürfte es ziemlich egal gewesen sein, wer für das Scheitern des vorerst letzten Einigungsversuchs im bislang härtesten Tarifkonflikt der Lufthansa-Geschichte verantwortlich ist. Viele von ihnen mussten lange Umwege in Kauf nehmen oder kamen erst spät am Abend nach Hause nachdem der Flugverkehr am Nachmittag wieder angelaufen war. Andere kampierten gleich am Airport oder schlugen sich mit der Bahn oder dem Mietwagen durch. Und das alles nur, weil gut 5000 Lufthansa-Piloten auf ihr althergebrachtes Recht pochen, schon ab 55 Jahren mit gut der Hälfte ihrer Bezüge in den Vorruhestand zu wechseln, empörten sich viele Kunden. Offiziell richtete sich der Ausstand am vergangenen Freitag tatsächlich nur gegen den Plan, die betriebliche Frührente vor allem für neue Cockpitkollegen zu kürzen. Dazu hatte es bereits zu Jahresbeginn eine Urabstimmung unter den Piloten gegeben. Wegen anderer Forderungen, die nicht an gekündigte oder ausgelaufene Tarifverträge anknüpfen, dürften die Lufthansa-Kapitäne und Kopiloten ohnehin nicht streiken. Dort herrscht nach geltender Rechtsprechung Friedenspflicht. In Wahrheit geht es inzwischen jedoch um viel mehr, nämlich um die Frage, wer Lufthansa-Piloten: Frontaler Angriff auf die Cockpitarbeitsplätze? wirklich die Macht besitzt bei der Airline: der neue Konzernchef Carsten Spohr, selbst Inhaber einer Pilotenlizenz für das Kurzstreckenmodell Airbus A320, oder die extrem selbstbewusste Riege lang - jähriger Konzernflugzeugführer. Sie bekleiden auch bei ihrer Haus- und Hof - gewerkschaft VC nahezu alle Schlüssel - positionen. Auslöser für den Showdown zwischen Erneuerern und Besitzstandswahrern bei Deutschlands größter Fluglinie ist ein für Lufthansa-Verhältnisse spektakuläres Konzept, das der Vorstandschef Anfang Juli unter dem Arbeitstitel Wings vorstellte. Spohr will unterhalb des Günstig-Ablegers Germanwings einen weiteren, noch billiger operierenden Anbieter schaffen, auf Basis der Tochterfirma Eurowings (SPIEGEL 25/ 2014). Ein ähnliches Modell plant er für Langstreckenverbindungen, auf denen harte Konkurrenz herrscht. Nur so, betonen er und seine Vorstandskollegen gebetsmühlenhaft, könne die Lufthansa gegen den Ansturm europäischer Billigkonkurrenten oder Angreifer aus dem Nahen Osten wie Emirates langfristig bestehen. Die hauseigene Aldi-Offensive funktioniert allerdings nur, wenn alle Beschäftigten mitziehen und etwa auf Gehaltsbestandteile verzichten oder für das gleiche Geld länger arbeiten. Bei den Piloten beißt Spohr mit solchen Forderungen auf Granit. Sie pochen darauf, dass ihre Kollegen bei den neuen Billigablegern genauso gut bezahlt werden und ähnliche Privilegien genießen wie sie selbst. Dabei berufen sie sich auf Tarifverträge aus den Jahren 2004 und 2010, die dies angeblich penibel regeln. Die Lufthansa-Führung ist dagegen der Meinung, dass sie den Piloten durchaus einen Solidarbeitrag abverlangen kann und verweist auf dieselben Vertragswerke. In den vergangenen Wochen köchelte der Streit vor sich hin, ohne dass die beiden Seiten Entgegenkommen signalisierten. Schlimmer noch: Spohr deutete an, seine Pläne notfalls einseitig umzusetzen, also ohne die Zustimmung der Gewerkschaft, und womöglich sogar firmenfremdes Cockpitpersonal anzuheuern. Für DER SPIEGEL 36 /

68 Wirtschaft Am langen Hebel Berufsgewerkschaften im deutschen Flugverkehr Unabhängige Flugbegleiter Organisation gut Mitglieder 9300 und ausgewählte Streikaufrufe Vereinigung Cockpit 3900 Gewerkschaft der Flugsicherung September 2012 Die Flugbegleiter-Gewerkschaft UFO verursacht den bis dahin größten Ausfall an einem einzigen Streiktag für die Lufthansa Flüge werden gestrichen, mehr als Passagiere sind betroffen. April 2014 Die Lufthansa-Piloten legen für drei Tage ihre Arbeit nieder. Der größte Streik in der Geschichte der Airline betrifft Passagiere. Die Einbußen belaufen sich auf rund 60 Millionen Euro Mai 2001 Der erste Pilotenstreik in der Geschichte der Lufthansa. Betroffen sind am ersten Streiktag 377 Flüge auf allen großen deutschen Flughäfen. Nach mehreren Arbeitsniederlegungen erkämpfen sich die Piloten Einkommensverbesserungen von bis zu 30 Prozent. Juli 2008 Streiks der Cockpitbesatzungen bei den Lufthansa-Töchtern Eurowings und Cityline. Rund 1500 Flüge im Europaverkehr fallen aus. Februar 2010 Die Gewerkschaft Cockpit ruft 4000 Piloten bei der Lufthansa und deren Tochter Germanwings zu einem dreitägigen Streik auf. Nach einem Tag einigen sich beide Seiten der Streik wird ausgesetzt. Februar 2012 Das Vorfeldpersonal streikt mit Unterbrechungen zwei Wochen lang am Frankfurter Flughafen Flüge fallen aus. August 2014 Mehrstündiger Streik der Flugkapitäne bei Germanwings. 116 von 164 Flügen fallen aus. Betroffen sind etwa Passagiere. die VC-Funktionäre und die angestammten Lufthansa-Piloten kommt diese Ankündigung einer Kriegserklärung gleich. Sind die neuen Billigtöchter nämlich erst einmal am Start, kann die Geschäftsführung die Cockpit- und Kabinenmitarbeiter bei jedem neuen Flugzeug, das Besatzungen braucht, unter Druck setzen. Machen Piloten und Flugbegleiter keine Zugeständnisse, wandert der Jet einfach zur haus - eigenen Billigkonkurrenz. Die klassische Lufthansa-Passagiersparte, also das Kerngeschäft, würde tendenziell schrumpfen mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Denn nur wenn eine Fluglinie kontinuierlich wächst, ist sichergestellt, dass Flugzeugführer und Flugbegleiter Karriere machen und in die nächsthöhere Qualifikations- und Besoldungsstufe aufsteigen können. Bei Piloten ist das der Kapitänsrang, bei Stewards und Stewardessen die Position des Kabinenchefs, auch Purser genannt. Der von Spohr entfachte Großkonflikt böte genügend Anlass für einen Streik. Er wäre jedoch unzulässig, weil es die neuen Ableger bislang nur rudimentär gibt und damit auch keine ausgelaufenen oder gekündigten Tarifverträge, die mittels Streik reformiert werden könnten. Sollte die VC ihre Mitglieder dennoch zum Ausstand aufrufen, würde sie sich womöglich schadensersatzpflichtig machen. Als Ausweg aus dem Dilemma dient nun offenbar der vergleichsweise überschaubare Konflikt um die Frührente für Flugzeugführer. Ein VC-Sprecher weist den Verdacht, der Streik vom vergangenen Freitag könnte sich auch gegen das Wings-Konzept richten, empört zurück. Es gehe ausschließlich um die Übergangsversorgung für die Lufthansa-, Lufthansa-Cargo- und Germanwings-Piloten, betont er. Interne Rundschreiben, die in den vergangenen Wochen und Monaten an die gut 5000 privilegierten Konzernpiloten gingen, erzeugen allerdings einen ganz anderen Eindruck. Demnach gab Spohr erst mit seinen Billigplänen den Startschuss für den jüngsten Arbeitskampf. 68 DER SPIEGEL 36 / 2014 Noch Mitte Mai, gut einen Monat nach dem dreitägigen Pilotenstreik von Anfang April, waren die VC-Funktionäre laut einer aktuellen Crew-Info voll des Lobes über die Verhandlungsstrategie der neuen Lufthansa-Personalchefin Volkens. Sie hatte zu den Tarifgesprächen erstmals einen Mediator zugezogen, der nach einer in der Schweiz entwickelten Methode arbeitet. Er beendete den sonst üblichen ritualisierten Schlagabtausch aus Forderung, Gegenforderung, Ablehnung und Nachbesserung und versuchte stattdessen, erst einmal die Interessenlage beider Seiten zu ergründen und in Einklang zu bringen. Hier ist uns ein ermutigender (Neu-)Anfang gelungen, jubelten die Mitglieder der 17-köpfigen Tarifkommission. Wir haben daher die Hoffnung, nun wieder Verhandlungen auf einer konstruktiven Basis führen zu können. Die Harmonie hielt allerdings nicht lange, genau genommen nur bis zum 9. Juli. Da stellte Spohr in Frankfurt sein Vor - haben zur Runderneuerung der Lufthansa vor. Der erwartete Aufschrei der VC blieb zunächst aus, offenbar, weil viele Kapitäne noch im Urlaub waren. Zudem wollten die Funktionäre erst einmal einen Informa - tionstermin mit zwei Konzernvorständen am 22. Juli abwarten. Der fiel jedoch ziemlich ernüchternd aus. Denn schon zwei Tage später schlug die Tarifkommission martialische Töne an: Spohr und Co., hieß es nun, schickten sich an, zahlreiche Tarifvertragsbrüche zu begehen. Gleichzeitig stellten die Arbeitnehmervertreter dem Vorstand ein Ultimatum, sich bis Ende des Monats zu den geltenden Tarifverträgen zu bekennen, und kündigten Infoveranstaltungen für Mitte August an. Der Streit um die Übergangsversorgung, den man zu diesem Zeitpunkt mit eid - genössischer Hilfe schon weitgehend entschärft hatte, wurde nicht einmal erwähnt. Es gab jetzt Wichtigeres: Wings. Regelrecht entlarvend wirkt das letzte Rundschreiben, das am 22. August erschien, dem Tag, an welchem die VC die Verhandlungen zur Übergangversorgung offiziell für gescheitert erklärte. Hauptthema des siebenseitigen Brandbriefs ist die Agenda Spohr, wie das Reformprojekt des Vorstandschefs intern nun genannt wurde. Der Plan sei ein frontaler Angriff auf die angestammten Cockpitarbeitsplätze im Konzern und eine schwere Belastung der Tarifpartnerschaft. Unter ferner liefen wird in zwei Absätzchen dann doch noch einmal das Thema Übergangsversorgung angesprochen, das endlich einer Lösung zugeführt werden müsse. Von der erfolgreichen Annäherung in den Monaten zuvor ist keine Rede mehr. Sie werden in Kürze Aufrufe für weitere Streiks erhalten, heißt es in dem Schreiben stattdessen lapidar, und: Wir rechnen mit einer langen Auseinandersetzung. Wie es wirklich um die Machtverhältnisse bei der Lufthansa steht, dürfte sich spätestens am 17. September zeigen. Dann tagt nach einer halbjährigen Pause wieder der Lufthansa-Aufsichtsrat. Vorstandschef Spohr möchte sich auf der Sitzung den ersten Teil seines Wings-Projekts absegnen lassen und für seine Billigtochter Eurowings zehn Flugzeuge vom Typ Airbus A320 bestellen. Sollten die Arbeitnehmer inklusive der Vertreterin der Leitenden Angestellten dagegen stimmen, gäbe es in dem Gremium ein Patt. Aufsichtsratschef Wolfgang Mayrhuber, der in seiner eigenen Amtszeit als Vorstandschef einen Großkonflikt mit den Piloten gescheut hatte, müsste von seinem Zweitstimmrecht Gebrauch machen, um Spohr beizuspringen. Ein solcher Schritt galt bei der Lufthansa bislang als undenkbar. Doch auch das könnte sich ändern. Sollten die VC-Funktionäre in den kommenden Tagen erneut zu einem unbefristeten Streik aufrufen wie im Frühjahr, könnte es am 17. September tatsächlich zum Äußersten kommen, einer Kampfabstimmung im Aufsichtsrat. Dann wäre ein weiteres Tabu bei der Lufthansa gebrochen. Dinah Deckstein

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70 Wirtschaft Neubauten in Berlin Dumm gelaufen Immobilien Weil die Verträge vieler Baudarlehen schlecht formuliert sind, können die Kunden sie vorzeitig kündigen. Der Bankenbranche drohen Milliardenverluste. Barbara Korthauer kann ihr Häuschen im Düsseldorfer Süden gar nicht genug rühmen: Das Naturschutzgebiet ist nah, der Rhein auch, es gibt herausragende Schulen, und wir sind in 20 Minuten im Stadtzentrum, sagt die Düsseldorferin. Eines allerdings ärgerte die Diplomkauffrau und ihren Mann in den vergangenen Monaten: Während die Zinsen für viele neue Immobiliendarlehen auf nurmehr 2 Prozent purzelten, muss die Familie für ihren Kredit weiterhin rund 4,6 Prozent zahlen. Denn die Verträge wurden 2010 abgeschlossen, und damals war das noch ziemlich günstig, sagt Korthauer. Lange dachte die Familie: dumm gelaufen. Denn eigentlich gilt in Deutschland die Regel, dass solche Kontrakte in den ersten zehn Jahren nur gegen Zahlung einer astronomisch hohen Gebühr ( Vorfälligkeitsentschädigung ) vorzeitig kündbar sind wenn überhaupt. Doch die Korthauers fanden einen juristischen Kniff, um doch auf ein billigeres Darlehen umzuschulden: Die Widerrufsbelehrung ihrer Verträge war schlampig formuliert. Der Anwalt der Familie forderte deshalb die Rückabwicklung des Vertrags und die Bank gab, nur wenige Wochen später, klaglos nach. So sparen die Korthauers nun mit ihrem neuen Kredit rund Euro an Zinsen. Was für Laien klingt wie Zauberei, könnte auch anderen Bauherren bald bares Geld bringen. Denn die fehlerhaft abgefassten Klauseln sind eher der Regelfall in vielen Darlehensverträgen, die zwischen 2002 und 2010 geschlossen wurden, sagt Korthauers Anwalt Julius Reiter von der Kanzlei Baum, Reiter & Collegen. Auch viele Verbraucherschützer bestätigen: Zwei Drittel bis 80 Prozent der Baukreditverträge aus dieser Zeit weisen ähnliche Mängel auf wie bei den Korthauers die Klausel, dass Bauherren zwei Wochen nach dem Abschluss das Darlehen noch kündigen können, ist fehlerhaft formuliert und der Vertrag damit theoretisch unwirksam. Angesichts der aktuell sagenhaft niedrigen Kreditzinsen wird die Masse der Schuldner, die dieses Problem nutzen, um Geld zu sparen, immer größer. Schließlich geht es oft um Zehntausende Euro. Anwälte bereiten sich deshalb auf eine Klagewelle vor und Bankern schwant Böses. Denn zwischen 2003 und 2014 wurden laut Bundesbank mehr als zwei Billionen Euro an privaten Wohnbaukrediten vergeben. Selbst wenn nur ein Bruchteil davon rückabgewickelt werden muss, hätten die Geldhäuser ein Riesenproblem, wie einer aus der Industrie sagt. Besonders skurril daran ist, dass diesmal nicht in erster Linie rücksichtslose Banker schuld sind am Schlamassel sondern der Gesetzgeber. Alles fing damit an, dass die Beamten des Bundesjustizministeriums im Jahr 2002 ein Muster für die Widerrufsbelehrung in Verbraucherdar - lehen entwarfen. Schon bei dessen Veröffentlichung hagelte es massive Kritik von namhaften Experten, der Text sei schlecht abgefasst und selbst gesetzeswidrig. So ließ sich aus der Vorlage nicht zweifelsfrei ablesen, zu welchem Zeitpunkt die Widerrufsfrist beginnt. Erst 2010, nachdem einige weitere Muster vorgelegt und ebenfalls heftig kritisiert worden waren, kam ein Text heraus, der Gesetzesrang hatte und damit weniger anfechtbar war. Bis dahin formulierten Verbände und Bankjuristen an den Vorlagen des Justizministeriums herum, in bester Absicht, eine juristisch wasserdichte Lösung zu finden, wie der Syndikus einer FOTO: ANDREA WARNECKE / PICTURE ALLIANCE / DPA 70 DER SPIEGEL 36/ 2014

71 großen Bank beteuert doch das ging gründlich schief urteilte der Bundesgerichtshof, dass die vom Gesetzgeber entworfenen Mustererklärungen zwar fehlerhaft seien wenn sie aber eins zu eins übernommen würden, gelte der sogenannte Vertrauensschutz. Übersetzt heißt das: Banken, die einen fehlerhaften Text einst ohne Änderung kopierten, sind aus dem Schneider. Das hat aber nur eine Minderheit der Geldhäuser gemacht, sagt der Berliner Jurist Christian-Albrecht Kurdum von der Kanzlei Dr. Späth und Partner. Die anderen haben sozusagen verschlimmbessert. Bei Familie Korthauer etwa hätten unter anderem wichtige Hinweise gefehlt, die bei einem Fernabsatz geschäft nötig sind, sagt Anwalt Reiter, bei dem also keine persönliche Beratung vor Ort stattfand. In anderen Fällen stechen die Widerrufserklärungen optisch nicht genug hervor, Absätze wurden verschoben, wichtige Zwischenüberschriften weggelassen oder zentrale Sätze verändert. Das hört sich nach Wortklauberei an, sagt Anwalt Kurdum, reicht aber trotzdem oft für eine Rückabwicklung des Darlehens. Viele Anwälte gehen noch weiter: Theoretisch könnten Kunden sogar die in der Vergangenheit zu viel bezahlten Zinsen zurückverlangen, sagt Reiter und obendrauf Zinsen für jenes Geld verlangen, das sie an die Bank schon als Tilgung überwiesen haben. Schließlich konnte die Bank mit diesen Mitteln arbeiten. Bei Verbraucherschützern und Juristen im ganzen Land herrscht deshalb Hoch - betrieb. Allein in der Verbraucherzentrale Hamburg gingen in den vergangenen Günstiges Geld Effektivzins für private Wohnungsbaukredite mit 10 Jahren Zinsbindung, jährlich in Prozent 5,67 % Quelle: FMH-Finanzberatung 2, Darlehensverträge, die zwischen 2002 und 2010 abgeschlossen wurden, sind oft fehlerhaft. In solchen Fällen kann der Kreditnehmer eine Rückabwicklung erzwingen zwölf Monaten Anfragen von rund Kreditnehmern ein, die den sogenannten Widerrufsjoker nutzen wollen. In dieser Geballtheit habe er das noch nie erlebt, sagt der dortige Spezialist Christian Schmid-Burgk. Entsprechend alarmiert gibt sich die Finanzbranche und so mancher Banker appelliert jetzt an die Moral seiner Kunden. Die Empfehlung von Verbraucherschützern, mit dem Trick Kredite umzuschulden, sei ein Aufruf zum Rechtsmissbrauch, moniert eine Spezialistin aus der Branche. Die Möglichkeit zum Widerruf sei doch eigentlich dafür da, dass Kunden noch ein paar Nächte über eine schwerwiegende Entscheidung schlafen könnten. Kreditnehmerin Korthauer kann diese Argumentation sogar nachvollziehen, nichtsdestotrotz gibt es Rechtsgrundlagen, sagt sie. Mit dem eingesparten Geld kann ich vielleicht einen meiner Söhne für ein halbes Jahr auf eine ausländische Schule schicken, fügt sie hinzu. Viele andere Kunden reagieren schlicht mit Spott auf die Appelle der Branche. Wir müssen doch jetzt bei Banken nicht über Mitleid sprechen, ich bitte Sie, sagt einer, der früher sogar einmal selbst bei einem Geldhaus gearbeitet hat. Schließlich können die Banken in anderen Fällen weiterhin Entschädigungssummen verlangen, die zu den höchsten in Europa gehören. So sagt das jüngste Problem der Finanzindustrie auch viel über das gestörte Verhältnis der Branche zu ihren Kunden aus. Mittlerweile schwenken die Banken deshalb um. Wurden lange viele Fälle per Vergleich erledigt, legen es Banken nun vermehrt auf langwierige Prozesse an. Immer öfter beschweren sich Kunden zudem bei Verbraucherzentralen, kein neues Geldhaus für eine Anschlussfinanzierung zu finden, wenn sie vorzeitig aus ihrem alten Vertrag herausgekommen sind. Man hat den Eindruck, dass sich Banken da abgesprochen haben, sagt Hartmut Schwarz von der Verbraucherzentrale Bremen. Die Branche dementiert das. Viele Anwälte haben zudem Tipps, wo noch eine Anschlussfinanzierung zu bekommen ist. Deshalb hoffen die Banken nun auf die Politik in Berlin. Es wäre zu begrüßen, heißt es in der Erklärung mehrerer Bankenverbände, wenn der Gesetzgeber eine zeitliche Obergrenze für Widerrufe von Altverträgen schaffen würde. In anderen Branchen seien für ähnliche Fälle Übergangsfristen von einem Jahr festgelegt. Justizminister Heiko Maas hält davon aber wenig. Eine gesetzliche Begrenzung der alten Widerrufsrechte würde erheblich in bestehende Verbraucherrechte eingreifen und sei nicht gerechtfertigt, erklärt eine Sprecherin seines Hauses. Für ihn ist es Sache der Justiz, im konkreten Einzelfall zu entscheiden. Anne Seith DER SPIEGEL 36/

72 Wirtschaft Frohe Botschaften Geldanlage Kunden der BMW Bank klagen, ein Manager des Instituts habe sie jahrelang betrogen. Das Kontrollsystem der Bank hat offenbar versagt. Helga Burgdorf brachte der BMW Bank das entgegen, was eine Bank am dringendsten benötigt: Vertrauen. Die Münchnerin investierte seit 2012 insgesamt 1,6 Millionen Euro in Geschäfte, die ihr der BMW-Manager Heinz N. vorgeschlagen hatte. Jetzt ist sie ihr gesamtes Vermögen los und fragt: Wie konnte das geschehen? Warum konnte N. so lange sein Unwesen treiben? Denn es gab durchaus Verdachtsmomente gegen den Mann, der zur Leitung Neugeschäft bei den Financial Services der BMW Group gehörte. Er war der Revision bei einer Prüfung aufgefallen. Doch der Konzern stoppte seinen Mitarbeiter nicht. Insgesamt machen über 150 Kunden der BMW Bank geltend, sie seien durch die Geschäfte des Managers geschädigt worden. Mehrere Anwälte bereiten Klagen gegen die BMW Bank vor. Der Schaden soll sich auf drei Millionen Euro summieren. Für Helga Burgdorf begann alles im Jahr 2012 mit dem Kauf eines Mini Countryman. Heinz N., der den Kauf abwickelte, zeigte sich äußerst zuvorkommend und kümmerte sich persönlich um die Fahrzeugübergabe. Er sei zuständig für VIP- Kunden, habe er erklärt. Es war die Phase, in der BMW-Manager N. das Vertrauen der Kundin gewann. Später, so erinnert sich Helga Burgdorf, habe ihr N. geraten, ihr Vermögen bei der BMW Bank anzulegen. Die 56-Jährige verfügte über 1,6 Millionen Euro. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern wollte kein Risiko eingehen. Deshalb mochte sie ihr Geld nicht bei einer der ausländischen Banken anlegen, die mit hohen Zinsen lockten, sondern bei einem Institut, dem sie vertrauen konnte. Warum nicht bei der BMW Bank? Anfangs lag das Geld auf einem Festgeldkonto. BMW-Manager N. habe ihr dann angeboten, sie könne sich an einem Finanzierungsgeschäft für Autos beteiligen, das ihr eine höhere Rendite einbringe und absolut sicher sei. Als besonders gute Kundin könne sie zu Sonderkonditionen vier Fahrzeuge, 5er, 6er und 7er von BMW, erwerben, die nach BMW Welt in München: Meine Freunde von der Buchhaltung sechs Monaten an bonitätsgeprüfte Kunden weiterverkauft würden. Der Aufschlag betrage dann zehn Prozent. Das wäre ihr Gewinn. N. nannte sogar die Namen der bonitätsgeprüften Kunden. Die Euro sollte Helga Burgdorf von ihrem BMW- Konto auf sein Konto überweisen. An dieser Stelle hätte Frau Burgdorf misstrauisch werden können, wohl auch werden müssen. Doch BMW-Mitarbeiter N. war für sie BMW. Er hatte sie in seinem Büro empfangen, sie hatte beobachtet, wie die Mitarbeiter in der BMW Welt, in der sie ein Auto abgeholt hatte, vor ihm strammstanden. Und Schreiben von N. hatten als Absender seine -Adresse bei BMW. Am 1. Oktober 2012 schrieb er: Ich habe frohe Botschaften für Sie. In einer späteren Mail schlug N. Frau Burgdorf vor, Euro zusätzlich zu investieren. Absender des Angebots: Heinz N., BMW Group, Financial Services, Leitung Neu - geschäft. Gelegentlich erhielt Frau Burgdorf mehrere Tausend Euro als vermeintlichen Gewinn aus diesen Geschäften. Das investierte Geld aber floss nicht zurück, weil es angeblich wieder neu angelegt wurde. Und wenn Frau Burgdorf mal etwas reklamierte, schrieb der BMW-Manager, er habe die Rechnung persönlich widerrufen, und fügte an: Meine Freunde von der Buchhaltung. Immer wie ein Panzer los, ohne vorab Rücksprache zu halten. Im Jahr 2012 wurde die interne Revision der BMW Bank misstrauisch. Ihr war bei einer Routineprüfung aufgefallen, dass Manager N. persönlich 22 Fahrzeuge vom Unternehmen gemietet und dann weitervermietet hatte. Die Revision forderte ihn auf, diese Geschäfte zu beenden. Die Prüfer sind nach Ansicht von Michael Feldhahn, dem Anwalt von Frau Burgdorf, damit ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen. Sie hätten den dienstlichen Mail-Account des Mitarbeiters überprüfen müssen, über den er seine Geschäfte abwickelte. Dann wären diese schon 2012 aufgeflogen, als der Schaden noch überschaubar war. So jedoch gingen sie bis August 2014 weiter, bis neben Frau Burgdorf weitere Kunden Geld von dem BMW-Manager N. zurückforderten, der nicht zahlte. Offenbar hatte er das Geld längst ausgegeben. Die Kunden beschwerten sich bei BMW, der Fall flog auf. Diesmal prüfte BMW den Mail-Account von N. und kündigte dem Manager fristlos. BMW erklärt, man bedauere sehr, dass Kunden aus privaten Geschäften mit einem ehemaligen Mitarbeiter Schaden entstanden ist. Den Schaden der Kundin Burgdorf aber will BMW nicht ausgleichen, auch nicht teilweise. Der Autokonzern sei nicht für die Privatgeschäfte seines Managers haftbar. Die Frage, ob BMW zumindest teilweise Verantwortung dafür trägt, wird demnächst wohl ein Gericht klären. Anwalt Feldhahn will auch prüfen, ob die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) sich des Falles annehmen und die Kontrollmechanismen der BMW Bank untersuchen muss. Frau Burgdorf hat ihr Vermögen verloren. Es ist kein Trost, dass sich auch Ärzte, Unternehmer und ein Richter beklagen, sie seien von dem BMW-Manager betrogen worden. Sie möchte nicht, dass ihr wirklicher Name in der Zeitung steht. Sie kennt die Klischees: Naive Frau verspielt ein Vermögen. Dabei hat sie nur einem vertraut, dem sie besser nicht vertraut hätte, so wie die Ärzte, der Unternehmer und der Richter. Dietmar Hawranek FOTO: KAVEH ROSTAMKHANI / DAPD 72 DER SPIEGEL 36 / 2014

73 Medien Amazon Spieleportal will expandieren Es war ein strategisch kluger Deal, den Amazon in der vergangenen Woche verkündete: Für 970 Millionen Dollar hat der Onlinekonzern das amerikanische Streaming-Portal Twitch gekauft. Auf der Plattform können Internetnutzer anderen live beim Computerspielen zuschauen. Dabei wird es nicht bleiben, wie ein Twitch-Sprecher sagt. Zukünftig wolle die Seite verstärkt andere Inhalte zeigen, etwa Musikkonzerte oder Pokerturniere. Außerdem sei es absolut vorstellbar, dass der Streaming- Dienst von Amazon produzierte Serien anbiete, solange diese mit den Interessen der Community übereinstimmen, wie der Sprecher erklärt. Twitch will trotz der Übernahme weitgehend eigenständig bleiben Amazon habe das dem Unternehmen zugesichert. So sollen Management und Belegschaft weitermachen. Gleichzeitig will Twitch die Ressourcen seines Käufers nutzen etwa Amazons enorme Kapazitäten an Servern. Amazon engagiert sich verstärkt im Videospielemarkt und hat vor einiger Zeit ein eigenes Entwicklungslabor eingerichtet. akn Lanz in der Sommershow 2013 ZDF Wetten, dass..? vor Gericht Dem ZDF ist es in den vergangenen Monaten nicht gelungen, sich mit der früheren Wetten, dass..? -Redaktionsleiterin Birgit Göller zu einigen. Im November soll das Arbeitsgericht Mainz über die Klage der 55-Jährigen gegen den Sender befinden. Göller war nach der missglückten Sommershow 2013 aus Mallorca ihres Postens enthoben worden. In jener Ausgabe saß unter anderem die RTL- Trash-Familie Geissen auf der Promi-Couch, Markus Lanz tanzte Limbo, die Kritiken waren verheerend, die Zuschauerzahlen so schlecht wie nie zuvor bei Wetten, dass..?. Laut ZDF-Umfeld will Göller vor Gericht unter anderem belegen, dass sie die Sendung in Absprache mit ihren Vorgesetzten vor - bereitet habe und man die Pleite nicht ihr allein anlasten könne. Nun klagt die Show- Expertin auf Rückkehr in ihre alte Position als Wetten, dass..? -Chefin auch wenn es die Sendung nur noch bis Dezember geben wird. Weder Göller noch der Sender wollten sich auf Anfrage äußern. akü FOTOS: SASCHA BAUMANN / DPA (O.); BJORN LARSSON ROSVALL / DPA (U.) Boulevard Bunte muss Euro zahlen Die von einem Sparprogramm gebeutelte Bunte ist vom Landgericht Hamburg zur Zahlung einer hohen Geldsumme verurteilt worden: Euro plus Zinsen muss das Klatschmagazin aus dem Burda-Verlag als Entschädigung an den Ehemann von Prinzessin Madeleine von Schweden, Christopher O Neill, zahlen. Gegen das Urteil kann Burda noch Rechtsmittel einlegen. Hat das Urteil Bestand, wäre es eine der höchsten Summen, zu der je eine Redak tion in Deutschland für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten verurteilt wurde. O Neills Anwalt, der Berliner Medienrechtler Simon Bergmann, hatte gegen die Veröffentlichung von Fotos geklagt, die das frisch verheiratete Paar in den Flitterwochen auf den Seychellen gezeigt hatten. Die Fotos waren schon im vergangenen Jahr gerichtlich ver boten worden, nun ging es um eine Entschädigung. Die Bunte teilte mit, sie wolle sich zu dem Vorgang derzeit nicht äußern. mum Prinzessin Madeleine, Ehemann Christopher O Neill 2013 DER SPIEGEL 36 /

74 Medien Angriff der Albaner Fernsehen Der Onlinedienst Netflix hat gefeierte Serien wie House of Cards hervorgebracht. Er dominiert das Internet-TV in den USA. Nun startet das Unternehmen in Deutschland. Für die Uhr-Kultur ist es der Anfang vom Ende. Reed Hastings, Gründer, Chef und Vordenker von Netflix pflegt sein Steve-Jobs-Image. Aber nur ein bisschen. Er lacht. Es soll ein Scherz sein. Aber nur ein bisschen. An einem heißen Augusttag im südlichsten Zipfel des Silicon Valley trägt Hastings zwar keinen schwarzen Rolli, das Lieblingsoutfit des Apple- Gründers Jobs, aber einen schwarzen Pullover sowie eine schwarze Hose. Und wie schon Jobs vor ihm will auch Hastings ein Technologieunternehmer sein, der die alte Medienwelt fast im Alleingang überrollt. Er sagt: Für junge Menschen ist das herkömmliche Fernsehen einfach seltsam. Sie schauen den ganzen Tag auf ihr ipad oder Smart - phone und wissen gar nicht, was gemeint ist, wenn ihnen jemand sagt:,der Spielfilm kommt heute Abend um 20 Uhr. Hastings verkauft die neue Fernsehwelt. Für 8,99 Dollar im Monat bekommen Netflix-Kunden in den USA Zugang zu Tausenden Fernsehserien und Filmen, die über das Internet gestreamt werden auf den Fernseher, den Computer, das Smart - phone. Wohin auch immer. Wann auch immer. Vergangenes Jahr hat Netflix rund 4,4 Milliarden Dollar Umsatz gemacht. Tendenz: rasant wachsend. In der Lobby der Unternehmenszentrale in Los Gatos stehen zwei Emmys, die amerikanischen Fernseh-Oscars. Es riecht nach frischem Popcorn, laufend produziert von der Empfangsdame. Die Büros und die Konferenz - räume vermitteln typische Hollywood-Eleganz: weiße Eames-Sessel, beigefarbene Teppiche, helles Holz. Die Toiletten sind nach Filmstars benannt: Ginger Rogers und Konkurrent aus Übersee Marktanteile der größten Online-Videotheken in Deutschland 1. Halbjahr 2013 Quelle: GfK/ProSiebenSat.1 Zahlende Netflix-Abonnenten weltweit 3. Quartal 2011 Anteil von Netflix am Datenverkehr in Nordamerika* *zu Spitzenzeiten; Quellen: Netflix, Sandvine Fred Astaire. Ähnlich sieht es auch in den Filmstudios und Produktionsfirmen in Los Angeles aus. Doch hinter der Hollywood-Kulisse arbeiten bei Netflix vor allem die Maschinen. An den Schreibtischen sitzen Ingenieure 34% 35% 18% 12% 10% 9% 2. Quartal Mio und Programmierer. Datenanalysen bestimmen das Programm. Das Herz des Unternehmens ist ein Algorithmus. Netflix hat sich in atemberaubendem Tempo zum Protagonisten der Digitalisierung der TV-Landschaft aufgeschwungen. Das Fernsehen löst sich von festen Programmzeiten, von den Vorgaben der Sender. Das ist keine technische Kleinigkeit, es ist ein Kulturwandel. Denn es war ja erst das Fernsehen, das Uhrzeiten wie 20 Uhr, Uhr, Uhr zu geheiligten Zeiten machte, nach denen sich auch das übrige Freizeitverhalten der Nation richtete. Reste dieser Haltung finden sich darin, dass es bis heute kaum einer wagt, sonntags zwischen Uhr und Uhr anzurufen, weil dann der Tatort läuft. Doch diese Erstarrungen löst das Internetfernsehen genauso auf, wie der Internethandel die Ladenschlusszeiten aufweicht und das Smartphone die festen Arbeitszeiten. Firmen wie Netflix sind für das Fernsehen, was Amazon für den Handel und Apple für die Musik - industrie ist. Nun kommt Netflix nach Deutschland. Am 16. September feiert das US-Unternehmen in Berlin seinen Start in Europas größtem Fernsehmarkt, begleitet von einer millionenschweren Werbekampagne. Es gibt bereits mehrere deutsche Anbieter für On- Demand-Fernsehen. Doch Netflix ist größer. Viel größer. Das Unternehmen hat knapp 50 Millionen Abonnenten. Abends wird regelmäßig ein Drittel der amerikanischen Breitbandkapazität von Netflix-Nutzern belegt. Der Erfolg beruht auch darauf, dass das Unternehmen mit großem Aufwand eigene Fernsehserien produziert und damit Abonnenten lockt. 120 Millionen Dollar steckte Netflix allein in zwei Staffeln House of Cards, einen Politthriller über einen skrupellosen Politiker mit Kevin Spacey in der Hauptrolle. Die Serie wurde zum globalen Hit, selbst Präsident Barack Obama verkündete öffentlich, er sei ein großer Fan. Inzwischen lässt Hastings viele exklusive Serien produzieren, auch speziell für den europäischen Markt. Allein fünf Reihen mit Marvel-Superhelden sind in Entwicklung. Insgesamt sollen in den nächsten beiden Jahren über 20 eigene Serien in Produktion sein. Deutschland ist Teil einer globalen Strategie. Hastings sind die USA längst zu klein geworden: Er will zur internationalen digitalen Fernsehmacht werden. Bis zu 80 Prozent des Umsatzes sollen künftig aus dem Ausland kommen. Seine Überzeugung ist, dass das Internet nahezu alles globalisiert, auch die Inhalte des Fernsehens. Er sagt: Wir wollen in jedem Land der Welt erfolgreich sein. In rund 40 Ländern ist Netflix schon vertreten, etwa in Großbritannien oder Argentinien. Deutschland als größter europäischer Markt ist ein wichtiger Pfeiler der Expansionsstrategie. Und vielleicht die größte Herausforderung. Denn in Deutschland gibt es bereits so viel Fernsehen für so wenig Geld wie sonst fast nirgends auf der Welt. Gestartet war Netflix Ende der Neun - zigerjahre ursprünglich als DVD-Versand - unternehmen. Die Idee war Hastings bereits 1997 gekommen, als er einen ausgeliehenen Film mit sechs Wochen Verspätung in der Videothek zurückgab und dafür 40 Dollar Strafe zahlen musste. Dass aus dem DVD-Versand später einmal ein Online-Streaming-Dienst werden würde, sei ihm von Anfang an klar gewesen: Ich bin mit dem Internet groß geworden. Ich wusste, dass das Netz wachsen und wachsen würde. Deshalb habe er die Firma auch nicht DVD per Post genannt. FOTO: GABRIELA HASBUN 74 DER SPIEGEL 36 / 2014

75 Netflix-Gründer Hastings: Wir wollen in jedem Land der Welt erfolgreich sein Hastings hat in Stanford studiert, der Kaderschmiede der Technologiebranche. Von dort übernommen hat er nicht nur einen Abschluss in Informatik, sondern auch einen Hang zur Überheblichkeit, die so typisch ist für viele Silicon-Valley-Unternehmer, die überzeugt sind, die Welt mit ihren Technologien zu einem besseren Ort zu machen. Er spricht gern davon, wie das traditionelle Entertainment-Ökosystem gebaut sei auf gesteuerter Unzufriedenheit. Wie die alte, ineffiziente Unterhaltungsbranche zu permanenter Warterei zwinge: zu warten, dass es endlich 19 Uhr ist und der Film anfängt. Zu warten, dass eine neue Episode der Lieblingsserie ausgestrahlt wird. Zu warten, endlich nach Hause zu kommen, wo der Fernseher steht. Vor seinem Studium hat Hastings zwei Jahre in Afrika verbracht, als Mathe-Lehrer in Swasiland. Die Zeit hat ihn geprägt; er sagt: Wenn du mit zehn Dollar durch Afrika gereist bist, hast du keine Angst mehr, ein Unternehmen zu gründen. Seine Managementphilosophie hat Hastings vor einigen Jahren in einer 128-seitigen Präsentation zusammengefasst. Es ist eine Mischung aus Betriebsverfassung und Verhaltensanleitung unter dem Titel Die Netflix-Kultur: Freiheit und Verantwortung. Das Dokument, öffentlich einsehbar im Internet, ist inzwischen legendär im Silicon Valley, kaum ein Start-up-Gründer, der es nicht gelesen hat. Die zentralen Punkte: Es gibt keine begrenzte Zahl an Urlaubstagen und keine festen Arbeitszeiten. Hartes Arbeiten spielt keine Rolle: Wer viel Zeit investiert, aber zweitklassige Ergebnisse bringt, bekommt eine Abfindung. Wer mit mini - malem Aufwand erstklassige Ergebnisse bringt, bekommt eine Gehaltserhöhung. Hastings selbst nimmt fünf bis sechs Wochen Urlaub im Jahr. Er hat im Netflix- Gebäude keinen eigenen Schreibtisch, lässt sich einfach nur mit seinem iphone von einem Büro ins nächste treiben, arbeitet oft von zu Hause, von unterwegs, in Los Angeles, wo das Unternehmen einen rasant wachsenden Außenposten hat. Trotz aller Nähe zu Hollywood ist Netflix kein Unterhaltungskonzern, sondern ein Technologieunternehmen. Die Strategie ist, nicht einfach das größte Programmangebot zu haben da ohnehin niemand alle der zigtausend verfügbaren Sendungen sehen kann, sondern für jeden Kunden die passende TV-Ware zur richtigen Zeit anzubieten. Dazu hat Netflix in den vergangenen Jahren eine riesige Datensammlung über die globalen Fernsehgewohnheiten angelegt, die andauernd aufwendig analysiert wird. Wir prognostizieren für jeden Programminhalt genau, wie oft er gesehen wird, sagt Hastings. Denn wenn wir das DER SPIEGEL 36 /

76 Netflix-Serie Orange Is the New Black : Spät dran in Deutschland gut vorhersagen, wissen wir, wie viel wir dafür bezahlen wollen. Die Analysen gingen ins Detail, sagt Hastings. Wir sehen dann etwa: Ah, die Deutschen mögen gern Filme, in denen Motorräder vorkommen, davon brauchen wir mehr. Ständig arbeiten die Netflix-Informatiker an neuen Varianten: Schauen die Kunden mehr, wenn ihnen auf der Startseite zusätzliche Filme präsentiert werden? Müssen sich die Bilder bewegen oder größer sein? Im ersten Stock der Firmenzentrale hängt eine große Tafel, auf der jede Woche mit grünem und rotem Filzstift notiert wird, welcher der vielen neuen Algorithmen, die gerade getestet werden, statistisch aussagekräftige Ergebnisse liefert. Je mehr Kunden es werden, desto besser klappt das. Doch selbst die besten Algorithmen können erst einmal nichts daran ändern, dass es Bezahlfernsehen jeder Art in Deutschland schon immer schwer hatte. In den USA ist Netflix eine beliebte Alternative, weil Haushalte im Schnitt um die hundert Dollar im Monat für TV-Inhalte ausgeben. Dafür bekommen sie von den Kabelanbietern meist Hunderte obskurer Kanäle geliefert, die kaum genutzt werden. Der Versuch, die Deutschen von den Segnungen des Bezahlfernsehens zu überzeugen, hat dagegen schon den Medien - tycoon Rupert Murdoch ein Vermögen gekostet. Dessen Abosender Sky Deutschland wies im vergangenen Jahr zum ersten Mal einen operativen Gewinn aus nach 20 Jahren. Der Streaming-Dienst Watch - ever steht derzeit zum Verkauf, weil das Geschäft nicht läuft. Der ProSiebenSat.1- Ableger Maxdome soll Verluste schreiben. Hastings glaubt, dass auch die Deutschen den Vorteilen des On-Demand-Fernsehens nicht werden widerstehen können: keine Werbung, fließender Übergang zwischen Geräten wie Fernseher oder ipad, HD-Qualität. Und vor allem für geplante 7,99 Euro im Monat. Das Problem ist: Ähnliches bietet die Konkurrenz wie Prime Instant Video von Amazon oder Maxdome. Netflix ist spät dran in Deutschland, vielleicht sogar zu spät. Seit Monaten schon sind Vertreter des Unternehmens in ganz Deutschland unterwegs und sprechen mit Rechtehändlern es geht nun darum, ein möglichst attrak - tives Paket für den deutschen Dienst zusammenzustellen. Ziel sei ein Programmangebot, das den spezifischen Geschmack und die Kultur des jeweiligen Landes reflektiere, sagt Ted Sarandos, Netflix- Programmchef. Deswegen hat er für den Deutschland-Start unter anderem die Comedy-Serie Stromberg, eine ganze Reihe Til-Schweiger-Filme und Die Sendung mit der Maus eingekauft. Doch ansonsten tut sich Netflix in Deutschland schwer, obwohl die Amerikaner bereit sind, hohe Preise zu zahlen. Die deutschen Sender und Studios wollen dem Neuankömmling lieber nicht allzu viel exklusive TV-Ware überlassen. Die Rechte am Tatort etwa konnte sich das US- Unternehmen trotz aller Bemühungen bis- FOTO: K.C. BAILEY FOR NETFLIX

77 Medien lang nicht sichern. Die ARD sitzt auf ihrem begehrtesten Schatz und gibt ihn nicht heraus. Auch die Lizenz für viele amerikanische Serienhits besitzt Netflix hierzulande vorerst nicht. Nicht mal die eigene preisgekrönte Serie House of Cards haben die Amerikaner für sich allein die Erstausstrahlungsrechte wurden an Sky Deutschland verkauft. Ohne eigene Inhalte wird es Netflix nicht gelingen, den schwierigen deutschen Es gibt keine begrenzte Zahl an Urlaubstagen und keine festen Arbeitszeiten. Hartes Arbeiten spielt keine Rolle. Fernsehmarkt zu erobern, sagt Wolf Bauer, Chef der größten deutschen Produk - tionsfirma Ufa. Bauer war einer der Ersten, der eine nach Los Gatos schickte, als bekannt wurde, dass Netflix bald nach Deutschland kommen werde. Wie viele andere Produzenten hoffte er auf einen neuen Großkunden für aufwendige TV-Filme und -Serien. Denn in den USA hat Netflix das TV- Produktionsgeschäft geradezu elektrisiert. In Hollywood war es bislang üblich, nur einen Pilotfilm zu produzieren und dann die Einschaltquoten abzuwarten, bevor neue Folgen in Auftrag gegeben werden. Netflix lässt dagen gleich ganze Serienstaffeln produzieren und veröffentlicht sie dann auf einen Schlag. Ein Buch erscheint ja auch nicht in einzelnen Kapiteln, sagt Hastings. Die besten Drehbuchschreiber und Studios stürzten sich geradezu auf die Möglichkeit, Geschichten mit großem Budget gleich über 10 oder 20 Episoden zu entwickeln. Das hat inzwischen dazu geführt, dass auch die großen Sender und On-Demand-Anbieter wie Amazon nun immer öfter gleich ganze Serienproduktionen für Dutzende Millionen Dollar in Auftrag geben. In Hollywood ist bereits von einem neuen goldenen Zeitalter für das Fernsehen die Rede. Eigene deutsche Serien wollte Netflix zum Start zunächst nicht in Auftrag geben. Hastings kündigt aber an: Wir werden sicher auch in Deutschland produzieren. Zunächst müsse Netflix jedoch erst einmal loslegen, um dann zu machen, was das Unternehmen am besten kann: Daten analysieren. Vor dem Start ist alles nur Spekulation, sagt Hastings. Das Wichtigste ist, die Sehgewohnheiten zu verstehen. Erst dann könne Netflix nach und nach das richtige Angebot für den deutschen Nutzer bauen. Entsprechend spiele zunächst keine Rolle, welche Marktposition das Unter - nehmen in Deutschland erobere: Auch wenn wir Dritter oder Fünfter sind, ist das in Ordnung. Schon jetzt verschiebt das Unternehmen aus dem Silicon Valley seinen Fokus auf internationale Produktionen. Dazu schaue man sich genau an, was auf den Raubkopierplattformen beliebt sei. Da falle auf, wie international die Geschmäcker seien von japanischen Zeichentrickfilmen bis zu britischen Krimis. In Arbeit ist unter anderem eine in Marseille spielende Großproduktion gemeinsam mit einem französischen Studio. In Malaysia und Italien wird eine Serie über das Leben von Marco Polo gedreht. Die von den Matrix -Machern entwickelte Science-Fiction-Serie Sense 8 wird zum Teil in Berlin gefilmt, mit dem deutschen Schauspieler Max Reimelt in einer der Hauptrollen und Tom Tykwer als einem der Regisseure. Narcos ist eine Serie über den kolumbianischen Drogenkönig Pablo Escobar, The Crown beschreibt das Leben der britischen Königin Elizabeth II. mit einem angeblichen Budget von 170 Millionen Dollar. Internationale Spielfilme sind ebenfalls in der Planung. Doch auch die Konkurrenz ist auf - gewacht. Amazon investiert inzwischen erhebliche Summen in seinen Streaming- Dienst und produziert zudem eigene Se - rien. Auch Apple arbeitet angeblich an einem Angebot. Um solche Angriffe abzuwehren, wird Netflix in den kommenden Jahren viel Geld ausgeben müssen und dabei darauf hoffen, dass die Anleger das mitmachen. Hastings hat sich in der Vergangenheit von seinen Kritikern nicht aus der Ruhe bringen lassen. Viele Börsen - experten etwa wollten lange nicht an die Netflix-Story glauben. Als ein Analyst vor einigen Jahren schrieb, dass Netflix ein wertloses Stück Scheiße sei, hängte Hastings den Satz in Postergröße an eine Wand in der Firmenzentrale. In den vergangenen 24 Monaten ist die Aktie um mehr als 600 Prozent gestiegen. Und als Jeff Bewkes, Chef des Medienriesen Time Warner, Netflix mit der albanischen Armee verglich, die versuche, die Weltherrschaft zu erobern, trug Hastings ein Jahr lang eine Erkennungsmarke der albanischen Armee um den Hals. Als Nächstes will Netflix die Hürde von 100 Millionen Kunden weltweit überspringen. Hastings sagt: Dann sind wir eine große albanische Armee. Isabell Hülsen, Thomas Schulz

78 Handwerk des Überlebens Im Frauengefängnis der afghanischen Stadt Herat sollen die Gefangenen Fähigkeiten erwerben, die ihnen nach ihrer Entlassung womöglich ein Einkommen verschaffen könnten. Einige von ihnen lernen daher das Teppichknüpfen. Rund 140 Frauen sitzen hier ein, manche haben ihren Ehemann nach Jahren der Qual getötet. Andere wurden nach einer Vergewaltigung beschuldigt, sie hätten außerehelichen Sex gehabt. Syrien Zerstrittene Islamisten Die Zersplitterung der Nusra- Front könnte eine rasche Freilassung der auf dem Golan entführten Uno-Blauhelme erschweren. Denn es ist unklar, ob der Angriff zentral gesteuert war, selbst Nusra-Mitglieder bezweifeln, dass es noch eine gemeinsame Führung gibt. Verschiedene Gruppen unter dem Logo der mit al- Qaida alliierten Nusra verfolgen unterschiedliche Ziele: So kämpfen die Islamisten im Nordosten gegen den Islamischen Staat (IS), während sie sich rund um Aleppo heraushalten viele befürchten dort Uno-Soldaten auf dem Golan sogar einen Seitenwechsel zum IS. Nusra-Kämpfer hatten am vergangenen Mittwoch nahe des syrisch-israelischen Grenzübergangs bei Kuneitra 44 Soldaten von den Fidschi-Inseln entführt. Sie kreisten zudem 72 Soldaten von den Philippinen ein, die sich weigerten, ihre Waffen abzugeben. Soldaten der Assad-Armee haben nach ihrer Niederlage in Kuneitra Schutz und medizinische Versorgung bei der Uno bekommen, deshalb haben wir an - gegriffen, erklärte die lokale Nusra-Führung danach. Die Uno äußerte sich dazu nicht. Doch andere Rebellen zweifeln an der Begründung: Tatsächlich habe Nusra es auf Geländewagen und militärische Ausrüstung der Blau - helme abgesehen, die sie in ihre Hochburg Musairib in der Provinz Deraa gebracht hätten. Die Nusra-Kämpfer haben eine Rechtfertigung für ihren Angriff gesucht. Was sie tun, ist verheerend. Aber keiner wagt es, sich mit ihnen anzulegen, sie sind mächtig und aggressiv, sagt Omar al-hariri, ein Oppositioneller aus Deraa. cre FOTOS: AREF KARIMI / AFP (O.); JACK GUEZ / AFP (U.) 78 DER SPIEGEL 36 / 2014

79 Ausland Griechenland Wir werden eine Allianz bilden Stavros Theodorakis, 51, ist Gründer und Vorsitzender der neuen Partei To Potami. Theodorakis SPIEGEL: Ein halbes Jahr nach der Gründung liegt Ihre Partei in Umfragen knapp unter zehn Prozent. Warum braucht Griechenland To Potami? Theodorakis: Ein Land in der Krise braucht eine neue Führung. Es kann nicht sein, dass die Politiker, die uns erst in Gefahr gebracht haben, uns jetzt retten wollen. Auch wenn sie ihre Fehler bereuen, ist das nicht glaubwürdig. SPIEGEL: Warum sollen die Wähler Ihnen mehr glauben? Theodorakis: Weil wir keine Partei sind wie die anderen, die sich nur mit sich selbst beschäftigen. Und wir sind keine Protestbewegung, To Potami will etwas verändern, kurz: Wir wollen regieren. SPIEGEL: Ohne ein einziges Mitglied mit politischer Erfahrung in Ihren Reihen? Theodorakis: Ich kenne Politiker, die ohne Lebenserfahrung regieren, das ist viel schlimmer. Wir haben Mitglieder mit Verwaltungserfahrung, Unternehmer, Akademiker. Und wir werden ja nicht allein regieren, sondern eine Allianz bilden, eine Verschwörung des Guten. SPIEGEL: Viele Griechen wollen aus der Eurozone aus - treten, um sich dem Spardiktat zu entziehen. Sie auch? Theodorakis: Ich kann mir kein Szenario vorstellen, in dem sich Griechenland von der EU entfernt. Das heißt jedoch nicht, dass wir gehorsam jeden Preis gegenüber Brüssel zahlen müssen. Wir drohen nicht, aber wir sind auch nicht unterwürfig. SPIEGEL: Wollen Sie ein Amt in der nächsten Regierung? Theodorakis: Minister zu sein interessiert mich nicht. Ich habe jahrelang die erfolgreichste TV-Show des Landes moderiert. Ich wollte immer etwas für Griechenland tun, aber nie Politiker werden. mer Fußnote Um 59 % Simbabwe First Shopper Die Ehefrau von Diktator Robert Mugabe will offenbar Präsidentin werden. Bisher ist die ehemalige Sekretärin Grace Mugabe, 49, eher für ihre Einkaufsexzesse berühmt und für die Gerissenheit, mit der sie sich bereichert. Von den Simbabwern wird die First Lady spöttisch First Shopper genannt. Allein nach der massenhaften Vertreibung weißer Landwirte soll sie sich sechs Farmen unter den Nagel gerissen haben. Nun strebt sie auch in die Politik. Mitte August ließ sie sich zur Vorsitzenden der einflussreichen Frauenliga der Regierungspartei wählen. Sie hat dadurch gute Aussichten, ins Politbüro der Zanu- PF aufzusteigen und beim Wahlkongress im Dezember als Kandidatin nominiert zu werden. Es droht ein Kampf um die Nachfolge des 90-jährigen Präsidenten, der Simbabwe seit 34 Jahren regiert. Denn auch der vom Militär unterstützte Justizminister und die Vizepräsidentin machen sich Hoffnung auf das Amt. Von ihrem Streit könnte Grace Mugabe profitieren. Ihr gehe es nur darum, den gestohlenen Reichtum des Clans zu sichern, sagen Kritiker. Vielleicht beendet der Diktator den Zwist um sein Erbe auch selbst indem er noch einmal antritt. bgr FOTOS: YANNIS KONTOS / POLARIS / LAIF (O.); AARON UFUMELI / DPA (U.) ist die Polizeigewalt zurückgegangen, nachdem eine Stadt im US-Bundesstaat Kalifornien ihre Ordnungshüter mit Kameras ausgerüstet hat, die automatisch jeden Schritt und jedes Gespräch aufzeichnen. In einer ähnlichen Studie in Arizona halbierte sich die Zahl der Beschwerden über die Beamten. Nachdem ein Polizist in Ferguson einen Schwarzen erschossen hatte, wird nun die Ausstattung der Beamten mit Kameras erwogen. Die Über - wachung habe disziplinierende Wirkung auf Bürger wie Poli - zisten, vermuten Experten. hst Mugabe mit Ehefrau Grace DER SPIEGEL 36 /

80 Ausland Krieg ohne Kriegserklärung Ukraine Über tausend russische Soldaten sollen im Osten des Landes kämpfen. Moskau leugnet die heimliche Invasion nun droht ein großer Waffengang. Inmitten verblühter Sonnenblumenfelder steht ein Mann im weißen Hemd und fragt sich, ob hier gerade Krieg oder Frieden herrscht. Der Mann heißt Paul Picard, er ist Franzose und Leiter der OSZE-Beobachtermission an der russischukrainischen Grenze im Süden Russlands. Von diesem Grenzabschnitt sickern seit Wochen freiwillige Kämpfer, Waffen, aber auch schweres Kriegsgerät und russische Soldaten in den Osten der Ukraine ein. Die Soldaten kommen, um die prorussischen Separatisten in ihrem Kampf gegen die Streitkräfte der neuen Zentralregierung in Kiew zu unterstützen. Sie gehören zu Wladimir Putins geheimer Armee in der Ukraine. Paul Picard kann jeden Tag zusehen, was an diesem Grenzabschnitt geschieht, verhindern kann er es nicht. Das Mandat seiner Beobachtermission ist limitiert auf wenige Meter der Grenze; auf mehr hatten sich Russland und die anderen OSZE-Länder nicht verständigen können. Deshalb dürfen Picard und seine 15 Mitarbeiter nicht einmal das Innere von Autos und Lastwagen inspizieren, die offiziell die Grenze passieren. Und sie dürfen erst recht nicht jene aufhalten, die auf den vielen unbewachten Feldwegen vordringen, die in die Ukraine führen. Einer der Grenzübergänge unter OSZE- Beobachtung liegt nahe einer Einwohner-Stadt auf russischem Boden; im Norden, Süden und Westen ist sie umgeben von ukrainischem Territorium. Die Präsidenten Putin, Petro Poroschenko* Die Liste der Lügen ist lang 80 DER SPIEGEL 36 / 2014 Stadt heißt absurderweise Donezk, genau wie die 160 Kilometer weiter westlich gelegene umkämpfte Hochburg prorussischer Separatisten. Seit Wochen spielt auch das russische Donezk eine wichtige Rolle im Konflikt um die Zukunft der Ukraine. Es ist eine der Drehscheiben für Putins schleichende Invasion. Am Stadtrand liegen zwei Kasernen, in einer stehen etwa fünfzig Militärfahrzeuge. Durch das Stadt - zentrum spazieren prorussische Kämpfer aus der Ost ukraine, die nach Russland kommen, um sich zu erholen, wie sie sagen. Auf der Straße in Richtung Grenze steht eine Gruppe von Tschetschenen mit schusssicheren Westen und Pistolen vor ihren Ladas ohne Autokennzeichen. Und während OSZE-Mann Picard gerade russischen Fernsehsendern ein Interview gibt, fährt hinter ihm ein Militärjeep mit russischem Kennzeichen und Aufklebern der russischen Luftlandetruppen vorbei. Männer in Camouflage sitzen darin, die sich gegenüber dem SPIEGEL als Aufständische ausgeben, womöglich aber russische Soldaten sind oder es noch vor ein paar Tagen waren. Aber darüber kann Picard nicht sprechen, dazu brauchte er eindeutige Belege. In seinen Berichten ist stets nur die Rede von Menschen in Militärkleidung, die die Grenze in beiden Richtungen überqueren. Am Grenzübergang hier in Donezk und im 25 Kilometer entfernten Gukowo, wo er und seine Männer stationiert sind, sagt er stattdessen in die Kamera, habe die OSZE keine Lieferung von militärischem Gerät auf ukrainisches Gelände beobachten können. Es ist ein Satz, der am Abend in den russischen Nachrichten verbreitet werden wird. Picards Feststellung, dies gelte allerdings nur für sein OSZE-Mandat, also für 40 Meter Grenze in Donezk und 40 Meter Grenze in Gukowo, verschweigt die russische Propaganda. Wie so vieles. Die Liste der gezielten Lügen, mit denen Präsident Wladimir Pu- * Am vergangenen Dienstag in Minsk. tin der eigenen Bevölkerung und der Welt die Situation in der Ukraine erklärt, ist lang und zynisch. Bis hin zu der Behauptung, dort gesichtete russische Soldaten hätten sich wohl verlaufen oder verbrächten ihre Urlaubszeit im Kriegsgebiet. Putins Lügengebäude, das in der vergangenen Woche durch zahlreiche Beobachter wie auch Nato-Satellitenfotos ins Wanken kam, birgt viele Risiken, nicht nur außenpolitisch, sondern auch im eigenen Land. Die Wiedereingliederung der Krim und Putins harte Haltung gegenüber dem Westen hatten die Beliebtheitswerte des Präsidenten zwar auf über 80 Prozent schnellen lassen. Als es vor einer Woche dann aber erste Meldungen über frische Gräber von in der Ukraine gefallenen russischen Rekruten gab, kippte auch bei Putin-Anhängern die Stimmung. Selbst das Kreml-nahe Meinungsforschungsinstitut FOM ermittelte, dass zwar 57 Prozent der Russen dafür sind, die pro- FOTO: REUTERS

81 Zerstörte Häuser im ostukrainischen Donezk FOTO: ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES russischen Rebellen in der Ostukraine zu unterstützen. Lediglich 5 Prozent aber wollen einen offenen Einmarsch, nur 9 Prozent sprechen sich für Waffenlieferungen an die Separatisten aus. Putin lügt auch deshalb, weil die Angst vor Krieg im russischen Volk tief verwurzelt ist. Allein im 20. Jahrhundert führte Moskau mehrere große Kriege mit mehr als vierzig Millionen Opfern. In Afghanistan wie auch in den beiden Tschetschenienkriegen hielt der Kreml die Zahl der Opfer unter den russischen Soldaten jeweils geheim. Daran fühlen sich viele Russen nun wieder erinnert. Ob Putin mit der verdeckten Invasion der vergangenen Wochen nur seine Verhandlungsposition gegenüber dem Westen verbessern will kurz vor einem EU- und einem Nato-Gipfel oder ob er tatsächlich einen Landkorridor bis hin zur Krim anstrebt, war bis Freitagabend der vergangenen Woche schwer zu beurteilen. Offensichtlich ist nur: Er will mit allen Mitteln, auch mit Krieg, verhindern, dass die Ukraine sich dem Westen anschließt. In einem Ferienlager der Kremljugend erklärte Putin am Freitag, man müsse die Regierung der Ukraine zwingen, mit den Aufständischen im Osten der Ukraine zu verhandeln. Und für diesen Kurs braucht er unter anderem Soldaten, die die Separatisten in der Ostukraine unterstützen. Soldaten, von denen die Welt nicht erfahren soll und die oft selbst über ihre Mission nichts wussten. Soldaten wie Andrej Balobanow aus Sibirien. Der russische Rekrut Balobanow war gerade 18 Jahre alt, als er im vergangenen Dezember zum Wehrdienst einberufen wurde. Seine Geschichte steht exemplarisch für das, was in den vergangenen Wochen wohl hundertfach passiert ist. Am Tag seines Abschieds von zu Hause weinte Andrej, sein Vater drückte ihn an die Brust, beide trösteten sich mit Wodka. Im Flur des schlichten Backsteinhauses in Panowo war kurz zuvor ein Spiegel zersprungen, ein böses Omen für die Familie. Als hätte Andrej schon geahnt, dass etwas Schreckliches passieren wird, sagt sein Vater Sergej heute, er hatte Angst vor dem Wehrdienst. In den ersten Wochen schrieb Andrej noch fröhliche Briefe nach Hause. Aber als er seiner Mutter im April zum Geburtstag gratulierte, wirkte er eigenartig verstört. Danach habe ich seine Stimme nie wieder gehört, sagt Marina Balobanowa. Bis er plötzlich Ende Juli als Kriegsgefangener in einem ukrainischen Video auftauchte. Die Eltern waren bis zu diesem Tag davon ausgegangen, dass Andrej in der Garnison nahe der Wolgastadt Samara seinen Dienst absolviert. Ein Kommandeur bestätigte ihnen das auch auf Anfrage, als sie versuchten, mit ihrem Sohn Kontakt aufzunehmen. Leider sei Andrej nicht zu DER SPIEGEL 36 /

82 WEISS- RUSSLAND RUSSLAND Der unerklärte Krieg Charkiw Russische Artillerie Kiew U K R A I N E Transnistrien von Moskau unterstützte abtrünnige Moldau-Teilrepublik Slowjansk Donezk Starobeschewe Nowoasowsk am 27. August von Separatisten erobert Luhansk Donezk Neu errichtetes russisches Militärlager Rostow am Don REPUBLIK MOLDAU Odessa Halbinsel Krim von Russland Anfang 2014 annektiert Asowsches Meer Krasnodar 100 km Sewastopol Schwarzes Meer Simferopol auf US-Satellitenbildern dokumentierte Aktivitäten des russischen Militärs aktuelle Kampfhandlungen von Rebellen kontrolliertes Gebiet Nato-Präsentation eines US-Satellitenbilds mit russischen Artillerieeinheiten in der Ukraine sprechen, teilte er den Eltern mit. Da war er wohl schon nach Belgorod unweit der ukrainischen Grenze beordert worden. Das zumindest hatte der junge Soldat einem Freund per SMS mitgeteilt. Anfang Juli kam dann ein Ermittler aus der 300 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Omsk zu den Balobanows. Man suche ihren Sohn, er habe sich unerlaubt von der Truppe entfernt, sagte er. Marina und Sergej Balobanow waren nun verrückt vor Sorge, der Vater erstattete Vermisstenanzeige bei der Polizei in Omsk. Am 17. Juli schrieb die Familie einen Brief an Wladimir Putin: Verehrter Wladimir Wladimirowitsch, wir bitten darum, unseren Sohn Andrej zu finden. Mutter Marina, Verkäuferin im Sonnenaufgang, einem der drei Geschäfte in ihrem 800- Einwohner-Dorf, kramt im Zimmer ihres Sohnes nach der Kopie des Schreibens, holt Fotos und Urkunden aus der Kommode. Sie sollen mir endlich meinen Andrej zurückgeben, sagt sie. Er war doch nur einfacher Soldat, und Russland führt doch angeblich gar keinen Krieg. Sie sieht müde aus, hat seit Wochen Ringe unter den Augen. Zu wissen, dass ihr Kind vielleicht in einem Krieg kämpfte, den es offiziell nicht gibt, lässt sie schlecht schlafen. Am vergangenen Donnerstag erhielt die Familie dann einen Brief der Staatsanwalt- 82 DER SPIEGEL 36 / 2014 schaft: Andrej sei ein Deserteur, stand darin. Das Land, auf das er seinen Eid geschworen hat und das ihn auf geheime Mission schickte, will ihn nun zum Vaterlands - verräter machen. Es kann sein, dass unser Sohn bis zu fünf Jahre ins Straflager kommt, sagt der Vater. Wir sind uns aber sicher, dass er nur auf Befehl seiner Kommandeure in der Ukraine gelandet ist. Auch aus dem Kreml haben die Balobanows Post bekommen, die indirekt bestätigt, dass sich Andrej in ukrainischer Kriegsgefangenschaft befindet. Man habe die Angelegenheit dem russischen Außenministerium übergeben. Ständig rufen uns seither Leute an, die sich nicht vorstellen und fordern, dass wir nicht mit der Presse über den Fall reden, sagt Sergej Balobanow. Einschüchterungsversuche, Lügen und Propaganda begleiten Putins schleichende Invasion in der Ukraine seit Wochen. Hunderte russische Soldaten sollen aus ihren Einheiten abgezogen worden sein, angeblich wurden sie auf Manöver geschickt und dann in die Ukraine beordert. Oft wohl ohne ihre eigene Zustimmung. In Pskow an der Grenze zu Estland verjagte die Polizei vor einer Woche Journalisten, die über die Beerdigung zweier Soldaten berichten wollten, die allem Anschein nach in der Ostukraine gefallen waren. Es mehren sich die Fälle, bei denen russische Soldaten unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen sind. In der Wolgastadt Kostroma zogen am vergangenen Donnerstag etwa 25 Mütter und Väter vor die Kaserne und forderten Aufklärung über den Verbleib ihrer Söhne. Sie alle dienten im Regiment 1065, nun gab es keine Nachrichten mehr von ihnen. Eine Frau schrie wütend, ihr Mann habe sie aus der Rebellenhochburg Donezk in der Ostukraine angerufen, man solle aufhören mit den Lügen. Ihr schadet euren Söhnen und Männern, wenn ihr nun anfangt, darüber mit den Medien zu reden, warnte daraufhin ein Offizier die Frau. Seit dem Beginn der Ukrainekrise täuscht Putin die Welt. Eine Annexion der Krim? Werde nicht erwogen, sagte der Präsident am 4. März zu Journalisten. 14 Tage später ließ er sich und den Anschluss der Halbinsel mit einer Kundgebung auf dem Roten Platz feiern. Auch mit den bewaffneten Uniformierten auf den Straßen der Krim wollte er damals nichts zu tun haben. Das seien lokale Selbstverteidigungskräfte, erklärte er auf der März-Pressekonferenz. Uniformen könne man ja in jedem Dorfladen kaufen. Eine weitere Lüge, wie der Präsident am 17. April bei einer TV-Fragestunde selbst zugab. Natürlich habe er Militär eingesetzt, ohne Soldaten habe man die Volksabstimmung nicht durchführen können.

83 Ausland FOTO: YEVGENY KONDAKOV / DER SPIEGEL Die Kreml-Medien folgten ihm die ganze Zeit treu. Korrespondenten des Putinnahen Internetportals Lifenews verbreiteten Fotos eines verletzten Mädchens, das sich angeblich im umkämpften Donbass- Gebiet befand. Tatsächlich stammte das Bild aus dem syrischen Aleppo. Als vergangene Woche Moskaus Soldaten in der Ukraine enttarnt wurden, schrieb die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti lediglich von einem für Moskau ungünstigen Verlauf des Informa - tionskrieges. Dabei ist die Frage, ob reguläre russische Soldaten auf der Seite der Separatisten kämpfen oder russische Militärs mit Urlaubsschein, mittlerweile wohl nur noch eine akademische. Der Blick auf die vergangenen Wochen zeigt auf jeden Fall: Das angeblich nicht geplante, verdeckte Eindringen russischer Soldaten auf ukrainisches Territorium war durchaus geplant und organisiert. Die Rebellen hätten ihr Abenteuer ohne direkte russische Hilfe auch gar nicht überlebt. Ohne Putin wäre der Traum von der Gründung Neu-Russlands längst ausgeträumt. Zu schwach waren die Separatisten, zu unzureichend ihre Ausrüstung. Und der Kreml wusste um ihre Not. Zum Teufel noch mal, niemand will kämpfen, hatte der selbst ernannte Verteidigungsminister der Separatisten, Fjodor Beresin, Mitte August in einem Interview geklagt. Die ukrainische Armee schießt auf die Stadt, die Leute fallen und all das, weil die Donezker Männer nicht an die Front gehen wollen. Die erste große Niederlage der Separatisten lag da gerade sechs Wochen zurück: Am ersten Juliwochenende mussten sie sich aus der Stadt Slowjansk absetzen, sie konnten sie nicht mehr halten. Slowjansk, 120 Kilometer nördlich von Donezk gelegen, war seit April ihre Hochburg gewesen, das Symbol des Aufstands gegen die Regierung in Kiew. Dort ernannten sie ihren ersten Volksbürgermeister, dort begannen sie, Barrikaden aufzuschichten und ihre Volksherrschaft zu errichten. Als dann aber die ukrainische Armee und die Nationalgarde nach langem Zögern Ernst machten mit der Rückgewinnung der Stadt, gerieten die Rebellen in Bedrängnis und flohen in die Gebietshauptstadt Donezk. Es war nur der Beginn einer ganzen Serie: In jenen Tagen mussten die pro - russischen Rebellen weitere Städte im Norden räumen, darunter das wichtige Kramatorsk. Sie verloren nach Wochen erbitterten Kampfes auch von ihnen besetzte Vororte westlich von Donezk wie Marjinka, dann die wichtige Kreisstadt Schachtarsk im Osten, in deren Nähe die malaysische Boeing abgestürzt war. Schon mehrere Wochen zuvor hatten sie die Küstenstadt Mariupol verlassen müssen, in der fast Menschen leben dort war das ukrainische Asow -Bataillon eingerückt. Auch an Technik mangelte es nun. Die ukrainischen Kasernen, die die Rebellen eingenommen hatten, waren leer geräumt, neue Beutewaffen nicht mehr greifbar. Mitte August nahm das von den Separatisten gehaltene Gebiet nur noch ein Prozent der Gesamtfläche der Ukraine ein. Kiew kündigte daraufhin die baldige Einnahme von Donezk an. Militärisch waren die Aufständischen zu diesem Zeitpunkt klar ins Hintertreffen geraten. Aber nicht nur das: Auch der erwartete Volksaufstand zu ihrer Unterstützung blieb aus. Im Fernsehkanal der Aufständischen klagte ihr damaliger Verteidigungsminister Igor Strelkow mehrfach darüber, dass sich kaum Freiwillige für die Volkswehr der Separatisten meldeten, sie brauchten mindestens noch Mann. Nach eigenen Aussagen hatte die Volkswehr zu dieser Zeit etwa Mann unter Waffen, denen Ukrainer gegenüberstanden. Und selbst die Zahl schien Beobachtern übertrieben. Die plötzliche Wende kam erst vor knapp zwei Wochen. Am sichtbarsten wurde der Umschwung beim Kampf um das kleine Ilowajsk eine Stadt, die zwar nur Einwohner hat, aber ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt ist. Die ukrainische Armee hatte bereits am 10. August versucht, Ilowajsk zu stürmen, vergebens. Acht Tage später gingen die Ukrainer erneut zum Angriff über. Am 19. August um fünf Uhr früh meldete der zuständige Kommandeur, Semen Sementschenko, zwei Drittel von Ilowajsk seien von seinen Leuten besetzt. Sie hätten es geschafft, ins Zentrum vorzudringen, und dort die ukrainische Flagge gehisst. Auch dieser Ort schien gefallen, der östliche Zugang nach Donezk endlich frei. Doch dann deckten plötzlich Salven russischer Grad -Raketenwerfer die Stadt ein, russische Panzer tauchten auf, ein mörderischer Straßenkampf ent - brannte. Der ukrainische Kommandeur Sementschenko wurde durch Splitter verwundet. Von einem Fleischwolf, einer wahren Metzelei sprach einer der Kämpfer: Es Soldateneltern Balobanow: Russland führt doch angeblich gar keinen Krieg DER SPIEGEL 36 /

84 Ukrainische Soldaten in Ilowajsk am 26. August: Plötzlich deckten Salven russischer Raketenwerfer die Stadt ein hagelte Raketen und Granaten, Panzerschüsse, Gewehrfeuer und die Schüsse von Snipern wechselten sich ab. Noch am Abend desselben Tages zogen sich die Ukrainer zurück und meldeten große Verluste. Am 21. August teilte das Innenministerium in Kiew mit, die Verluste bei Ilowajsk machten ein Viertel der Gesamtverluste aller ukrainischen Freiwilligen seit Beginn der Kämpfe aus. Der Armeestab setzte erneut Reserven in Marsch, doch drei Tage später drangen neue Rebelleneinheiten ein und schnitten die Ukrainer vom Hinterland ab: Fünf ukrainische Bataillone sind seit dem 25. August nun bei Ilowajsk eingekesselt. Ähnliches widerfuhr den Ukrainern in Jassynuwata, einem strategisch wichtigen Vorort von Donezk. Semen Sementschenko, der Kommandeur des Donbass-Bataillons, hatte sich seit Langem über die Behauptung Kiews aufgeregt, die Separatisten würden schnell in Panik geraten. Das Gegenteil sei der Fall, so Sementschenko, weil sie immer neue Unterstützung aus Russland bekämen, während sich Kiews Reserven erschöpften. Vergangene Woche nahmen die Ukrainer tatsächlich bei Ilowajsk russische Fallschirmjäger fest. Der neue Premier der Donezker Volksrepublik, Alexander Sachartschenko, hatte bereits am 15. August das eingestanden, was Putin bis heute hartnäckig leugnet: direkte russische Hilfe. Vor Mitgliedern seines Kabinetts bestätigte er, dass Russland die Truppen der Volksrepublik im entscheidenden Moment nicht im Stich lasse. 84 DER SPIEGEL 36 / 2014 Wörtlich sagte er: Und jetzt möchte ich euch noch schnell eine wirklich gute Nachricht mitteilen: Wir bekommen eine große Verstärkung bis zu 150 Stück Militärtechnik, davon 30 Panzer, der Rest sind Panzerwagen. Außerdem 1200 Mann, die in den letzten Monaten auf dem Territorium Russlands ausgebildet wurden. Moskau pfiff Sachartschenko umgehend zurück, er modifizierte daraufhin seine Aussage in Teilen. Donnerstag vergangener Woche sprach er allerdings in einem Interview für den Moskauer TV-Sender Rossija 24 erneut von 3000 bis 4000 Freiwilligen aus Russland, die aufseiten der Rebellen kämpften, darunter aktive Militärs. Die Bereitschaft der Rebellen für so viel Aufrichtigkeit mutet nur auf den ersten Blick paradox an. Es liegt im Interesse der Separatisten, den großen Bruder Russland in den Konflikt hineinzuziehen als Garantie für ihr eigenes Überleben. Und das gelingt ihnen. Putin lobte vergangene Woche erstmals öffentlich die ernsthaften Erfolge der Volkswehr. Und fügte hinzu, Kiew solle sich endlich mit den Vertretern des Donbass an den Verhandlungstisch setzen. Damit meint er wohl Männer wie den Premier Sachartschenko, die nicht mal in Donezk auf großen Rückhalt stoßen: Repräsentanten des Donbass, wie Putin behauptet, sind sie auf keinen Fall. Um jedoch diesen Anschein zu wahren, hatte Moskau in den vergangenen Wochen die russischen Statthalter in Donezk durch Ukrainer ersetzt, eine rein taktische Maßnahme. Der Premier der Donezker Volksrepublik aber zeigt sich an Verhandlungen mit Kiew gar nicht mehr interessiert. Auch eine Föderalisierung komme nicht mehr infrage, sagte er vor Kurzem, es gehe jetzt nur noch um die völlige Unabhängigkeit der Ostukraine. Es wäre verwunderlich, wenn auch das nicht längst mit Putin abgesprochen ist. Und Russlands Präsident einmal mehr heuchelt, wenn er nun zu Verhandlungen aufruft. Am Freitagabend hatten die Rebellen weitere Dörfer und Kleinstädte unweit der von ihnen eingenommenen Einwohner-Stadt Nowoasowsk erobert. Außerdem meldeten sie den Abschuss von gleich vier ukrainischen Kampfhubschraubern. Auf der 120 Kilometer langen Landstraße zwischen Nowoasowsk und Donezk war kein einziger ukrainischer Posten mehr zu sehen. Kämpfer beider Seiten bereiten sich nun auf einen größeren Waffengang vor. Angeblich, so verbreiteten die Rebellen am Freitag, sei die Hafenstadt Mariupol bereits eingeschlossen. Wir werden diese strategisch wichtige Stadt vollständig einnehmen, verkündete euphorisch ein prorussischer Separatist mit dem Kampfnamen Attai. Danach möchte der Mann aus dem Kaukasus am liebsten bis Kiew durchmarschieren, so sagt er, und die Faschisten dort an einer Laterne aufknüpfen. Benjamin Bidder, Moritz Gathmann, Christian Neef, Matthias Schepp Video: Russische Truppen in der Ukraine spiegel.de/app362014ukraine oder in der App DER SPIEGEL FOTO: REUTERS

85 Ausland FOTO: CONNOR MATHESON / REPORTDIGITAL / DER SPIEGEL Taub und blind Großbritannien 1400 Kinder sollen in Rotherham missbraucht worden sein und die Stadt schaute weg. Die Geschichte eines unglaublichen Skandals. Jessica war 14, als sie Arshid kennenlernte. Sie sagt, sie habe sich rasch in ihn verliebt. Er war zehn Jahre älter als sie, fuhr einen silbernen Opel Astra, hatte Muskeln und hörte ihr stundenlang zu. Seine Kumpels nannten ihn Mad Ash. Am Anfang war er zärtlich. Jessica wohnte damals bei ihren Eltern im nordenglischen Rotherham, aber am liebsten war sie bei Ash. Sie sah ihn als ihren Freund. Nach drei oder vier Monaten fing er an, ihr zu drohen und sie zu schlagen. Zum ersten Mal wurde sie mit 14 schwanger, sie trieb ab. Beim zweiten Mal beschloss sie, das Kind zu behalten. Da war sie 15. Sie sagt, sie habe zwar den Verdacht gehabt, dass Ash nicht nur mit ihr, sondern auch mit anderen Mädchen schlafe. Aber beweisen konnte sie es nicht. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in Rother - ham und wickelt sich in einen gelben Wollschal, als müsste sie sich gegen die Kälte schützen. Jessica ist nicht ihr echter Name, sie will nicht, dass ihr Sohn unter seiner Herkunft und der Vergangenheit seiner Mutter leidet. Denn Jessica trug dazu bei, dass einer der größten Missbrauchsskan dale Großbritanniens ans Licht gekommen ist. Furchtbar vor allem, weil der Missbrauch in aller Öffentlichkeit geschah und fast die ganze Stadt jahrelang wegsah. Betroffen sind womöglich Tausende Kinder in Rotherham und Umgebung. Vielen Fällen ist gemeinsam, dass Sozialbehörden, Polizei und Stadtrat über lange Zeit untätig blieben, als sich junge Mädchen mit wesentlich älteren Männern auf sexuelle Beziehungen einließen. Dass es nicht nur ein paar Einzelfälle waren, sondern dass es ein System gab. Als Jessica mit Ash zusammenkam, hatte er bereits zwei Haftstrafen hinter sich, unter anderem wegen Raub. Und noch bevor die Beziehung endete, war bei Sozial - einrichtungen der Verdacht bekannt, dass Ash wohl einer Gruppe von Männern angehörte, die mutmaßlich mehr als 40 Mädchen in Rotherham sexuell ausbeutete. Doch kaum jemand unternahm etwas. Erst im vergangenen Jahr ordnete die Stadtverwaltung eine unabhängige Untersuchung an, nachdem Jessica ihre Geschichte einem Journalisten der Londoner Times erzählt hatte. Das Ergebnis der Untersuchung liegt nun vor: 153 Seiten, verfasst von der Sozialforscherin Alexis Jay, die einen Missbrauch in großem Stil beschreibt. Zwischen 1997 und 2013 sollen demnach schätzungsweise 1400 Kinder sexuell ausgebeutet worden sein, schreibt Jay. Es scheint, als hätte sich Rother ham jahrelang blind und taub gestellt. Manche Mädchen sollen von mehreren Tätern vergewaltigt, entführt, geschlagen Missbrauchsopfer Jessica: Mit 14 verliebte sie sich in ihren Peiniger, der sie sexuell ausbeutete und von Stadt zu Stadt verschoben worden sein. In einigen Fällen sollen die Täter sie mit Benzin übergossen und gedroht haben, sie anzuzünden, um sie davon abzuhalten, zur Polizei zu gehen. Die Mehrzahl der Täter waren pakistanischstäm - mige Männer, die in Rotherham lebten. Trotzdem nahm die Verwaltung keinen direkten Kontakt zu Vertretern dieser Gemeinschaft auf, um zu überlegen, wie man das Problem gemeinsam angehen könnte, schreibt Jay. Sozialarbeiter, Ermittler, Kinderschützer, Missbrauchsexperten und Jugendhelfer sie alle wollten offenbar gar nicht wissen, was vor ihren Augen geschah. Denn Anhaltspunkte hätte es genug gegeben. Bereits 2002, 2003 und 2006 kursierten in der Verwaltung Berichte von Experten, in denen der Missbrauch thematisiert wurde. Ab 2007 untersuchte die Polizei eine Reihe von Fällen, die allerdings nur in Ausnahmen zu Prozessen führten. Jays Bericht ist nicht nur ein Dokument des Totalversagens einer Stadt, sondern stellt auch ein ganzes Land bloß, dessen Sozialsystem bei den Schwächsten versagt. Einer der wenigen, die zur Aufklärung beitrugen, war der Times-Reporter Andrew Norfolk. Er beschrieb im Herbst 2012 die Geschichte der 13-jährigen Amy, die von mindestens sechs Männern zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden war. Bereits 2011 hatte er in einem anderen Artikel aufgedeckt, dass die Behörden trotz zahlreicher Hinweise nichts unternahmen. Die Stadtverwaltung reagierte auf eigentümliche Art: Statt die Vorwürfe endlich aufzuklären, suchte sie nach dem Informanten, um das Leck zu stopfen. Etliche Behördenmitarbeiter aus den Jahren 1997 bis 2013 sind bis heute noch im Dienst. Der verantwortliche Polizeikommandeur, seit zwei Jahren im Amt, lehnt einen Rücktritt ab obwohl selbst Premierminister David Cameron seinen Abgang fordert. Rotherham gleicht jetzt einer Stadt unter Belagerung, die Verwaltung schottet sich ab. In ihrem Wohnzimmer am Stadtrand erzählt Jessica, dass sich damals kaum jemand für ihre Ängste interessiert habe. Mehrfach bat sie Sozialarbeiter um Hilfe. Ein Gericht verbot ihrem Exfreund schließlich den Kontakt mit ihr, aber auch das half wenig. Nach einem von Ashs Gewaltanfällen, erzählt Jessica, habe ein Polizist zu ihr gesagt, Ash habe nun mal das Recht, seinen Sohn zu sehen. Inzwischen ist sie 29. Zusammen mit anderen Opfern hat sie einen Anwalt beauftragt, der eine Klage gegen die Verwaltung von Rotherham vorbereitet. Sie will, dass die Verantwortlichen für ihre Versäumnisse ins Gefängnis gehen. Sie hätten mich von Ash fernhalten müssen, sagt Jessica. Christoph Scheuermann DER SPIEGEL 36 /

86 Ausland Doppeltes Spiel Türkei Der US-Geheimdienst NSA überwacht das Land mit großem Aufwand. Zugleich liefern die Amerikaner den Türken Zieldaten von Führern der kurdischen PKK. Es war eine Dezembernacht im Jahr 2011, in der am Berg Cudi im türkisch-irakischen Grenzgebiet etwas geschah, was die einen danach als Massaker bezeichneten, die anderen als Unglück. Mehrere F-16-Kampfjets des türkischen Militärs hatten in jener Nacht eine Karawane von Dorfbewohnern bombardiert, offenbar im Glauben, es handle sich um Guerillakämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die Gruppe befand sich auf dem Rückweg aus dem Nordirak, ihre Maultiere waren unter anderem mit Treibstoffbehältern beladen. Es waren Schmuggler, keine PKK-Kämpfer. Bei dem Angriff starben 34 Menschen. Bemerkt worden war der Treck aus der Luft durch eine amerikanische Predator - Drohne. US-Analysten hatten ihre türkischen Kooperationspartner alarmiert. Der Aufklärungsflug mit den tragischen Folgen war der bislang deutlichste Einblick in die überaus enge Zusammenarbeit amerikanischer und türkischer Geheimdienste im Kampf gegen die kurdischen Separatisten. Die PKK wird von den USA und der EU zwar als terroristische Vereinigung geführt, aber aufgrund der Bedrohung des Nordiraks durch IS-Milizen erlebt sie gera - de einen radikalen Imagewandel: Deutsche Politiker erwägen Waffenlieferungen an die PKK, manche überdenken die Einstufung als Terrororganisation. Dokumente aus dem Archiv des Whistle - blowers Edward Snowden, die der SPIEGEL auswerten konnte, belegen nun, wie weit die Kooperation der Amerikaner im Kampf gegen die Kurden tatsächlich ging: Zeitweise reichte die NSA ihren Partnern am Bosporus Handy-Positionsdaten von PKK- Führern sogar im Stundentakt weiter, zudem klärten die Amerikaner für die Türken auch Geldströme und Aufenthaltsorte wichtiger PKK-Kader im Ausland auf. Gleichzeitig zeigen die Snowden-Dokumente, dass die US-Regierung ihrem engen Partner in diesem Antiterrorkampf misstraut. Die Türkei gehört zu den besonders intensiv überwachten Ländern. Washington hat die NSA nicht nur damit beauftragt, die Absichten der politischen Führung der Türkei herauszufinden, sondern auch in 18 weiteren Themenfeldern ihre Aufklärungswünsche bei den US-Diensten angemeldet. Der deutsche Bundesnachrichtendienst steht also mit seinem Interesse an der Regierung in Ankara nicht allein da. Die Türkei ist NSA-Unterlagen zufolge der älteste Sigint -Partner der US- 86 DER SPIEGEL 36 / 2014 Geheimdienste in der Region, erste Absprachen lassen sich bis in die Vierzigerjahre zurückverfolgen. Noch vor Gründung der NSA 1952 hatte die CIA sich mit den Türken über eine Kooperation bei der technischen Aufklärung verständigt. Vor allem die geostrategische Lage des Nato-Mitglieds machte die Türkei für westliche Geheimdienste zu einem wichtigen Partner. Zu Zeiten des Kalten Krieges klärten die Amerikaner von ihren Basen am Bosporus aus vor allem den Unterleib der sowjetischen Bestie auf, so ein NSA- Dokument. Heute gehören Russland, Georgien und die Ukraine zu den Zielen, über die die NSA von türkischem Boden aus nahezu in Echtzeit Informationen sammelt. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien ist auch das Nachbarland in den Fokus der amerikanischen Aufklärer NSA-Zentrale, Logo des Ankara-Büros Intensive Zusammenarbeit gerückt, die dafür ihre Abhöreinrichtungen in der Türkei erheblich aufgerüstet haben. Umgekehrt unterstützen US-Geheimagenten die türkische Regierung im Kampf gegen die PKK. In einem als streng geheim eingestuften NSA-Papier von Januar 2007 heißt es, man habe Lokalisierungs - daten und Telefonmitschnitte von PKK- Mitgliedern an die Türkei übergeben: Das hat zum Tod oder der Gefangennahme von Dutzenden PKK-Anführern geführt. Zudem sei es der NSA erstmals gelungen, in die Internetkommunikation von PKK- Führungskadern vorzudringen, die im europäischen Exil lebten. Die dafür notwendigen Mail-Adressen habe der türkische Geheimdienst geliefert. Der Informationsaustausch ging so weit, dass die NSA die Position der Handys ausgewählter PKK- Führer alle sechs Stunden weitergab während einer Militäroffensive der Türken im Herbst 2005 sogar im Stundentakt. Im Mai 2007 unterschrieb der damalige Nationale Geheimdienstdirektor ein Memorandum für eine verstärkte Unterstützung. In einem Bericht anlässlich des Besuchs einer türkischen Delegation im NSA- Hauptquartier in Fort Meade im April 2013 heißt es, seitdem sei die Kooperation gegen das Ziel auf allen Ebenen intensiviert worden. Es folgte eine gemeinsame Arbeitsgruppe namens Combined Intelligence Fusion Cell, in der amerikanische und türkische Spezialisten zusammenarbeiteten unter anderem in der Zielerfassung für mögliche türkische Luftangriffe gegen mutmaßliche PKK-Ziele. Die Informationen für eine ganze Welle von Angriffen im Dezember 2007 seien allesamt von dieser Geheimdienstzelle gekommen, heißt es in einer diplomatischen Depesche aus dem Wiki- Leaks-Archiv. Die intensive Zusammenarbeit wurde auch unter Barack Obama fortgesetzt. Im Januar 2012 hatten die Amerikaner von sich aus vorgeschlagen, die Türken mit verschiedenen Maßnahmen gegen die PKK zu unterstützen unter anderem mit einer modernen Spracherkennungs - anlage. Denn die NSA verfügt über ein System, das die Echtzeitanalyse von mitgeschnittenen Gesprächen erlaubt. Man kann damit nach Schlüsselwörtern suchen und Personen identifizieren, wenn eine entsprechende Stimmprobe hinterlegt ist. Die NSA bot den Türken an, zwei dieser Systeme beim türkischen Geheimdienst FOTO: PATRICK SEMANSKY / AP / DPA

87 FOTO: OZER / A.A. / SIPA PRESS Nato-Partner Erdoğan, Obama in Istanbul 2009: Auf einer Stufe mit Venezuela MIT zu installieren. Im Gegenzug lieferte der Dienst Stimmproben von kurdischen Aktivisten. Die Weitergabe an den türkischen Geheimdienst sehen wir angesichts der lang andauernden und engen Beziehung zur NSA als geringes Risiko an, so die NSA-Leute. Nur die automatische Suche nach Schlüsselwörtern wollten die Fachleute den Türken nicht anvertrauen. Gesteuert wird die enge Zusammenarbeit zwischen der NSA und den türkischen Geheimdiensten von einem NSA-Verbindungsbüro, der Special US Liaison Activity Turkey (Suslat), deren Mitarbeiter in Ankara residieren. Die Amerikaner liefern nicht nur Daten, sondern stellen den türkischen Partnern komplette Abhörsysteme zur Verfügung, schulen deren Personal in Spionagetechnologien und entschlüsseln Mails. Über ihre interne Aufklärungsabteilung Follow the money (SPIEGEL 38/2013) verfolgen sie zudem die Zahlungsströme der PKK in Europa. Die Türken revanchieren sich mit Telefonprotokollen von PKK-Führern und Aufklärungserkenntnissen zu Russland und der Ukraine. Auch wenn es seit März vergangenen Jahres einen Waffenstillstand zwischen der Türkei und dem Kongra Gele Kurdistan (KGK) gibt, wie die PKK sich inzwischen nennt, ist der Informationsaustausch nicht abgebrochen. Berichte zur KGK standen 2013 nach Russland an Platz zwei der Rangliste der Aufklärungsergebnisse, die aus türkischen Quellen in NSA-Datenbanken flossen. Doch die Türkei ist zugleich Partner und Ziel äußerst intensiver Überwachung, wie es in einem internen NSA- Dokument heißt. Dieselben Politiker, Mili - tärs und Geheimdienstler, mit denen die USA über gemeinsame Aktionen gegen die PKK verhandelten, sind aus Sicht der NSA auch legitime Abhörobjekte. Dafür unterhalten die Vereinigten Staaten neben ihrem offiziellen Suslat-Verbindungsbüro und den bei den türkischen Behörden angemeldeten Geheimdienstmitarbeitern zwei streng abgeschirmte Niederlassungen: In Istanbul und in der Hauptstadt Ankara betreibt der Special Collection Service Abhörstationen. Wie intensiv die NSA ihren Partner beobachtet, wird im National Intelligence Priorities Framework deutlich, der Aufklärungswunschliste der US-Regierung. Dieses zentrale Dokument zeigt das standing eines Landes aus amerikanischer Sicht und wird alle sechs Monate dem Präsidenten im Weißen Haus vorgelegt. Im entsprechenden Dokument vom April 2013 gehört die Türkei zur Spitzengruppe der Ausspähziele in 19 Themenfeldern sollen die Geheimdienstler Informationen beschaffen. Damit befindet sich die Türkei auf einer Stufe mit Venezuela und noch vor Kuba. Die Aufklärung der Absichten der türkischen Regierung ist mit der zweithöchsten Dringlichkeitsstufe versehen, Informationen zum Militär und dessen Infrastruktur, außenpolitischen Zielen und Energiesicherheit mit der dritthöchsten. In derselben Liste wird auch die PKK als Ausspähziel ausgewiesen allerdings mit deutlich niedrigerer Priorität. Der NSA-Experte für Eurasien berichtete bereits im August 2007 seinen Kollegen im Hauptquartier Fort Meade über die möglichen Auswirkungen, sollte Recep Tayyip Erdoğan Präsident werden. Und schon im Jahr zuvor hatte die NSA einen Generalangriff auf ihren Partner am Bosporus gestartet, eine gemeinsame Anstrengung mehrerer NSA-Abteilungen, Zugang zu den Computern der politischen Führungsspitze zu erlangen intern hieß die Attacke Turkish Surge Project Plan. Es dauerte ein halbes Jahr, dann meldete das auf die Türkei angesetzte Team den Durchbruch. Man habe die richtige Kombination gefunden und sammle nun die Kommunikation der anvisierten Ziele, heißt es in einem Dokument: Wir haben den allerersten Erfolg in der Ausbeutung von Rechnern der türkischen Führung erzielt. Selbstverständlich haben die US-Dienste auch türkische Diplomaten im Visier, insbesondere solche, die in den USA stationiert sind. Unter dem Decknamen Powder überwacht die NSA einem geheimen Dokument aus dem Jahr 2010 zu- DER SPIEGEL 36 /

88 folge die türkische Botschaft in Washington. Das Programm gegen die Uno-Vertretung der Türken läuft unter dem Codewort Blackhawk. In der türkischen Botschaft hatten die Analysten Zugang zum Telefonsystem, konnten Inhalte direkt von Computern abgreifen und schleusten Spähprogramme in die von den Diplomaten genutzten IT- Systeme ein. Bei der New Yorker Uno- Vertretung wurden ebenfalls Trojaner installiert dort können laut der NSA-Auflistung sogar komplette Festplatten kopiert werden. Viele Erkenntnisse ihrer Spione hat die NSA mit den Five Eyes -Partnern geteilt, den britischen, kanadischen, australischen und neuseeländischen Geheimdiensten. Die Briten haben sich ohnehin eigene Zugänge in Richtung Türkei verschafft. Ihr Überwachungsdienst GCHQ interessiert sich neben der türkischen Politik auch für den Energiesektor. Einem als streng geheim eingestuften britischen Dokument zufolge erhielten die Spione den Auftrag, ab Oktober 2008 die Zugänge zum türkischen Energie - ministerium sowie zu den Unternehmen BOTAŞ, TPAO und Çalık Enerji zu verbessern. Der Auftrag enthielt 13 Zielpersonen, darunter den damaligen Energie - minister Hilmi Güler. Die GCHQ-Analysten begannen noch im Oktober 2008 damit, Satellitenbilder von den Dächern der Ministerien und Konzerne auszuwerten, um herauszufinden, ob man sich über die dort genutzten Kommunikationssysteme Zugang verschaffen könnte mit welchem Erfolg, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Auch der türkische Finanzminister Mehmet Şimşek wird ausdrücklich als Ziel definiert obwohl er neben der türkischen auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt. Damit wäre er eigentlich als Überwachungsziel tabu. Doch eine Abhörorder gegen ihn enthält unter anderem zwei seiner Handynummern und seine private Gmail-Adresse. Das GCHQ erklärt auf SPIEGEL-Anfrage, man äußere sich generell nicht zu operativen Details. Als die britische Tageszeitung Guardian im vorigen Sommer kurz über eine geplante Spähaktion gegen den türkischen Finanzminister anlässlich eines geplanten Besuchs in London im Jahr 2009 berichtete, hatte Ankara den britischen Botschafter einbestellt und von einem skandalösen Vorgang gesprochen. Vom SPIEGEL mit den weitreichenden Überwachungsaktionen von NSA und GCHQ konfrontiert, lehnte ein Sprecher des türkischen Außenministeriums jeden Kommentar ab: Solche Dinge werde man ausschließlich auf diplomatischer Ebene besprechen. Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Michael Sontheimer, Holger Stark Minister Schukri Wir verteidigen hier Europa SPIEGEL-Gespräch Ägyptens Außenminister Samih Schukri über Kairos Vermittlerrolle im Gaza-Krieg, die Todesurteile gegen Muslimbrüder und den Wunsch nach Radpanzern aus Deutschland Seit elf Wochen ist Samih Hassan Schukri, 61, als Außenminister im Amt. Der Jurist war Botschafter in Österreich, der Schweiz und zuletzt in den USA. Nach dem Umsturz 2011 wähnte Schukri seine Karriere am Ende, doch unter dem neu gewählten Präsidenten Abd al-fattah al-sisi ist er wichtiger denn je. Die beiden gelten als Vertraute. Er sei ein zuvorkommender Gastgeber, aber auch harsch und aggressiv, schreiben US-Diplomaten in von WikiLeaks veröffentlichten Berichten. Schukri lädt zum Gespräch um halb acht Uhr morgens, doch dann ruft der Präsident an. Sie reden eine gute halbe Stunde, danach ist Schukri bereit. Deutschland sei ihm wichtig, sagt der Minister zur Begrüßung, er werde in der nächsten Stunde keiner Frage aus - weichen. SPIEGEL: Herr Minister Schukri, sieben Wochen dauerte der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen, bis Sie nun eine unbefristete Waffenruhe vermitteln konnten. Mehr als 2000 Palästinenser starben, Israels Luftschläge haben die Islamisten erheblich geschwächt. Begrüßen Sie das? Schukri: Nein, ganz und gar nicht. Diese unsägliche Zerstörung überragt alles. Jetzt geht es um das palästinensische Volk und darum, dessen Leid zu lindern. SPIEGEL: Die Hamas ist aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen, die von Ihrer Regierung als terroristische Vereinigung bekämpft wird. Ägypten und Israel haben beide den gleichen Feind: die Islamisten. Schukri: Wir wurden Zeuge einer menschlichen Tragödie, da unterscheiden wir nicht, wer welchem Lager angehört und was dessen Ziele sind. Außerdem haben Hamas und Fatah inzwischen eine Ein- heitsregierung gebildet, nun sprechen die Palästinenser wieder mit einer Stimme und können mit Israel wirkungsvoll verhandeln. Das begrüßen und fördern wir. SPIEGEL: Aber die Einheitsregierung ist aus der Not geboren, niemals wird die Hamas ihre Kontrolle über Gaza ernsthaft an den Erzrivalen Fatah abtreten. Schukri: Die Palästinenser müssen selbst entscheiden, wer sie repräsentiert und was für sie das Beste ist. Zumindest theoretisch steht diese neue Regierung für jene Einigkeit, die wir immer gefordert haben. SPIEGEL: So wie Sie bei diesen Worten lächeln, glauben Sie offenbar selbst nicht an die gemeinsame Regierung. Schukri: Ich lächle, weil Sie mich dazu bringen wollen, etwas zu sagen, was ich nicht sagen werde SPIEGEL: nämlich dass Sie froh sind über die Schwächung der Hamas. Schukri: Ich sage: Wir begrüßen die Geschlossenheit. Es ist wichtig, dass die Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas im Gaza-Streifen wieder Fuß fasst. SPIEGEL: Die Aufhebung der Blockade ist die zentrale Forderung der Hamas. Bislang wird Gaza aber nicht nur von Israel abgeriegelt, auch Ägypten hat seinen Grenzübergang in Rafah geschlossen. Schukri: Sie irren sich, der Rafah-Übergang war niemals geschlossen, aber die Passage war reglementiert und abhängig von der Sicherheitslage. Vergessen Sie nicht, dass auf unserer Seite der Sinai liegt, wo uns Gewalt und Extremismus zu schaffen machen. Trotzdem haben auch während des Konflikts Menschen und 1800 Tonnen Lebensmittel den Grenzübergang von Rafah passiert. Wenn Sie von einer Blo- FOTO: SCOTT NELSON / DER SPIEGEL 88 DER SPIEGEL 36 / 2014

89 Ausland ckade sprechen, dann von der durch Israel. Das ist die Besatzungsmacht, die sechs Zugänge kontrolliert und praktisch geschlossen hat. SPIEGEL: Um die Blockade zu brechen, wurden zwischen Ägypten und Gaza Schmuggeltunnel gebaut. Präsident Mohammed Mursi, ein Muslimbruder, unternahm nichts dagegen, doch der neue Präsident Abd al-fattah al-sisi ließ sie zerstören. Schukri: Dieses unterirdische Tunnelsystem diente vor allem dazu, Waffen einzuschleusen. Es bestand zeitweise aus bis zu tausend Tunneln, davon konnten wir viele zerstören. Wir werden auch künftig nicht aufhören, den Schmuggel zu unterbinden. Die Sinai-Halbinsel darf nicht zum Umschlagplatz für Waffen werden. SPIEGEL: Als Lieferant dieser Waffen wird immer wieder Iran genannt. Stimmt das? Schukri: Sie erwarten doch nicht, dass ich hier Namen nenne? Lassen Sie es mich so sagen: Iran spielt die regionale Rolle im Nahen Osten, die es immer hatte. Aufgrund seiner Größe, seiner Möglichkeiten und seiner Einflussnahme zählt es zu den wichtigen regionalen Mächten. Und die Beziehung zwischen Kairo und Teheran war in den vergangenen gut drei Jahrzehnten stets belastet. SPIEGEL: Auch in Ihrem Nachbarland Libyen gewinnen die Islamisten an Einfluss. Schukri: Die Situation in Libyen ist sehr beunruhigend. Die radikalen Elemente, die dort an der bewaffneten Auseinandersetzung beteiligt sind, haben auch Verbindungen zu internationalen Terrororganisationen. Daher geht von Libyen eine große Gefahr aus. Um den politischen Prozess wieder in Gang zu bringen, haben wir in diesen Tagen eine Konferenz der Libyen-Nachbarn Tune - sien, Algerien, Niger, Tschad und Sudan nach Kairo einberufen. Es wäre für uns alle furchtbar, wenn Libyen zerfallen oder zu einem gescheiterten Staat werden würde. SPIEGEL: Ägypten scheint nicht davor zurückzuschrecken, in Libyen auch mit Waffengewalt einzugreifen. Angeblich hat Ihre Luftwaffe Stellungen von islamistischen Milizen bombardiert. Schukri: Das sind Falschmeldungen, solche Berichte entbehren jeder Grundlage. Wir haben in Libyen nicht interveniert, und wir werden dort auch nicht intervenieren. SPIEGEL: Wie kommt es dann, dass in ägyptischen Medien bereits über eine Invasion spekuliert wird? Es heißt, Ihre Truppen hätten bereits die Grenze zu Libyen überquert und würden dort gegen die Islamisten kämpfen. Schukri: Nein, das ist nicht wahr. Wir wollen eine politische Lösung, keinen Krieg. SPIEGEL: Der libysche General Chalifa Haftar versucht, sich als Gegengewicht zu den Islamisten zu positionieren. Wäre ein starker Mann an der Spitze erstrebenswert, um das Chaos zu beenden? Schukri: Die Parlamentswahl mit ihren vielen Parteien und Fraktionen hat gezeigt, dass die Libyer ein neues politisches Bewusstsein entwickelt haben und dass sie die Errungenschaften ihrer Revolution ernst nehmen. Natürlich braucht man Persönlichkeiten, die führen können, aber eben im Rahmen eines funktionierenden pluralistischen Systems. SPIEGEL: Die Ägypter haben sich mit Präsident Sisi, zuvor Armeechef und Vertei - digungsminister, für einen starken Mann entschieden. Schukri: Sisi wurde nicht gewählt, weil er ein strong man ist, sondern weil die Menschen seine Geschichte und seine Eigenschaften kennen, weil sie wissen, dass er ein stabiles und modernes Ägypten will. Aus diesem Grund wurde die Wahl zu einem überwältigenden Vertrauensbeweis. SPIEGEL: Sisi hat über 96 Prozent der Stimmen bekommen, sein Gegenkandidat diente als demokratisches Feigenblatt. Das war doch keine Wahl, sondern eine Krönung. Schukri: Es ist bedauerlich, dass Sie das so sehen. Sie sollten wissen, wie schlecht es den Menschen zuvor unter den Muslimbrüdern ergangen ist. Das ist der Grund FOTO: MOHAMMED SALEM / REUTERS Hamas-Kämpfer in Gaza: Die Palästinenser müssen selbst entscheiden, wer sie repräsentiert und was das Beste für sie ist DER SPIEGEL 36 /

90 Ausland Präsident Sisi, Generäle: Es zählen die Stimmen in der Wahlurne für die große Zustimmung. Hätten wir die Menschen zwingen sollen, für jemand anders zu stimmen, nur damit wir glaubwürdiger dastehen? Nein, es zählen die Stimmen in der Wahlurne, wenn die Wahl frei und fair war. Und das war diese Wahl. SPIEGEL: Genau das wird aber von vielen bestritten. Demokratie sei mehr als eine einzelne Wahl, hat US-Außenminister John Kerry danach kritisch angemerkt. Schukri: Ja, Demokratie ist mehr als eine einzelne Wahl. Damit hat er recht. Aber schauen Sie sich doch um: Wir haben eine freie Presse, die ihre Meinung äußern darf. Wir haben eine starke Zivilgesellschaft und Meinungsfreiheit. SPIEGEL: Das stimmt doch nicht. Erst kürzlich haben Sie eine Delegation von Human Rights Watch gar nicht erst ins Land ge - lassen. Schukri: Auch Human Rights Watch hat sich an unsere Gesetze zu halten. Sie haben sich nicht ordnungsgemäß angemeldet, sondern sind mit einem Touristenvisum eingereist, als wären sie wegen unserer Sehenswürdigkeiten gekommen. SPIEGEL: Die Zweifel an Ägyptens Justizsystem sind durchaus begründet. Todes - urteile gegen Muslimbrüder sind im Sammelverfahren ergangen, von 529 Urteilen in 15 Minuten ist die Rede. Schukri: Das ist eine völlig übertriebene Darstellung. Wenn Angeklagte nicht anwesend sind, dann obliegt es dem Richter gemäß dem geltenden Strafrecht, die Höchststrafe zu verhängen. Wenn der Beschuldigte sich später vor Gericht einfindet, wird das Verfahren wieder eröffnet und eine vertretbare Strafe verhängt. In regulären Verfahren wurde nur eine angemessene Zahl von Todesurteilen gefällt. * Mit dem Redakteur Dieter Bednarz in Kairo. SPIEGEL: Zwischen sieben und zehn Jahren Gefängnis für drei Journalisten des Fernsehsenders al-dschasira, weil sie angeblich falsch berichtet und die Muslimbrüder unterstützt hätten wie können Sie da von vertretbaren Strafen sprechen? Das war ein politischer Prozess. Schukri: Nein, das war es nicht. Unsere Urteile basieren auf unseren Gesetzen. Und: Die Leute hatten nicht die entsprechenden Genehmigungen. Medienfreiheit ist uns sehr wichtig. SPIEGEL: Sie reden nach diesem Urteil noch von Medienfreiheit? Ägyptische Journalisten haben Angst, ausländische Kollegen fühlen sich drangsaliert. Schukri: Ich spreche von Pressefreiheit, weil wir hier in Ägypten 1200 ausländische Journalisten haben, die in ihrer Bericht - erstattung nicht eingeschränkt sind, die wir nicht zu einer besonderen Meinung drängen oder nötigen. So sehe ich das. SPIEGEL: Das sehen viele dieser Journalisten aber anders. Und wie können Sie von Meinungsfreiheit reden, wenn es laut Menschenrechtsaktivisten mindestens poli - tische Gefangene gibt? Schukri: Das müssen Sie mir belegen. Ansonsten ist das für mich eine dieser ständig Schukri beim SPIEGEL-Gespräch* Medienfreiheit ist uns sehr wichtig wiederholten falschen Behauptungen. Um das mal klarzustellen: Es gibt keinen Häftling, keinen einzigen, der nicht aufgrund einer Ermittlung und eines Haft - befehls der Generalstaatsanwaltschaft einsitzt und der nicht auch sein Verfahren bekommt. SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Ihre Regierung hinsichtlich Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Demokratie so scharf kritisiert wird? Schukri: Das hat etwas mit unseren unterschiedlichen Erfahrungen zu tun. Wir haben zwar die gleichen Ansprüche an Freiheit, Demokratie und Stabilität, aber uns fehlen die Möglichkeiten, sie umzusetzen. Erziehung, wirtschaftliche Entwicklung, gesellschaftliches Bewusstsein, all das sind Voraussetzungen dafür, die wir noch nicht so erfüllen, um unseren eigenen Vorgaben gerecht zu werden. Aber wir arbeiten daran. Ich wäre froh, wenn meine Gesprächspartner im Westen, auch in Berlin, mehr Verständnis für unsere Situation hätten. SPIEGEL: Was erwarten Sie ansonsten von Deutschland? Schukri: Wir wünschen uns eine engere Kooperation. Sowohl politisch, wenn es um die Neuordnung der Region geht, aber auch wirtschaftlich. Wir hoffen auf mehr Investitionen in unserem zukunftsträchtigen Markt mit 80 Millionen Menschen und, natürlich, auf mehr Touristen. SPIEGEL: Und Sie erhoffen sich grünes Licht der Bundesregierung für die Lieferung von Radpanzern. Schukri: Die militärische Zusammenarbeit ist für uns sehr wichtig. Wir führen einen Krieg gegen den Terror und verteidigen hier auch Europa. Damit wir diesen Kampf erfolgreich führen können, brauchen wir auch Unterstützung aus Europa. SPIEGEL: Solange Ihre Regierung mit eiserner Faust regiert und befürchtet werden muss, dass deutsche Panzer auch gegen Regimekritiker eingesetzt werden könnten, so lange wird Berlin den Verkauf solcher Fahrzeuge sicher nicht genehmigen. Schukri: In unseren beiden Revolutionen SPIEGEL: beim Volksaufstand gegen Husni Mubarak und der Entmachtung des frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi Schukri:... ist das ägyptische Militär nicht gegen die Bevölkerung vorgegangen. Das sollten auch deutsche Politiker wissen. Wir brauchen diese Fahrzeuge für unseren Krieg gegen den Terror auf dem Sinai. SPIEGEL: Und falls die Bundesregierung Ihren Versicherungen nicht traut? Schukri: Dann suchen wir trotzdem eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Aber für die Aufrüstung unserer Armee werden wir uns nach anderen Lieferanten umsehen müssen. Und wir werden sie auch finden, da bin ich mir ganz sicher. SPIEGEL: Herr Minister Schukri, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. FOTOS: AFP (O.); SCOTT NELSON / DER SPIEGEL (U.) 90 DER SPIEGEL 36 / 2014

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94 Nennt mich Sebastian Österreich Sebastian Kurz ist der Hoffnungsträger der konservativen ÖVP und der jüngste Außenminister der Welt. Was treibt einen 28-Jährigen dazu, ein solches Amt zu leiten? 94 DER SPIEGEL 36/ 2014

95 Ausland FOTO: INGO PERTRAMER / DER SPIEGEL Gelegentlich kann man bei Politikern, ähnlich wie bei Popmusikern, vom Verhalten ihrer Fans Rückschlüsse auf das Idol ziehen. Bei Sebastian Kurz ist es ein Rudel Schülersprecher aus der Steier - mark, das im Presseraum des Außenministeriums sitzt, drei Dutzend junge Frauen und Männer um die 18. Sie sind neugierig und wach, wirken aber mit ihren Kostümen, Hemden, gebügelten Jeans und all den schlauen Fragen an Kurz etwas zu beflissen, zu erwachsen für ihr Alter. Nachdem der Außenminister eine halbe Stunde über die Türkei, Iran und sich selbst geredet hat, beginnt einer der Schüler im Hintergrund einen Small Talk über Maßanzüge. Kurz war selbst mal Schülersprecher, er ist aus dem gleichen Rohmaterial wie seine Fans: ein smarter Frühstarter, der von der Kindheit ohne Umwege ins Erwachsenenleben segelte. Vergangene Woche feierte er seinen 28. Geburtstag, im Dezember wird er ein Jahr Außenminister von Österreich sein. Er ist der Vorgesetzte von knapp 1200 Diplomaten und Angestellten, vertritt ein Volk von achteinhalb Millionen Menschen und ist der jüngste Außenminister der Welt. Wie ist das passiert? Wird ein 28-Jähriger von seinen Kollegen in Berlin, Paris oder Brüssel ernst genommen? Gibt es nicht aufregendere Möglichkeiten als Politik, seine Jugend zu verschwenden? Auf den ersten Blick wirkt Kurz wenig ministeriell, eher wie ein Model aus dem Hugo-Boss-Katalog. Seine Anzüge sind scharf geschnitten, die Krawatten, die er trägt, sitzen fest, sein Gesicht leuchtet, als wäre es frisch eingecremt. Hört man ihn aber reden und schließt dabei die Augen, begleitet man ihn auf Dienstreisen und spricht mit seinen Beratern, dann glaubt man irgendwann, dass er nicht erst seit Monaten, sondern schon ganz lange Minister ist, dass er irgendwie als Politiker zur Welt gekommen sein muss. So ähnlich sieht er das wohl auch selbst. Als er 2011 nach seinem Eintritt in die Regierung gefragt wurde, ob es ihn störe, ständig auf sein Alter, damals 24 Jahre, angesprochen zu werden, antwortete er: Ich habe schon vor meiner Position als Staatssekretär ein Büro geleitet. Sebastian Kurz weiß, dass er als 28-Jähriger im österreichischen Außenministe - rium mehr leisten muss als andere, und hat sich deshalb vorgenommen, viel zu arbeiten und viel zu verändern. Er baute einen hausinternen Planungsstab nach US- Vorbild auf. Und er nahm die Abteilung für Integration aus dem Innenministerium ins Außenamt mit. Vor allem aber veränderte er Sound und Atmosphäre im Haus: Es gibt jetzt Sommerfeste und Barbecue- Abende, Kurz öffnet das Ministerium für Besucher und veranstaltet Diskussionsrunden. Diplomaten und Fachleuten gab er neues Selbstvertrauen: Er hört ihnen zu, sagt ihnen, dass er auf ihre Kompetenz angewiesen ist. Von Anfang an duzte er seine Mitarbeiter. Wenn Schulklassen zu ihm kommen, schlägt er vor: Ihr könnt mich ruhig Sebastian nennen. Und wenn einer von Kurz Leuten heute in einer anderen Abteilung anruft, sagt der nicht mehr: Hier spricht der Magister Marschik aus dem Büro des Herrn Bundesministers, sondern: Hier ist der Niki aus dem Büro vom Sebastian. Im titelverliebten Österreich, im Land der Ministerial- und Geheimräte, ist das eine kleine Revolution. Anders als der deutsche Außenminister twittert Kurz fleißig. Als sein Mentor bei der ÖVP, der Vizekanzler und Finanz - minister Michael Spindelegger, vergangene Woche zurücktrat, bedauerte Kurz das auf Facebook: Bewegte Zeiten in der ÖVP! Vielen Dank an Michael Spindelegger für all sein Engagement vor allem für die Chance, die er uns Jungen gegeben hat. An einem Wiener Sommernachmittag sitzt Sebastian Kurz wenige Gehminuten von seinem Büro in einem Café und erzählt von seinem Werdegang. Er habe nie bewusst die Entscheidung getroffen, politische Ämter zu übernehmen, sagt er. Er habe auch nie den Plan verfolgt, Außenminister zu werden. Er stellt seine Karriere gern als glückliche Fügung dar. Wenn man ihn fragt, welches Buch er zuletzt gelesen habe, überlegt er lange. Ich habe leider sehr wenig Zeit für Bücher, sagt er schließlich. Für Romane interessiert er sich nicht, vermutlich hält er das für Zeitverschwendung. Irgendwann hatte er mal eine Biografie von Steve Jobs in der Hand; dunkel erinnert er sich daran, eine Analyse des ersten Obama-Wahlkampfs gelesen zu haben. Dafür scrollt er sich gern durch seine Twitter-Timeline, über 1340 Tweets hat er geschrieben, etwa: Hoffentlich hält Waffenruhe in #Nahost. Gibt Grund zu vorsichtiger Hoffnung, Konflikt hat bereits zu viele Menschen - leben gekostet. Hat er Vorbilder? Bei mir war es nie eine Einzelperson, die mich geprägt hat, sagt Kurz. Ihn habe der Reformdrang Wolfgang Schüssels beeindruckt, des früheren österreichischen Bundeskanzlers. Er habe keine Idole, beobachte aber die Amtskollegen in Europa sehr genau. An Frank- Walter Steinmeier schätze ich seine Besonnenheit, sagt Kurz. Seine Sätze wirken glattpoliert, sie machen ihn älter, als er ist. Einige Stunden nach dem Besuch der Schülersprecher zieht Kurz einen Rollkoffer durch den Wiener Flughafen. Sein Stab hat einen Albanienbesuch organisiert, der Justizminister reist mit. Es soll um eine bessere Zusammenarbeit in Justiz- und Poli zeifragen gehen. Das Programm sieht allerdings mehr nach einer Hetzjagd aus: morgens Presse-Briefing, Frühstück mit Wirtschaftsvertretern, dann zum Premierminister, Außenminister, Parlamentspräsidenten, Bürgermeister, EU-Experten, Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Empfang beim Botschafter. Rückflug über Rom nach Wien: Uhr. Der Außenminister lehnt sich in Sitz 9D zurück und schließt die Augen. Gleich zum Amtsantritt ordnete er an, dass er und seine Leute künftig Linie fliegen und in der Economy reisen würden. Österreich besitzt keine Regierungsmaschine, früher mietete das Außenministerium gern Privat - jets. Das ist unter Kurz nun vorbei. Von seinem Sitz aus kann er den Kopf des Justizministers in der Businessclass sehen. Kurz gibt sich bescheiden, auch weil er sich selbst aus kleinen Verhältnissen hochgestrampelt hat. Er wuchs im Wiener Arbeiterbezirk Meidling auf, sein Vater ist Ingenieur, seine Mutter Lehrerin. Mit 16 hatte ich die Idee, mir eine politische Jugendorganisation anzuschauen, sagt er. Er ging zum nächsten Büro der Österreichischen Volkspartei, der Konservativen, und bekam den netten Rat, in ein paar Jahren vorbeizuschauen, wenn er groß sei. Kurz wollte aber sofort mitmachen. Er wurde Mitglied des Nachwuchsverbands der ÖVP und stieg vom Bezirkszum Bundesvorsitzenden auf. Unter seinen Förderern war neben Michael Spindel - egger auch Josef Pröll, ebenfalls ehemaliger Finanzminister und Vizekanzler. Beide Männer sahen, dass Kurz das Talent einer Rampensau besaß und fähig war, junge Leute an sich zu binden. Beide Männer sahen, dass Kurz das Talent einer Rampensau besaß und fähig war, junge Leute an sich zu binden zog er als Abgeordneter in den Wiener Landtag. Ein Jahr später bot ihm Spindelegger den Job des Integrations - staats sekretärs im Innenministerium an. Kurz war 24, als er Regierungsmitglied wurde, mit einem Monatsgehalt von über Euro und Anrecht auf Chauffeur. Sein Jurastudium brach er ab. Die Österreicher aber mochten ihn nicht. Ein Unterhaltungskünstler sei er, ein PR- Gag, der Standard hielt seine Ernennung für eine Verarschung. Er sei damals auf der Straße angespuckt worden, erzählt Kurz. Fast hätte er hingeworfen. Er begriff, dass man sich Respekt erkämpfen muss. Und so saß er bis spät in die Nacht am Schreibtisch, traf sich regelmäßig mit Vertretern von Muslimen und anderen Religionsgruppen und hielt Reden. Eine seiner Forderungen war, dass die Kinder von Einwandererfamilien vor ihrer Einschu- DER SPIEGEL 36/

96 Ausland Außenminister Kurz mit Amtskollegen Mogherini, Steinmeier, Kerry, dem iranischen Präsidenten Rohani Zurzeit befindet er sich in der merkwürdigen Situation, dass selbst politische Gegner nichts an ihm auszusetzen haben lung Deutsch sprechen müssen. Dafür ließ er ein zusätzliches kostenloses Kinder - gartenjahr einführen und brachte den Slogan Integration durch Leistung in Mode. Integration, die als Thema von den rechten Populisten der FPÖ politisch kontaminiert war, wird inzwischen vernünftiger diskutiert. Das ist auch Kurz Verdienst. In Tirana angekommen, steigt er in eine schwarze Limousine, um mit Vertretern der albanischen Regierung über Sicherheitspolitik und Korruption zu diskutieren. Das Problem ist, dass Albanien immer noch Drogen- und Menschenhändlern als Transitland dient. Österreich erwartet, dass Polizei und Justiz härter durchgreifen. Umgekehrt hofft die albanische Regierung, dass Österreich bei möglichen Verhand - lungen über einen EU-Beitritt hilft. Vor und hinter der Limousine des Außenministers fahren Wagen der albanischen Poli - zei, es folgen Delegationsfahrzeuge. Nach 500 Metern hält die Kolonne vor dem Präsidentenpalast. Es ist nicht einfach, österreichische Außenpolitik zu betreiben. Österreich ist wie die Schweiz politisch neutral, der Spielraum für Diplomaten ist eng. Die meisten österreichischen Außenminister konzentrierten sich darauf, die Beziehungen zu den Nachbarländern zu pflegen. Im Idealfall schafft man es, Frank-Walter Steinmeier nach Wien zu locken. Sebastian Kurz hat den Vorteil, dass andere vor ihm blutarm agierten. Michael Spindelegger, sein Vorgänger im Außenamt, war oft mit innen- und partei - politischen Fragen beschäftigt. Ursula Plassnik, Außenministerin von 2004 bis 2008, galt als öffentlichkeitsscheu und distanziert. Über Bundeskanzler Werner Faymann soll Angela Merkel gesagt haben: Er kommt mit keiner Meinung rein und geht mit meiner Meinung wieder raus. Kurz tritt entschlossener auf, er hat sich mit Washingtons Außenminister John Kerry getroffen, mit der Italienierin Federica Mogherini, mit Teherans Präsident Hassan Rohani. Er versteht sich gut mit der EU- Außenbeauftragten Catherine Ashton, er schätzt William Hague aus London. Leider ist Ashton als Außenbeauftragte bald weg, Hague trat im Juli als Außenminister zurück. Kurz sucht jetzt neue Freunde. 96 DER SPIEGEL 36/ 2014 Ein Ort, an dem er fündig wurde, ist der Europarat, dessen Vorsitz Österreich bis Mai 2014 innehatte. Der Rat ist ein eher verschlafener Plauderklub von 47 Nationen, deren Außenminister sich zweimal im Jahr in Straßburg treffen. Meist schicken die Minister ihre Staatssekretäre oder Beamte aus den unteren Etagen. Doch Kurz schlug für das Treffen Anfang Mai statt Straßburg die Wiener Hofburg vor. Er wollte die Chance nutzen, russische und ukrainische Diplomaten an einem Ort zu versammeln, mitten in der Krise. Und er wollte, dass Wien wieder einmal in der Außenpolitik eine Rolle spielte. Das gelang ihm. 29 von Kurz Amtskollegen reisten an, unter anderem der Russe Sergej Lawrow und Andrij Deschtschyzja aus Kiew. Steinmeier kam spontan dazu. Kurz ist stolz auf diesen Coup, obwohl auf dem Treffen wenig beschlossen wurde. Er ist vorsichtig geworden, wenn er von seinen Erfolgen erzählt, er will nicht arrogant wirken. Er ist inzwischen zurückhaltend im Umgang mit Journalisten. Auf Homestorys habe er keine Lust, sagt er. Früher oder später fliegen einem solche Fotos sowieso um die Ohren, wer wüsste das besser als er trat er zur Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl an. Zum Wahlkampfauftakt posierte Kurz für Fotografen auf dem Kühlergrill eines Hummer-Geländewagens, des Geil-o-Mobils. Drinnen, im Nachtklub Moulin Rouge, gab es Hostessen im Tanktop, Sekt, Kunstnebel und all die anderen Dinge, die man als Jung - konservativer cool findet. Halb Österreich lachte damals über ihn. Zurzeit befindet er sich in der merk - würdigen Situation, dass selbst politische Gegner nichts an ihm auszusetzen haben. Die Grünen können vielen seiner Aussagen zur Integrationspolitik nicht widersprechen, sogar die liberalen Neos halten ihn für einen guten Kanzlerkandidaten. Er besitzt ein unglaubliches Gefühl für Publicity und Medien, sagt auch Paul Lendvai, Sozialdemokrat und einer der bekanntesten Publizisten Österreichs. Alexander Schallenberg lächelt, wenn er so viel Lob hört über seinen Chef. Er sitzt in einem Biergarten in der Wiener Innen stadt, nicht weit vom Außenministerium, wo er als Leiter des Planungsstabs arbeitet. Er füttert den Minister mit Informationshäppchen und Einschätzungen, die Kurz später in die Kameras sagen kann. Schallenberg ist 44 und gehört neben Generalsekretär Michael Linhart und Kabinettschef Nikolaus Marschik zum engsten Beraterkreis um den Minister. Die drei Männer arbeiten hinter den Kulissen daran, dass Kurz ein gutes Bild in der Öffentlichkeit abgibt, sie diskutieren über Themenschwerpunkte und anstehende Reisen. Schallenberg sagt, man könne sich als Politiker für tausend Dinge engagieren, aber wenn es keiner bemerke, bringe es nichts. Politik lebe davon, dass man sie verkaufe. Er arbeitet seit 1997 für das Außenministerium, selten habe er einen talentierteren Minister erlebt, sagt Schallenberg. Ich habe wenige Menschen gesehen, die so selbstständig Entscheidungen treffen. Schallenberg soll die Ein-Mann-Denkfabrik im Ministerium sein, aber er ist kein Freund langer Diskussionspapiere. Strategien seien unwichtig, sagt er, wichtiger sei es, dass man beim Entwickeln einer Strategie gesehen werde. Es sieht so aus, als ob es im Moment wenig gäbe, was Kurz auf dem Weg nach oben aufhalten könnte. Für die ÖVP, geschwächt durch parteiinterne Affären und Stimmenverluste an die Rechtspopulisten der FPÖ und die neuliberalen Neos, ist er derzeit der größte Hoffnungsträger. Nach Spindeleggers Rücktritt wurde auch der Außenminister als möglicher Nachfolger an der Spitze der ÖVP gehandelt. Kurz kokettiert gern damit, dass er nicht bis zum Ende seines Lebens in der Politik bleiben müsse, aber bislang gefällt ihm der Job. Er will die Position Österreichs in Europa stärken, er bezieht Stellung. Er befürwortet die Waffenlieferungen an die Kurden im Irak, er plädiert für humanitäre Hilfe im Gaza-Streifen. Er kritisiert den Türken Recep Tayyip Erdoğan. Er fordert, dass es keine Waffenlieferung der EU an Russland gebe. Er macht das kleine Österreich ziemlich groß. Christoph Scheuermann Video: Christoph Scheuer - mann über Sebastian Kurz spiegel.de/app362014oesterreich oder in der App DER SPIEGEL FOTOS (V.L.N.R.): GEORGES GOBET / AFP; GETTY IMAGES; SIPA PRESS; GETTY IMAGES

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98 Ausland KLEINFONTEIN Unter Ewiggestrigen Global Village Warum auch 20 Jahre nach Ende der Apartheid nur weiße Südafrikaner in der Minikolonie Kleinfontein leben An der Zufahrt steht ein Bewaffneter in grauer Tarn - uniform, auf dem Ärmel prangt die Flagge der vor über hundert Jahren untergegangenen Burenrepublik Transvaal. Woher? Wohin?, fragt er misstrauisch, ehe er einen Passierschein ausstellt. Dann hebt er den Schlagbaum mit einem zackigen Welkom!. Willkommen im alten Südafrika. Es ist, als beträte man ein anderes, ein unheimliches Land. Das Land heißt Kleinfontein, ein Dorf der radikalen Weißen inmitten der Vielvölkernation Südafrika, gut vierzig Kilometer entfernt von der Hauptstadt Pretoria. Hier herrscht noch die Apartheid, hier dürfen nur Buren wohnen, die sich selbst als rassereine Nachfahren der ersten Niederländer sehen, die im 17. Jahrhundert am Kap landeten. Sie müssen Protestanten sein und Afrikaans sprechen, die Sprache der Siedler. Das schreibt die Kooperative vor, die diese Siedlung 1992 gegründet hat, zwei Jahre vor der Abschaffung der Apartheid. Schwarze sind hier unerwünscht, ebenso Briten, Juden oder Katholiken. Wir haben nichts gegen Schwarze, wir sind keine Rassisten, behauptet Andries Breytenbach. Wir wollen einfach unter unsersgleichen leben und unsere Kultur bewahren. Der 67-jährige Exsoldat mit dem kantigen Schädel ist der Vorsitzende des Volksrates der Buren, er kämpft seit Jahren verbissen für einen unabhängigen Staat. Er empfängt am Ortseingang, wo eine Bronzebüste von Hendrik Frensch Verwoerd steht, dem 1966 ermordeten Premier. Verwoerd hat die Rassentrennung eingeführt; in Kleinfontein wird er wie ein Schutzheiliger verehrt. Das Dorf hat rund tausend Einwohner, dabei sind viele der Bauten illegal errichtet. Doch die Regierung duldet die Siedlung, die nach dem Vorbild von Orania entstand, der ersten Enklave auf südafrikanischem Staatsgebiet, in der nur Weiße wohnen. Im Umland allerdings ist der Zorn auf die Ewiggestrigen groß. Vor einem Jahr demonstrierten junge Afrikaner vor den Toren von Kleinfontein gegen die rassistische Siedlung und beinahe wäre es zu Zusammenstößen mit einem bewaffneten Burenkommando gekommen. Im plüschigen Café des Dorfs legt Breytenbach das Manifest seiner Organisation auf den Tisch: Forderung des Buren-Afrikanervolkes nach Selbstbestimmung steht in Frakturschrift auf der ersten Seite. Darin ist die Rede vom rechtmäßigen Erwerb unbewohnten Kaplands vor dreieinhalb Jahrhunderten, von der Schaffung einer abendländischen Zivilisation und von der friedlichen Koexistenz mit den Eingeborenenstämmen. Kein Wort findet sich über die kriegerische Eroberung, den Landraub, die Vertreibung von Millionen Afrikanern. Das Memorandum wurde ins Deutsche übersetzt, die Wortwahl erinnert an die Blut-und-Boden-Sprache der Nationalsozialisten. Die Entscheidung der letzten weißen Regierung, die Apartheid abzuschaffen, wird als politischer Verrat gegeißelt. Seither herrsche ein Konglomerat von Volksfremden über das Land. Wir können und wollen nicht Teil einer gemeinschaftlichen Nation mit anderen Völkern sein, heißt es. Breytenbach ist ein Mann, der sich mit der Geschichte auskennt. In seiner Abschlussarbeit an der Militärakademie analysierte er eine Schlacht im Burenkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber wenn es um die jüngere Vergangenheit geht, wird der freundliche Rentner zum fundamentalistischen Eiferer. Nelson Mandela, der große Versöhner, war für ihn ein Krimineller, ein Kommunist, der unserem Volk nur Trübsal gebracht hat. Gott sei Dank, endlich ist Mandela tot! Er sagt das auf Deutsch. Radikale Buren seines Schlags werden Verkrampte genannt, starrsinnige Verfechter der alten Apartheid-Ordnung. In Kleinfontein haben sie sich ihr Paradies erschaffen: Gärten ohne Zäune, Schwimmbad, Altersheim, die Schule, in der nur Buren - kinder unterrichtet werden. In den Fenstern Püppchen, Elfen, Schmetterlinge; auf den Straßen überwiegend ältere Menschen. Vor vielen Ziegelhäusern stehen Schilder mit der Aufschrift: Ons is hier om te bly. Wir sind hier, um zu bleiben. Aber es gibt auch Zelte, Wohnwagen und Bruchbuden. Dort leben die verarmten, ungebildeten Buren, die im neuen Südafrika kaum Chancen haben. Und im Gegensatz zur Welt außerhalb sind hier keine schwarzen Gärtner, Hilfsarbeiter, Burenvertreter Breytenbach: Gott sei Dank, endlich ist Mandela tot Maids oder Kindermädchen zu sehen. In Kleinfontein müssen die Weißen alle Arbeiten selbst verrichten. Nach dem Rundgang durch sein beklemmendes Dorf steht Breytenbach auf seiner Terrasse und schaut auf die weite Ebene hinunter. Seit der demokratischen Wende im Jahr 1994, sagt er, fühle er sich wie ein Fremder im eigenen Land. Wir wurden unter die schwarze Regierung gezwungen und kolonisiert. Seine Organisation hat bereits versucht, das Memorandum dem deutschen Botschafter in Pretoria zu überreichen, doch der verweigerte die Annahme. Deshalb haben sie es nun an den Bundespräsidenten und den Bundestag geschickt. Die Deutschen waren schon immer Freunde der Buren, sagt Breytenbach, wir hoffen, dass sie unser Anliegen unter - stützen. Nun wartet der verbitterte Mann auf den Beistand Deutschlands. Immerhin, Berlin hat den Eingang der Sendung bestätigt. Bartholomäus Grill FOTO: BARTHOLOMÄUS GRILL / DER SPIEGEL 98 DER SPIEGEL 36 / 2014

99 Sport Bücher Guardiolas Schuld Es war ein Debakel. Die größte Scheiße, die ich als Trainer je gemacht habe, so wird Pep Guardiola zitiert. Bayern Münchens Aus in der Champions League, das 0:4 im Halbfinalrückspiel gegen Real Madrid, gab Ende April Rätsel auf. Guardiola, eigentlich ein Freund der Spielkontrolle und des Übergewichts im Mittelfeld, hatte eine seltsame Taktik gewählt und damit seine Überzeugung verraten. Er räumte quasi das Mittelfeld leer, sammelte Offensivkräfte an, in deren Rücken die Kontrolle ver - loren ging. Martí Perarnau, ein Journalist aus Barcelona, der in der ersten Bayern-Saison seines Landsmanns mit auf die Trainerbank, in die Kabine, zum Essen des Betreuerstabs durfte, deckt nun in seinem Buch Herr Guardiola auf: Der Coach hatte andere Pläne*. Am Tag vor dem Spiel änderte er sie. Die Spieler wollten es so. Sie hätten ihn um Erlaubnis gebeten, aufs Ganze zu gehen. Sie wollten nicht kontrolliert und geduldig, sondern mit Leidenschaft agieren. Guardiola opferte seine Spielidee. Am Ende pfiffen die Fans ihn aus. Perarnau schreibt voller Anerkennung, der Trainer habe die volle Verantwortung übernommen, mit keinem Wort die Intervention der Spieler erwähnt, alle Schuld auf sich genommen. Verdammte Scheiße, sagte Guardiola. Ja, schade, denn indem er dem Autor erlaubte, diese Interna zu publizieren, hat er im Zusammenhang mit dem Madrid- Spiel nun mehr als nur sich selbst verraten. Nämlich auch seine Spieler. kra Madrider Stars Gareth Bale, Cristiano Ronaldo * Martí Perarnau: Herr Guardiola. Verlag Antje Kunstmann, München; 428 Seiten; 19,95 Euro. FOTOS: KIERAN MCMANUS / BPI / REX / ACTION PRESS (O.); STEFFEN SCHMIDT / DPA (U.) Fifa-Präsidentenwahl Letzter Mann Blatter Nachdem Uefa-Chef Michel Platini vorige Woche darauf verzichtete, für das Amt des Fifa-Präsidenten zu kandidieren, gibt es zurzeit nur einen Herausforderer des Amtsinhabers Joseph Blatter: den Franzosen Jérôme Champagne, 56. Der frühere Diplomat sagt: Ich übernehme Verantwortung. Die Fifa muss reformiert und modernisiert werden. Dazu gehört seiner Meinung nach eine gerechtere Verteilung unter anderem von Fernsehgeldern: Die Elitisierung des Fußballs führt dazu, dass die guten und reichen Klubs immer besser und reicher werden, sagt er. Wir müssen gegensteuern, die Fifa muss soli - darischer werden. Anders ausgedrückt: Champagne will den großen Klubs an die Kasse. Zudem strebt er eine institutionelle Reform des Weltverbands an. In Deutschland kann sich die Kanzlerin entscheiden, wer ihre Minister sind. Der Fifa- Präsident kann das nicht. Er hat keinen Einfluss darauf, mit wem er im Exekutiv - komitee arbeitet. Cham - pagne war elf Jahre lang für die Fifa tätig, etwa als Direktor für internationale Beziehungen und politischer Berater Blatters, der ihn 2010 entließ Champagne war zu mächtig geworden. Die 209 Fifa-Verbände wählen ihren Präsidenten am 29. Mai 2015 in Zürich. mag DER SPIEGEL 36 /

100 Der zweite Schritt Fußball Bei der WM wurden die Torlinien überwacht, jetzt soll noch mehr Technik kommen. Werden Video-Schiedsrichter das Spiel gerechter machen? Strittige Torszene beim DFB-Pokalfinale im Mai 100 DER SPIEGEL 36 / 2014

101 Sport FOTO: FOTOAGENTUR CAMERA4 / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.) Der Fußball der Gegenwart sieht so aus: Der ständige Irrtum gehört zum Spiel wie der Doppelpass, der Torschuss oder das Foul. Und ein Foul gilt nur dann als Foul, wenn der Schiedsrichter es sieht. Das sind die Regeln. So weit, so gut. Nur will den Irrtum, Fehlentscheidungen des Schiedsrichters aufgrund falscher Wahrnehmung also, heute keiner mehr aushalten. Der Irrtum ist verpönter als das Foul. Er soll weg. Gleich im ersten Spiel hatte die neue Bundesligasaison ihren ersten Aufreger. Bayern München gegen VfL Wolfsburg, Bayern führt 2:1. In der 84. Minute schießt Sebastian Rode ein drittes Münchner Tor, ein vermeintliches. Der Schiedsrichter annulliert es nach einigen Diskussionen, weil Thomas Müller, der den Weg des Balls kreuzte, im Abseits gestanden habe. Und noch während auf dem Feld debattiert wird, ob sich Müller vielleicht passiv, demnach straffrei, im Abseits aufhielt oder aktiv, weil er mindestens den Torwart irritierte, klärt die ARD die Fernsehzuschauer auf: Es war gar kein Abseits. Der Druck auf die Schiedsrichter nimmt zu, weil ihnen immer wieder jemand ihre Fehler vor Augen führt. Die Stimmung kocht, weil Verschwörungstheoretiker gelegentlich an Vorsatz glauben wollen, an Betrug. Andere grollen bloß, weil ihrer Mannschaft wegen eines Trottels eine Ungerechtigkeit widerfahren ist. Das Spiel ist aber so schnell geworden, die Zweikampfführung so intensiv, dass fast zwangsläufig wie ein Trottel aussehen muss, wer ohne Hilfsmittel über Abseits, Foul oder absichtliches Handspiel urteilen soll. Ein falscher Abseitspfiff kann über Millionen und über Karrieren entscheiden, wenn es etwa um den Einzug in einen internationalen Wettbewerb oder um den WM-Titel geht. Im Stadion stehen Monitore, auf die der Unparteiische nicht mal blinzeln darf. Zuschauer sehen strittige Szenen augenblicklich auf ihren Smart - phones und bekommen Aufklärung. Der Schiedsrichter nicht. Denn der Regel nach ist die Wirklichkeit das, was der Schiedsrichter auf dem Platz wahrnimmt. Und was er gepfiffen hat, bleibt dann so, auch wenn er zum Beispiel in der Halbzeitpause von seinem Fehl - urteil erfährt. Entscheidungen über Tatsachen sind endgültig, das ist das Grundgesetz. Der Fußball der Zukunft sieht anders aus. Ein zusätzlicher Assistent, ein nicht mehr aktiver Referee etwa, sitzt in einem Bus vor dem Stadion, in einer Art Ü-Wagen. Darin sieht er auf neun Bildschirmen jede Szene aus unterschiedlichen Perspektiven, live. Mit einer Art Joystick kann er Bilder anhalten und zurückspulen. Er kann Sequenzen heranzoomen, ein Foulspiel zum Beispiel. Dann könnte er über Funk dem Schiedsrichter auf dem Feld einen Hinweis geben. Das Spiel müsste nicht angehalten werden, jedenfalls nicht länger, als es nach strittigen Situationen ohnehin unterbrochen wird. Am Ende entscheidet immer noch der Schiedsrichter auf dem Platz, nur auf der Grundlage besserer Informationen. Es wäre der Videobeweis, der das Spiel im Stadion nicht verändert. Und doch würde er den Fußball revolutionieren. Die Revolution ist schon im Gang. Funktionäre der Deutschen Fußball Liga (DFL) unterstützen sie. England will mitmachen, Vorreiter ist der niederländische Fußballverband. Der Schiedsrichterassistent im Videobus, meinen die Holländer, würde die Ungerechtigkeit nicht eliminieren, aber er würde den Irrtum im Fußball beherrschbar machen. Er könnte die Wut der Fans zügeln helfen und vielleicht sogar die Spieler zähmen, wenn die wissen, dass ihre Betrugsversuche, ihre Schwalben und ihre Ellbogenchecks künftig überwacht werden. Diese Zukunft gibt es schon. In den niederländischen Profiligen stand bei 24 Partien der vergangenen Spielzeit der Videobus hinter der Tribüne. Der erste Teil eines zweijährigen Pilotprojekts, das sich der Verband KNVB rund Euro kosten lässt, sollte zeigen, was machbar ist. Der Weltverband Fifa hat den Testlauf, der Arbitrage 2.0 heißt, genehmigt. Je zwei Video-Schiedsrichter analysierten parallel zum Spiel kritische Szenen und hörten den Funkkontakt des Schiedsrichtergespanns auf dem Platz mit. Die Video-Referees durften bloß nicht mitreden, sie durften noch keine Hinweise geben. Der entscheidende zweite Schritt steht bevor. Der KNVB will im September um die Genehmigung bitten, den Test auszuweiten. Bei offiziellen U-21-Juniorenspielen sollen die Assistenten aus dem Bus den Schiedsrichter auf dem Platz kontaktieren, also im Prinzip korrigieren können. Darüber entscheiden die Gralshüter der Fußballregeln, das unabhängige International Football Association Board. Das ist ein ehrwürdiges Gremium betagter Herren, vier Stimmen kommen von der Fifa, die anderen von den Ur-Verbänden dieses Sports, also England, Schottland, Wales, Nordirland. Es tagt einmal im Jahr. Im Oktober soll eine Entscheidung fallen. Der KNVB plant, den Antrag zusammen mit der Fifa einzureichen. Das wäre schon mal ein Zeichen. Vor 151 Jahren wurden die Fußball - regeln aufgestellt. Seither hat sich nicht sehr viel geändert. Vor zwei Jahren bei der Klub-WM wurde auf einmal die Tor - linientechnik erlaubt auf Betreiben von Joseph Blatter. Den Fifa-Chef hatte bei der WM 2010 in Südafrika entsetzt, dass der Engländer Frank Lampard im Achtelfinale gegen Deutschland ein einwandfreies Tor erzielte, das der Schiedsrichter nicht erkannte. Die Einführung hat also nur zwei Jahre gedauert. Nun spricht auch Blatter vom nächsten Schritt. Ihm wird Populismus unterstellt, Machtpolitik, er wolle sich als moderner Reformer gerieren. Aber vielleicht ist sein Gedanke bloß folgerichtig. Den DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig hat das Holland-Modell überzeugt. Hinter den Kulissen des Spielbetriebs stellt er den Plan interessierten Bundesliga-Managern vor. Bei der Generalversammlung am 4. Dezember will er für die Idee werben. Entscheidend sei, dass das Modell den Charakter des Spiels nicht verändere, meint er. Der Spielfluss bliebe erhalten anders als bei Videobeweis-Varianten, bei denen der Schiedsrichter selbst seine Urteile am Der Assistent im Videobus könnte die Wut der Fans zügeln helfen und vielleicht sogar die Spieler zähmen. Niederländische Video-Schiedsrichter DER SPIEGEL 36 /

102 Beweisbild vom 1:0 im WM-Spiel Costa Rica gegen Italien: Signal auf die Uhr Monitor fällt oder bei denen die Trainer Möglichkeiten zum Einspruch nutzen. Im American Football hat jeder Headcoach zwei solcher Challenges pro Begegnung, diese Lösung brachte Blatter auch für den Fußball ins Spiel. Im Hockey können sowohl die Teams als auch der Schiedsrichter einen Videobeweis anfordern, um Klarheit zu bekommen. Im Sinne der Fußballregeln sei es wichtig, dass der Unparteiische auf dem Platz Herr des Verfahrens bleibe, sagt Rettig. Deswegen mag er auch den Namen Video- Referee nicht, weil es nach Oberschiedsrichter klingt. Er bevorzugt den Begriff Fünfter Schiedsrichter für den Mann an der Technik in Anlehnung an den Vierten Offiziellen, der am Spielfeldrand die Trainer beruhigt. Ein Adjutant eben. Eine interne Auswertung in Holland ergab, dass der Videoassistent im Schnitt drei- bis viermal pro Partie einen Anlass zur Überprüfung sah, dass er 5 bis 20 Sekunden brauchte, um zu einer Entscheidung zu kommen und dass auch er nicht in 100 Prozent aller Fälle richtiglag. Bei der Software, die in Holland im Einsatz ist, handelt es sich um eine Entwicklung der britischen Firma Hawk-Eye, die mittlerweile von Sony übernommen wurde und auch die englische Premier League mit einer Technik zur Torerkennung beliefert. Ihre Hochgeschwindigkeitskameras klären dort die Gretchenfrage des Fußballs: Hat der Ball die Torlinie mit vollem Durchmesser überflogen oder nicht? Mit der Zulassung zur Torüberwachung sind im Fußball sämtliche Dämme gebrochen. Die Genehmigung war das Einfallstor für Lobbyisten all jener Anbieter, die eine technische Schiedsrichterhilfe aufs Feld bringen wollen. Es gibt Systeme wie das vom Fraunhofer-Institut mitentwickelte Goalref, die auf dem Rasen ein Magnetfeld erzeugen. Das kombinieren sie mit einem Sensor im Ball. Nach diesem Prinzip ließe sich auch die Abseitsfrage klären. Nike hat den intelligenten Fußballschuh entwickelt. Längst gibt es funkgesteuerte Laufanalyse-Angebote, die Spieler tragen Sensoren im Hemd. Bewegliche Kameras könnten in Echtzeit 3-D-Bilder produzieren. Das alles ließe sich vom Schiedsrichter zur Ermittlung am Tatort nutzen. Auch Rettigs Überlegung ging von der Torlinie aus. Im März hatten sich die deutschen Liga-Manager gegen die elektronische Torüberwachung ausgesprochen. Manchen war sie zu teuer, bis zu Euro für drei Jahre im Leasing - modell. Das lohne sich nicht für die paar strittigen Fragen. Rettig hatte eine Studie bei der TU München in Auftrag gegeben, die über tausend Spiele der beiden höchsten deutschen Ligen untersuchte. Keine fünf Prozent aller torrelevanten kritischen Situationen betrafen die Querung der Torlinie. In der Mehrheit ging es um Abseits, Hand, Elfmeter. Braucht man dann also, schloss der Funktionär, nicht gleich die Gesamtspielfeld-Technologie? Die Befürworter erinnern gern an das letzte DFB-Pokalfinale, Bayern gewann gegen Borussia Dortmund. Der Dortmunder Mats Hummels erzielte per Kopfball ein Tor, das der Schiedsrichter nicht erkannte, es zählte nicht. Die TV-Bilder zeigen deutlich, dass der Ball die Linie überquerte und der Schiedsrichter irrte. Die Linientechnologie, bei der dem Unparteiischen umgehend ein Signal auf die Uhr gesandt wird, hätte das aufgeklärt. Was die TV-Bilder jedoch nicht eindeutig klarstellten: Hummels befand sich womöglich im Abseits. Das hätte die Torlinientechnik nicht angezeigt. So hätte ein Zuwachs an Gerechtigkeit durch Technik vielleicht eine andere Ungerechtigkeit geschaffen indem ein Abseitstor anerkannt worden wäre. Das deutsche Pendant zu Hawk-Eye stammt aus dem rheinischen Würselen und heißt Goalcontrol. Die Technik kam bei der WM in Brasilien zum Einsatz. 14 Hochgeschwindigkeitskameras erfassen kontinuierlich den Ball. Geschäftsführer Dirk Broichhausen will sich damit auch für die Bundesliga bewerben, die Anfang Dezember noch einmal abstimmt. Zwölf Erstligaklubs müssten für die Einführung von Torlinientechnik stimmen, zwei Drittel. Die Chancen stehen nicht schlecht. Broichhausen sagt, er habe auch für den Fall einer Fifa-Zulassung von noch mehr Technologie bereits ein Konzept in der Tasche. Das intelligente Videobeweis-System seiner Firma hat schon einen Namen: Videoref. Systemkameras mit extrascharfer Fokussierung nehmen 500 Bilder pro Sekunde auf, das Zehnfache üblicher TV- Kameras. Zum Angebot gehört die automatisierte Abseitsbestimmung. Bei Videoref muss also kein Assistent im Bus entscheiden, zumindest nicht über Abseits. Der Schiedsrichter bekommt maschinell ein Signal wie bei der Torlinientechnik. Die Frage ist, ob der Mann an der Pfeife dann noch Herr des Verfahrens ist, der Souverän, dessen Autorität die Spieler akzeptieren. Das müssten Tests zeigen, wenn sie genehmigt sind. Broichhausen glaubt, dass die Fußballverbände nun schritt- weise aufrüsten werden. Vielleicht ist der Videobus nur ein Vehikel zum vollautomatischen Schiedsrichter, einer Fußballwelt mit elektronischer Abseitsentscheidung und funkgesteuerter Foulspielanalyse. Die Zulassung des Video- Referees wäre nur eine Etappe, weil immer noch etwas ungerecht bleibt oder sogar dann erst ungerecht wird. Die Videoaufklärung über einen Strafstoß kann der einen Mannschaft helfen. Die andere hat gegen eine falsche Einwurfentscheidung womöglich nichts in der Hand, weil solche Nebenhandlungen in den Niederungen des Mittelfelds nicht überwacht werden. Ein Fehlurteil kann aber auch dort einen Gegner in Ballbesitz bringen, der daraus ein Tor vorbereitet. Wenn es den Videobeweis bei Abseits und Elfmeter gibt, warum dann nicht beim taktischen Foul? Wo wird das aufhören? Braucht man den intelligenten Ball? Oder vielleicht noch Sensoren im Spielerkopf, um zu ermitteln, ob beim Handspiel eine Absicht vorliegt? Und was heißt hier eigentlich Gerechtigkeit? Durch einen falschen Elfmeterpfiff soll keiner mehr benachteiligt werden. Doch wer keinen Investor beim Kauf teurer Spieler im Rücken hat, bekommt auch weiterhin kein Tor Vorsprung. Ist das fair? Eintracht Frankfurts Vorstandschef Heribert Bruchhagen ist gegen die Elektronik. Denn es blieben doch immer noch viele Entscheidungen strittig, selbst wenn da 18 Leute am Video sitzen. Und dass der Fußball, wie die Technikfreunde immer behaupten, nicht mehr zeitgemäß sei, findet Bruchhagen nicht. Warum ist er dann nicht längst zur Randsportart geschrumpft, sondern boomt wie verrückt? Vielleicht, weil er so einfach ist. Jörg Kramer FOTO: GETTY IMAGES 102 DER SPIEGEL 36 / 2014

103 Sport FOTO: LESLEY ANN MILLER / PICTURE ALLIANCE / DPA Schnell und leise Automobile Die Formel E will den Motorsport revolutionieren: Die Rennserie für Elektroautos fährt in Metropolen, um ein urbanes Publikum zu gewinnen. Es fiel Steven Lu nicht schwer, die Herren aus Europa für Peking zu begeistern. Er lud sie einfach zu einem Diner ins Dachrestaurant eines Luxus - hotels, mit weitem Blick auf das Gelände der Olympischen Sommerspiele von In der Abenddämmerung begannen erst die roten und gelben Lichter des Stadions zu strahlen, danach die blaue Außenhaut der Schwimmarena, schließlich auch die Aussichtstürme. Es sah sehr majestätisch aus, sagt Lu. Ich konnte mir meine Worte sparen. Seine Gäste, der spanische Geschäftsmann Alejandro Agag und eine Delegation des Automobil-Weltverbands Fia, waren auch so beeindruckt. Im Olympiapark werden am 13. September Rennwagen fahren, auf diesem Kurs in Chinas Hauptstadt findet der Auftakt zur neu geschaffenen Formel E statt, der ersten weltweiten Serie für Elektroautos. Steven Lu veranstaltet das Rennen. Eines mit benzingetriebenen Fahrzeugen wäre im smogverseuchten Peking fast undenkbar mit seinem Projekt dagegen hatte Lu nicht nur die Fia, sondern auch Pekings Stadtverwaltung schnell auf seiner Seite. Alle sind hier für Elektroautos, vom Bürgermeister bis hoch hinauf ins Zentral - komitee der Partei, sagt er. Saubere Energie hat in China sehr gute Karten. Die Formel E ist der unkonventionellste Entwurf des Motorsports von morgen. Zwar unterscheiden sich die Autos auf den ersten Blick kaum von herkömmlichen Rennwagen, sie haben Flügel an Heck und Bug und freistehende Räder. Auch die Tatsache, dass jemand probiert, eine Meisterschaft für elektrisch motorisierte Fahrzeuge zu etablieren, erscheint zeitgemäß, aber nicht besonders revolutionär. Das Spannende an der Formel E ist, dass ihre Erfinder versuchen, den Rennsport neu zu interpretieren. Wir müssen uns als eine andere Art des Motorsports präsentieren, sagt Alejandro Agag, Geschäftsführer der Formel-E-Holding. Er und Jean Todt, Präsident der Fia, zielen auf ein neues Publikum eines, das wenig gemein hat mit den klassischen Fans, die zu entlegenen Strecken wie Silverstone oder dem Nürburgring reisen, um Lärm und den Geruch verbrannten Sprits zu genießen. Es sollen Menschen gewonnen werden, die in Ballungszentren leben und denen der Nutzwert eines Transportmittels wichtiger ist als dessen Wucht unter der Motorhaube, urbane Menschen also, die Sozialprestige anders verstehen. Auf Peking angewandt heiße das, sagt Lu: Uns geht es um die jungen, ehrgeizigen Leute, die sich bislang nicht für Motorsport interessieren, die aber das Geld haben, sich demnächst ein eigenes Auto zu kaufen. Am besten ein Elektroauto. Also finden die Rennen an Orten statt, an denen sich Strom am schnellsten als Formel-E-Rennwagen in Las Vegas: Eine ganz andere Show Treibstoff durchsetzen wird: in Metropolen wie Peking, London, Miami und Buenos Aires. Auch in Berlin wird gefahren, im kommenden Mai auf dem früheren Flughafen Tempelhof. Wir müssen eine ganz andere Show bieten, sagt Agag. Der Plan erschöpft sich nicht darin, neuartige Wagen in Millionenstädten an den Start zu bringen. So müssen die Fahrer während eines Laufs einmal ihr Auto wechseln, denn die Batterien halten die geplante Renndauer von einer Stunde nicht durch. Die Stromspeicher bei einem Boxenstopp auszutauschen wäre jedoch zu umständlich, sie wieder aufzuladen würde zu viel Zeit kosten. Mit dem Sprung von einem Cockpit ins andere soll die Spannung unter den Zuschauern nicht gekillt, sondern die Show um ein Element erweitert werden. Vor allem aber will Agag mit der Formel E die Möglichkeiten der digitalen Welt nutzen, einen Weg, den die vom greisen Bernie Ecclestone geführte Formel 1 so gut wie ignoriert. Eine Idee besteht darin, dass Internetnutzer die Rennen virtuell mitfahren können, dass eines Tages sogar die besten User einer Saison mit den echten Fahrern ein komplett virtuelles Wettrennen austragen. Die Profis säßen in Simulatoren und wären mit den Rechnern von Amateuren verbunden, irgendwo auf der Welt. Das klingt sehr nach Vision und Experiment, doch Interaktion ist jetzt schon Teil des Ablaufplans. Vor jedem Rennen wird im Netz darüber abgestimmt, wer der beliebteste Fahrer ist. Kurz vor dem Start auf der Piste wird bekannt gegeben, welche drei Fahrer im Voting die meisten Anhänger auf sich vereint haben und wer damit fünf Sekunden lang 40 zusätzliche PS abrufen darf. Verrückt, das alles? Ich würde mich sorgen, wenn eine Woche verginge, in der uns niemand für verrückt hält, sagt Agag. Ecclestone, 83, prophezeit, die Renn - serie werde wieder sterben, sobald ein, zwei Leute ein paar Kröten damit gemacht haben. Der frühere Formel-1-Weltmeister Jackie Stewart, mit 75 Jahren kaum jünger, soll gelästert haben, die turbinenartig zischenden Elektrorennwagen klängen wie die Beatles ohne Instrumente. Andere Vertreter des klassischen Rennsportgeschäfts haben da weniger Berührungsängste. McLaren und Williams, die auch Teams in der Formel 1 betreiben, haben die Fahrzeuge mitentwickelt, Renault hat die Technik zusammengefügt. Renommierte Rennställe wie Andretti und Abt setzen Autos ein, dazu kommen Teameigner wie der risikofreudige Unternehmer Richard Branson und Hollywoods Super- Grüner Leonardo DiCaprio. Und von den 20 Piloten können 11 den Vergleich zu Formel-1-Rennen problemlos ziehen sie sind dort schon gefahren. Detlef Hacke, Bernhard Zand DER SPIEGEL 36 /

104 Wissenschaft+Technik Seuchen Schickt Experten nach Westafrika! Brice de le Vigne, 41, Leiter der Projektabteilung von Ärzte ohne Grenzen, über dringend benötigte aktive Hilfe der Industrienationen bei der Bekämpfung der Ebola- Epidemie SPIEGEL: Mit dem Senegal ist jetzt das fünfte Land von der Seuche betroffen, die WHO geht davon aus, dass sich insgesamt rund Menschen mit dem tödlichen Virus infizieren werden. Ist dieses Horrorszenario realistisch? De le Vigne: Leider ja und das liegt auch daran, dass die WHO viel zu spät reagiert hat. Schon im April war klar, dass dies kein normaler Ausbruch ist. Warum hat sie erst jetzt einen Aktionsplan vorgestellt? SPIEGEL: Wie ist die Situation vor Ort? De le Vigne: Nur mal ein Beispiel: Vor zehn Tagen haben wir ein Ebola-Behandlungszentrum in der liberianischen Hauptstadt Monrovia eröffnet. Normalerweise sind diese Zentren auf 30 Patienten zugeschnitten. In diesem können 120 Kranke behandelt werden. Trotzdem war es schon nach einer Woche voll. Wir gehen davon aus, dass allein in Monrovia 1000 Behandlungsbetten für Ebola-Kranke benötigt werden. Und zwar jetzt! SPIEGEL: Ist das überhaupt noch zu leisten? De le Vigne: Fest steht, dass die klassischen humanitären Hilfsorganisationen allein mit der Situation nicht mehr fertig - werden. Das Ausmaß an Hilfe, das jetzt benötigt wird, kann nur von den reichen Industrienationen kommen, von Staaten, die über einen guten Katastrophenschutz verfügen, die nötige Logistik und organi - satorische Disziplin. Deutschland, Frank- De le Vigne reich, die USA, Großbritannien diese Länder müssen schnellstens Experten und Ausrüstung nach Westafrika schicken! Gebraucht werden Spezialisten, die in kurzer Zeit aus dem Nichts eine Krankenstation aufbauen können, Fachleute, die wissen, wie man Chemiekatastrophen bekämpft und mit Schutzanzügen umgeht. SPIEGEL: Was tun die betroffenen Länder selbst? De le Vigne: Es ist völlig unrealistisch zu erwarten, dass diese Länder, die schlimmste Bürgerkriege hinter sich haben, die Epidemie aus eigener Kraft besiegen können. In ganz Liberia etwa gab es nur einen einzigen Internisten, und der ist gerade selbst an Ebola gestorben. Es gibt nur eine Möglichkeit: Die reiche Welt muss sich jetzt nach Westafrika bewegen und dort die Epidemie stoppen. vh Vulkane Flug der Asche 2010 legte die Asche des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull Europa lahm, Flüge fielen aus. Nun brodelt der Bárðarbunga-Vulkan, doch die meisten Airlines sind noch nicht optimal vorbereitet. So ist ein Asche-Radar für Linienmaschinen namens Avoid, das gefährliche Partikel aus 100 Kilometer Entfernung erkennt, frühestens ab 2015 kommerziell verfügbar. Ausgerechnet die Billigflug - linie EasyJet ist bei Testflügen Vorreiter. Am Boden ging der Umbau schneller: Heute gibt es ein viel genaueres Messnetz, sagt Professor Konradin Weber, Umweltmesstechniker an der Fachhochschule Düsseldorf. Seine Arbeitsgruppe hält im Gegensatz zu 2010 heute ständig zwei Propellermaschinen für Mess - flüge bereit. Während damals tagelang Rat - losigkeit herrschte, werden Entscheidungen nun über einen neuen Krisenstab namens EACCC koordiniert. Und der Deutsche Wetterdienst hat sein Vulkanasche-Messnetz verdreifacht auf heute 60 Spezial-Laser ( Ceilometer ). Stückpreis: rund Euro. hil Fußnote Zufahrt zum Bárðarbunga-Vulkan 10Sekunden vor einem Erdbeben (spätestens!) können kalifornische Geologen künftig Alarm schlagen. Sensoren erspüren dafür die ersten Wellen eines Bebens. Zehn Sekunden klingen nach wenig, können aber im Ernstfall die Rettung sein: In dieser Zeit kann man Liftkabinen verlassen, Züge bremsen, als Arzt das Skalpell aus der Hand legen. Japan und Mexiko verfügen bereits über Frühwarnsysteme. 104 DER SPIEGEL 36 / 2014

105 Blauer Strahl Was aussieht wie eine Stichflamme, ist ein Blitz, mit dem sich eine Gewitter - wolke über dem Northern Territory entlädt er schießt dabei von unten nach oben. Das Phänomen der Blue Jets ist selten zu beobachten und noch schwieriger zu fotografieren. Einem Piloten ist das Bild gelungen. FOTOS: MSF (L.O.); VILHELM GUNNARSSON / DPA (L.U.); CATERS NEWS AGENCY (R.) Es hilft, wenn man weiß, wer der Feind ist. Im Fall der Zigarettenindustrie ist die Lage klar. Wer Milliarden Menschen süchtig macht und allein im 20. Jahrhundert hundert Millionen getötet hat, verdient keine Gnade. Gegen diese Branche führt die Weltgesundheitsorganisation WHO einen heroischen Kampf, der zumindest in den reichen Ländern erfolgreich verläuft. Im Fall der E-Zigaretten batteriebetriebene Verdampfer einer meist nikotinhaltigen Flüssigkeit ist die Lage nicht so klar. Die WHO hat sich dennoch entschieden: Sie empfiehlt den Regierungen, E-Zigaretten mit nahezu der gleichen Verve zu bekämpfen wie Zigaretten aus Tabak. Als wichtigstes Argument dient der WHO dabei die Unsicherheit. Weil zu wenig bekannt sei über die Risiken dieser Geräte, müsse man ihren Gebrauch eben vorsorglich eindämmen. Doch diese Politik ist unverantwortlich. Kommentar Lieber juckende Augen Ein Tabakraucher muss für seinen Nikotinkick einen Giftcocktail von mehr als 250 schädlichen Substanzen inhalieren, Dutzende davon wirken krebserregend. Auch E-Zigaretten dienen der schnellen Einbringung von Nikotin ins Gehirn, und natürlich sind die Verdampfer nicht komplett harmlos. Das darin enthaltene Propylenglykol, so mahnt die WHO, könne zum Beispiel eine Augenreizung verursachen. Nur: Ist auch manches noch unbekannt, geht doch ganz offensichtlich von der E-Zigarette ein Risiko aus, das um Größenordnungen unter dem der Tabakzigarette liegt. Das sollte die WHO anerkennen. Warum also das strenge Urteil über die E-Zigarette? Offenbar fürchtet man sich bei der WHO vor einer Zukunft, die sich jetzt schon abzeichnet: einer Ära, in der Tabakkonzerne den E-Zigaretten-Markt beherrschen und sich, während sie wie gewohnt Jugendliche zu Nikotin-Junkies machen, auch noch aufspielen als Verbündete in der Gesundheitspolitik. Marco Evers DER SPIEGEL 36 /

106 Sklavenjagd im Drachenboot Geschichte Eine prachtvolle Ausstellung in Berlin präsentiert neue Funde aus der Wikinger - zeit. Sie zeichnen die Nordmänner als clevere Händler. Dabei waren sie vor allem Banditen. Wer heute das friedliche Dänemark besucht, mit der Kleinen Meerjungfrau von Kopenhagen und den vielen netten Radfahrern, die weiches Smørrebrød und noch weichere rote Würstchen (Røde Pølser) essen, muss sich wundern, dass ausgerechnet dieses nordische Volk so fiese Vorfahren hat. Es waren die Wikinger, die mit Streit - äxten und Lanzen an Bord von Drachenbooten einst Europa tyrannisierten. Als Hornissen tauchen sie in den Annalen auf. Unzählige Siedlungen und Klöster griffen die Eroberer in der Zeit vom 8. bis zum 11. Jahrhundert an. Sie vernichteten ganze Königreiche. Manche Historiker deuten ihr rastloses Tun als letztes Kapitel der Völkerwanderung. Lange hieß es, Not und Nahrungsknappheit hätten die Burschen angestiftet. Das stimmt nicht. Eher war es die Gier, die sie bis ins Sarazenenland oder nach Byzanz rudern ließ. Abertausende fanden durch die rohen, vollkommen gottlosen, verwegenen Gestalten, wie eine irische Chronik sie nennt, den Tod. Daheim sangen sich die Räuber ihre Untaten schön. Met trinkend am Lagerfeuer, 106 DER SPIEGEL 36 / 2014 ließen sie sich von Verse schmiedenden Skalden als tapfere Edelpiraten feiern. Durch angeberisches Verkünden vergangener oder zukünftiger Heldentaten, schreibt der Altgermanist Rudolf Simek, brachten sich die Seekönige in Stimmung. Doch die alten Skandinavier waren nicht nur Rüpel, sondern auch Meister der Warenlogistik. Als Kaufleute bugsierten sie bis zu 60 Tonnen schwere Frachter ( Knorr ) über die Wellen. Ihr Handelsnetz reichte von Grönland bis ans Schwarze Meer. Es sind vor allem diese merkantilen Leistungen, die das heutige Dänemark stolz präsentiert. Rund Besucher, darunter viele Schulkinder, schleust das Land alljährlich durch das große Schiffsmuseum von Roskilde. Derweil zeichnet die Forschung ein immer schärferes Bild der Wikinger. Auf Jütland wurde jetzt der älteste Königshof Video: Die Freizeit- Wikinger spiegel.de/app362014wikinger oder in der App DER SPIEGEL der Dänen rekonstruiert. Erschaffen hat das Monument Harald Blauzahn (um 910 bis 986). Es besteht aus zwei riesigen Hügeln und war einst von Holzpalästen und einer 1500 Meter langen Palisade umgeben. An anderer Stelle ziehen die Archäologen Wracks aus dem Schlick, sie legen Amulette oder arabische Silbermünzen frei. Viele der neuen Funde sind nun in einer glanzvollen Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen, die nächste Woche eröffnet wird. Rund 800 Exponate liegen in den Vitrinen: vom einzigen intakten Langbogen aus Eibenholz bis zur Axtklinge aus Walknochen, die man in Nuuk (Grönland) entdeckte. Aus Smolensk stammt eine Runenschrift auf Birkenrinde. Als Glanzpunkt steht im Lichthof die 37 Meter lange Roskilde 6 das größte Kriegsschiff der Epoche. Wer vor dem Wrack steht, ahnt, mit welcher Wucht die Barbaren einst den halben Erdkreis erschütterten. Aus Chroniken weiß man, dass die Nordmänner ihre Boote mit goldenen Löwen verzierten, an der Mastspitze drehten FOTOS: WERNER KARRASCH / VIKINGESKIBSMUSEET ROSKILDE

107 Wissenschaft Neufundland Frühe Heimsuchung Fahrten und Siedlungsgebiete der Wikinger Kerngebiet im 7. und 8. Jahrhundert 500 km Nachbau des Wikingerschiffs Seehengst von Glendalough Grönland Besiedelte oder beherrschte Gebiete sowie Einflusszonen bis zum 10. Jahrhundert Normandie Sevilla Island Atlantik York sich Wetterfahnen. Die Roskilde 6 ist für etwa 80 Ruderer ausgelegt. Selbst voll besetzt tauchte sie nur 83 Zentimeter ins Wasser ein. Der Grund: Die Plünderer wollten nah ans Ufer pullen. Bei Angriffen wateten sie heimlich an Land, um als Erfinder des Blitzkriegs, wie der Archäologe Harm Paulsen sie nennt, die Beute abzugreifen und umgehend zu fliehen. Auch der 30 Meter lange Seehengst von Glendalough kommt an die Spree. Ein Sattelschlepper schafft den größten Nachbau eines Wikingerschiffs von Roskilde aus nachts über die Autobahn in den Berliner Osthafen. Bundespräsident Joachim Gauck will die Planken am Samstag betreten. Margrethe II. von Dänemark hat zum Empfang geladen. Die Königin, eine studierte Archäologin, macht Werbung für die Ahnen. Nur: Ist das statthaft? Wie viel Ehre gebührt den Wikingern, diesen rückständigen Gesellen? Ihre Runen nutzten sie bloß für Stummeltexte. Gutes Eisen konnten sie nicht schmieden. In Südnorwegen fand man einen Boller wagen mit starrer Achse. Er fuhr nur geradeaus. Gleichwohl überbrückten die Leute rund Kilometer Wasser- und Landwege. In Schweden kam eine Buddha-Statue aus Indien zum Vorschein. Wie ist dieser Erfolg zu erklären? Hörnerhelme, so viel ist klar, trugen die Nordmänner nie. Vielmehr umhüllten sich viele mit Pumphosen und trugen Augen- Make-up. Quellen zufolge verschossen sie Pfeile aus giftbestrichenen Köchern. Ein Rhein Rom Mittelmeer Donau Nowgorod Djepr Don Schwarzes Meer Konstantinopel Wo l g a Schädel aus Gotland hat angefeilte Zäh - ne Dentalmode der Zeit. Der maurische Gesandte al-tartushi, der um 970 nach Christus Haithabu nahe der Ostsee besuchte, verglich den Gesang der Wikinger mit Hundegebell. Ein anderer Besucher aus dem Morgenland beschimpfte sie als die schmutzigsten Geschöpfe Gottes. Sie würden sich nach Sex oder Stuhlgang nicht waschen. Erst in jüngster Zeit wurden in Gräbern kleine Thorshämmer aus Eisen entdeckt. Es sind Talismane der Aberglaube stand im Norden hoch im Kurs. Große gesellschaftliche Macht hatten die weisen Frauen und Hexen ( Völva ). Mittlerweile kennt man über 50 Frauengräber, in denen Zauberstäbe lagen. Nach Tempeln suchten die Ausgräber dagegen lange vergebens. Jetzt wissen sie: Es gab keine. Die Gottesdienste fanden in den Festhallen reicher Gutshöfe statt. Selbst große Tiere wie Ochsen oder Pferde wurden auf eine Weise geköpft, dass arterielles Blut in hohem Bogen hervorspritzte, heißt es im Ausstellungskatalog. Zu jedem neuen Detail gesellen sich allerdings weitere Rätsel. Wieso schnitzten die Wikinger so oft Drachen? Mal prangten die Fabelwesen am Bug von Schiffen, mal auf Gewandnadeln. Gab es womöglich einen Austausch mit China? Ein anderes Geheimnis: Irgendwo in Pommern gründeten die Ur-Dänen im 10. Jahrhundert einen riesigen Handelsplatz, die Jomsburg. Der Missionar Adam von Bremen nannte den Ort die größte Stadt Europas. Wo lag dieses seltsame Atlantis des Nordens? Ähnlich verschwommen bleiben die Vorgänge in Amerika. Um 1000 nach Christus segelte Leif Eriksson, Sohn eines Totschlägers, von Grönland aus in die Neue Welt. Das belegen die Grassodenhütten von L Anse aux Meadows auf Neufundland. Nur: War diese Siedlung alles, was die Wikinger auf dem fernen Kontinent hinkriegten? Eine Saga berichtet, dass der mitreisende deutsche Mönch Dirk ( Tyrkir ) bei einer Expedition ins Inland Weintrauben pflückte. Womöglich war er weiter in den Süden vorgestoßen. Keine Frage: Vieles aus dem Dunstkreis der Wikinger ist unklar oder ins Sagenhafte verzerrt. In altisländischen Liedern treten ständig historische Personen auf, die jedoch fantastisch überzeichnet sind. Der Kriegsfürst Rolf der Geher zum Beispiel (er erhielt unter dem Namen Rollo im Jahr 911 die Normandie als Lehen) hat dort so lange Beine, dass ihn kein Pferd tragen kann. Auch hinter dem Helden Ragnar Lodbrok verbirgt sich wohl eine reale Gestalt. Es könnte ein Heerführer sein, der im Jahr 845 Paris überfiel. In der Völsunga saga DER SPIEGEL 36 /

108 Wissenschaft tritt der Mann als Edelgeist auf, der einen Drachenkampf besteht, eine Königstochter freit und nach einer Feindfahrt gegen England in einer Schlangengrube stirbt. Was daran ist wahr? Immerhin: Die Dynamik der Wikingerinvasion lässt sich mittlerweile gut erklären. Wohl vom 8. Jahrhundert an nutzten die Skandinavier das Rahsegel, eine Konstruktion, die es möglich machte, gegen den Wind zu kreuzen. Mit Tier - fetten machten sie das Tuch winddicht. Bei günstiger Brise ließ sich England damit in knapp drei Tagen erreichen. Auch beim Bau der Bootskörper stiegen die Barbaren bald in die Weltklasse auf. Es gelang ihnen, filigrane Schiffe zu entwickeln, die zugleich robust und hochseetauglich waren. Das ging so: Erst hackten die Männer dicke Eichen oder Kiefern um und spalteten sie der Länge nach, indem sie gewaltige Keile in die Stämme droschen. Planke für Planke wurde so herausgebrochen. Weil man nichts sägte, blieben die Holz - fasern intakt und die Bretter enorm biegsam und belastbar. Selbst schwere Wogen federten sie ab. Mit derlei schlanken, elastischen Kriegskähnen, dicht an dicht mit Ruderern besetzt, nahm das Unheil seinen Lauf. Der erste Streich erfolgte anno 793. Norweger wagten sich über die Nordsee und griffen das Kloster Lindisfarne an. Sie raubten mit Edelsteinen besetzte Evangelienbücher. Reißenden Wölfen gleich seien die Armaden mit ihren rot-weißen Segeln über das Abendland hergefallen, heißt es in einer Chronik, und in den Lüften sah man entsetzliche Drachen. Während die Schweden nach Südosten ausgriffen, über die Wolga bis ans Kaspische Meer, um in Kiew den Grundstein für eine Staatsbildung zu legen, segelten die Dänen Richtung Rhein und Seine. Die Norweger umfuhren Britannien auf der nördlichen Route und nahmen Irland ins Visier. Gegenwehr war wegen der Schnelligkeit der Drachenboote (Spitzentempo: über 20 Stundenkilometer) schwer möglich. Bei manchen Angriffen sprangen 5000 Mann aus den Booten. Im Jahr 881 plünderten sie Mainz, Worms und Speyer. 885 wurde Paris mit Hunderten Schiffen angegriffen. So ging es Schlag auf Schlag. Die Hausfrauen wurden von vielen vergewaltigt, so ein Bericht, alle Mädchen wurden schamlos ihrer Jungfräulichkeit beraubt. Zwar beteiligten sich nicht alle an derlei Grausamkeiten. Doch der Raubzug ins Ausland blieb in Skandinavien lange Zeit eine sozial akzeptierte Form organisierter Aggression, so Simek. Reichtum und Ruhm lockten am Horizont, wenn die Abenteurer zur Feindfahrt Schachfiguren aus Walross-Elfenbein 2 Gewandspange in Form eines Pfaus 3 Schrein aus Holz und vergoldeter Bronze 4 Armreif aus Gold 5 Bronzefibel mit Drachenkopf ausliefen. Ihre Schilde hingen außen an der Bordwand. Ein Steuermann brüllte die Kommandos. Vor dem Kampf trommelten die Trupps auf ihre Schilde, oder sie bissen in sie hinein. Dem Glauben nach war das Schlachtfeld von Walküren beseelt, die dort wie blutrünstige Dämonen wüteten. Insgesamt werden in der nordischen Literatur 51 Walküren erwähnt. Sie heißen Schwertlärm, Zähneknirscherin oder Töterin. Besondere Krieger, die Berserker, steigerten sich durch Magie in einen Blutrausch. Sie kämpften angeblich in Bärenfellen. Norwegens König Erik Blutaxt, der dänische Heerführer Ivar der Knochenlose (gestorben 873 in Dublin) solche Namen waren Programm. Und die Sieger straften fürchterlich. Im Jahr 869 gelang es einer dänischen Flotte, das angelsächsische Reich East Anglia zu erobern. Dessen König Edmund unterzog man einer speziellen Folter. Die Tortur hieß Ritzen des Blutadlers. Dabei wurde dem Opfer der Rücken aufgeschnitten, die Rippen wurden mit dem Messer von der Wirbelsäule getrennt und wie Adlerflügel aufgeklappt. Dänemarks Kulturschaffende der Gegenwart betonen derlei Untaten selten. Auch die Ausstellung in Berlin neigt zum Weichspülen. Ein Teilbereich der Schau heißt Kontakte und Austausch. Das erweckt den Eindruck, als hätten die Wikinger zur Völkerverständigung beigetragen. In Wahrheit klauten sie, wo sie konnten. Zwar ist unbestritten, dass ihre Siedler von Island bis Nowgorod auch Wildnis urbar machten. Die Kaufleute verschifften Honig, Bernstein und vor allem Tierfelle aus den Weiten des Ostens. Doch besonders viel Geld verdienten sie mit Sklaven. Finnen, Kelten, Slawen ganze Völker dienten als Reservoir. Großkunde war das arabische Kalifat. Mit Karawanen brachte man die begehrten weißhäutigen Gefesselten zum zentralen Menschenmarkt in Bagdad. Unmengen an Gold und Geschmeide gelangten so aus dem Orient bis an den Polar - kreis. Vieles von dem, was in den Berliner Vitrinen blinkt, ist deshalb mit Tod und Schmerz behaftet. Ein Exponat bringt es auf den Punkt: ein eiserner Sklavenhalsring, gefunden in Dublin. Das Interesse der Welt an den nordischen Barbaren dürfte dadurch kaum geschmälert werden, im Gegenteil. Ungestüm und infernalisch ließen die letzten Heiden des Kontinents noch mal richtig die Sau raus, ehe die christliche Moral auch diese Unholde zügelte. Die Dänenkönigin Margrethe II. drückt es so aus: Ungebrochen sind Zauber und Faszination der Wikingerzeit. Matthias Schulz FOTOS: BRITISCHES MUSEUM, LONDON ; ARNOLD MIKKELSEN / DÄNISCHES NATIONALMUSEUM, KOPENHAGEN; DÄNISCHES NATIONALMUSEUM, KOPENHAGEN (2); ARCHÄOLOGISCHES LANDESMUSEUM SCHLOSS GOTTORF, SCHLESWIG (V.O.N.U.) 108 DER SPIEGEL 36 / 2014

109 Technik FOTO: RICK FRIEDMAN / DER SPIEGEL Gegen das Monopol Internet Robert Darnton, Chef der ehrwürdigen Bibliothek von Harvard, erforschte bislang alte Enzyklopädien. Nun will er eine digitale Weltbücherei schaffen. Historiker Darnton Robert Darntons erster Artikel erschien in der New York Times, da war er vier Jahre alt. Ein mit seinen Eltern befreundeter Reporter spazierte damals mit ihm durch Washington und notierte, was der kleine Robert so plapperte. Das Pentagon zum Beispiel nannte er Penny-gone : Pfennig-Futsch. Das war im Jahr Siebzig Jahre später ist Robert Darnton ein renommierter Historiker, spezialisiert auf die Geschichte der Bücher. Beherzt mischt er sich ein in den Kampf gegen die Marktmacht von Amazon und Google: Nach den klassischen Stahl- und Eisenbahnmonopolen droht nun ein Informationsmonopol, sagt Darnton. Er nimmt Platz auf dem Bürosofa vis-à-vis des Kamins, an dem sich George Washington einst wärmte, noch bevor er der erste Präsident der USA wurde. Das Holzhaus, in dem Darnton residiert, gehört zu den ersten Gebäuden der Harvard University. Hier leitet der Forscher die älteste Bibliothek der USA, gegründet 1638, mit heute mehr als 18 Millionen Büchern, plus eine Million E-Books. Darnton ruft nicht nach einem Amazon- Boykott oder nach staatlicher Intervention gegen Google. Stattdessen sucht er Mitstreiter für seinen Traum von einer neuen Welt des Wissens: eine digitale, weltumspannende Bibliothek, die Digital Public Library of America (DPLA, Einmal tippen, und es öffnet sich die Lese-App auf Darntons ipad. Die DPLA verlinkt die Bestände von 1300 Einrichtungen, einschließlich der Smithsonian Institution und der New York Public Library. Wer George Washington eingibt, findet 7262 digitalisierte Bücher, Bilder und andere Dokumente, darunter auch 29 von der Kentucky Digital Library. Noch vor wenigen Jahren hätte man für eine derartige Suche wohl Tage gebraucht. Ein Neuntklässler aus Dallas könnte für sein Referat Manuskripte aus Chicago und Los Angeles vergleichen, schwärmt Darnton. Anstoß für das Projekt war ausgerechnet Google. Die Firma begann 2004 damit, an Universitäten wie Harvard, Oxford oder Stanford die Buchbestände mit Scan- Robotern zu digitalisieren. Anfangs war Darnton begeistert von der Mobilmachung des Wissens, doch dann kamen ihm Zweifel. Die Bibliotheken sollten Google die Bücher kostenlos überlassen, erzählt er. Ich befürchtete, dass sie dann den Zugang zum Digitalarchiv mit einem Abo zurückkaufen müssten, dessen Preis Google festsetzt. Auch Amazons Gigantomanie missfällt dem Chefbibliothekar; die DPLA sieht er als Gegenmodell, gleichsam als Stadtteilbücherei fürs globale Dorf dezentral, nicht kommerziell, weltweit nutzbar ohne Anmeldung, Leihfrist, Beschränkung. Seit 2010 verfolgt Darnton diese Idee. Bekannt wurde der Harvard-Historiker mit seinen Büchern über die Encyclopédie, die im vorrevolutionären Frankreich um 1750 das Wissen ihrer Zeit zusammentrug. Darnton stellte die Buchgeschichte Bücherbestand der Harvard-Universitätsbibliothek über 18 Mio. Medieneinheiten* der DPLA 7,6 Mio. *digitalisierte Bücher, Bilder, Filme, etc. vom Kopf auf die Füße, indem er nicht geniale Autoren beschrieb, sondern Buchhändler, Drucker, Zensoren, Leser. Für seine Forschung wurde Darnton mit Preisen überhäuft, unter anderem wurde er zum Ritter der französischen Ehrenle - gion ernannt. Unter Historikern trat er eine Darnton-Debatte los, in der seine Methoden teils als populistisch kritisiert wurden. Das Bild, das er von der Aufklärung zeichnet, wirkt aktuell: ein Wissensmarkt im Umbruch, mit gierigen Geschäfte - machern, hilflosen Regierungen und fallenden Buchpreisen. Chaotisch schwappt das Wissen aus Gelehrtenstuben auf die Straße und krempelt die Gesellschaft um. Nun will Darnton selbst Buchgeschichte schreiben, diesmal nicht als Historiker, sondern als eine Art Start-up-Akademiker im Dienste seiner digitalen Weltbücherei. Der deutsche Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch vermutet, Darnton wolle sich als Diderot seiner Zeit inszenieren der französische Philosoph war einst treibende Kraft hinter der Encyclopédie. Noch wirkt die DPLA recht unfertig, aber schon plant Darnton die Erweiterung zur Weltbibliothek, im Schulterschluss mit der Unesco, der Library of Congress und anderen. Der Princeton-Philosoph Peter Singer lobt diese Idee einer Bibliothek von Utopia. Doch dieser Traum kollidiert mit der Wirklichkeit: Die größten Hürden sind weder technisch noch finanziell, sondern rein juristisch, sagt Darnton. Über ein Dutzend Bücher hat er selbst geschrieben keines davon ist derzeit in der DPLA zu finden. Denn dort stehen nur gemeinfreie Werke zur Verfügung, deren Copyright abgelaufen ist. Das Wissen der Gegenwart dagegen bleibt weggesperrt. Fast alles, was seit 1923 veröffentlicht wurde, ist von uns aufgrund des Copyrights nicht nutzbar, sagt Darnton. Ständig wird es neu ausgelegt, derzeit schützt es Werke für 70 Jahre nach dem Tod der Urheber. Als 1710 das Copyright zur Zeit der Aufklärung in England eingeführt wurde, betrug die Schutzdauer 14 Jahre mit der Option, es einmal zu verlängern, erläutert Darnton. Damals sei genau abgewogen worden zwischen den Autorenrechten und dem Allgemeinwohl: Wir sollten uns auf diese Tradition der Aufklärung besinnen. Meist nütze die lange Schutzfrist nicht einmal den Autoren selbst, sagt er, denn kaum eine Neuerscheinung verkaufe sich länger als ein paar Wochen, geschweige denn ein Jahr. Der Erlös eines meiner Bücher, das vor fast einem halben Jahrhundert erschienen ist, reicht aus, um meine Frau zum Essen einzuladen, sagt Darnton. Aber nur alle zwei Jahre. Und nur dann, wenn sie ihre Hälfte selbst zahlt. Hilmar Schmundt DER SPIEGEL 36 /

110 Wissenschaft Abschied ohne Ende Schicksale Ein Mann erfährt von seinem Arzt, dass er bald an Krebs sterben wird. Er bestellt einen Sarg, verschenkt seinen Besitz und geht ins Hospiz. Aber der Tod kommt nicht. Hans Senger schreibt seine Todes - anzeige mit blauer Tinte auf ein Blatt Papier. Er notiert: Hans Senger, geboren am , gestorben am. Er überlegt. Der Arzt hat gesagt, er habe noch wenige Monate zu leben. Es ist Mai Wie viele sind eigentlich wenige Monate? Er lässt eine Lücke hinter gestorben am. Dann ruft er bei einem Bestattungsunternehmen an. Einfacher Sarg, den günstigsten, wird ja sowieso verbrannt. Credo in unum deum, schreibt er unter seinen Namen auf die Todesanzeige, ich glaube an den einen Gott. Dahinter Johann Sebastian Bach ; der in seiner h-moll-messe das Credo vertonte. Mehr fällt ihm zu seinem eigenen Tod nicht ein. Als Senger, der eigentlich anders heißt, die passenden Worte sucht, sitzt er an einem Tisch im Hospiz Haus Hörn. Es ist das einzige Hospiz in Aachen. Zwölf Betten, manchmal werden sechs Zimmer in einer Woche frei. Hans Senger: 77 Jahre alt, weiße Haare, Seitenscheitel, gestärkter Hemdkragen. Pensionierter Priester. Nach dem Auf - wachen schaut er jeden Morgen in den Spiegel. Bei Leberkrebs müsste doch eigentlich die Haut gelb werden, denkt er. Und wieso spürt er keinen Schmerz? Sein Weg ins Hospiz hatte vier Wochen zuvor begonnen, am Morgen des 23. April 2013, das weiß er noch genau. Im Badezimmer fiel er einfach um. Lag da und blickte auf sein Senioren-Armband mit dem roten Notrufknopf. Ihm war klar: Wenn er den drückt, würde die Rettungsstelle seine Nachbarn informieren; die haben einen Wohnungsschlüssel. Vielleicht könnte er sich aber auch am Klodeckel hochziehen, einfach aufstehen? Zurück ins Wohnzimmer laufen und so tun, als wäre nichts gewesen, sich einen Tee machen? Senger überlegte. Und drückte dann doch den roten Knopf. Hans, du wirst auch nicht jünger, hatte ihm neulich eine Bekannte gesagt. An jenem Frühlingsmorgen kamen erst die Nachbarn, dann die Sanitäter. Sein bisheriges Leben verließ Hans Senger auf einer Patiententrage. Im Krankenhaus wird sein Körper durch die Apparate geschleust: EKG, Echo, CT. Dann GOT, GPT, AP. Ein Abkürzungswirrwarr, in den sich auch die Diagnose fügt: HCC, hepatozelluläres Karzinom Leberkrebs. Senger sagt, das Aufklärungsgespräch habe nicht länger als 15 Minuten gedauert. Austherapiert, sterben, ganz bald. Für solche Nachrichten gibt es in der Medizin keine Abkürzungen. Der Arzt, der die Diagnose stellt, wird später sagen, Ultraschall und Computer - tomografie hätten keine Zweifel an der Zerstörungswut der Wucherung in Sengers Körper gelassen. Senger hat nicht nachgefragt. Er verlangte keine Biopsie des Tumors, auch auf die Meinung eines zweiten Arztes verzichtete er. Stattdessen kündigte er die Mitgliedschaft beim ADAC, die Daueraufträge bei der Bank und bestellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ab. Wenn ich sterbe, dann richtig, sagt er heute. Den Schlüssel seiner Mietwohnung gab er einer Bekannten, damit sie Freunde und Verwandte einlassen könne. Denn jeder, der will, sollte etwas aus seinem alten Leben mitnehmen können. Mit warmen Händen geben statt mit kalten. Die Nichte bekam den Esstisch, der Neffe den Fernseher. Die Suppenteller, die Bücher, die Lampen, die Tischdecken, der Salzstreuer, der schwarze Opel Corsa. Die Töpfe, die Krawattennadeln, der Zahnputzbecher, die Milch im Kühlschrank. Alles muss seine Ordnung haben, findet Senger. Ein Sterbender gehört in ein Sterbehaus. So packt er zwei Wochen nachdem er den Hausnotruf gedrückt hat den schwarzen Jersey-Schlafanzug in seine Reisetasche, bedankt sich bei den Stationsschwestern im Krankenhaus und zieht ins Hospiz. In seine Aachener Wohnung, drei Zimmer, vierter Stock mit Aufzug, kehrt er nie mehr zurück. In seiner neuen Bleibe im Hospiz steht ein Pflegebett mit Spezialmatratze; der Sterbende soll sich nicht wund liegen. Auf einer Plexiglasscheibe, von der Zimmerdecke abgehängt, liegen Ginkgo-Blätter aus Plastik. Wenn man einen Schalter neben dem Bett betätigt, werden die Blätter hell angeleuchtet. Senger drückt den Schalter eigentlich nur, wenn er vor Besuchern angeben will. Patienten werden im Hospiz Gäste genannt Gästen möchte man eine schöne Zeit bereiten. Die Eintrittskarte, die Senger zum Gast werden lässt, wird Notwendigkeitsbescheinigung genannt. Ein Arzt muss sie unterschreiben: Der Patient ist schwerst pflegebedürftig und somit bei allen Verrichtungen rund um die Uhr auf vollständige Hilfe sowie Schmerztherapie angewiesen. Der Patient ist bis zu seinem Tod auf die Pflege und Begleitung in einem Hospiz angewiesen. Gerade einmal 17 Tage hat es gedauert, bis Senger vom Rentner in seiner eigenen Wohnung zum Gast im Hospiz geworden ist. Er möchte ein guter Gast sein. Er denkt so intensiv an seinen Tod, dass er sterbensmüde wird. So müde, dass die Pfleger bei seiner Ankunft keine Zweifel daran haben, einen Sterbenden im Haus Hörn zu begrüßen. Der neue Gast lässt sich beim Anziehen helfen und auf die Toilette begleiten. Am Anfang schämt sich Senger, seinen nackten Körper von behandschuhten Händen waschen zu lassen. Aber letztlich ist er willfährig und wirkt dabei so schwach, wie Pfleger es von einem Sterbenden er - warten. Ich wusste ja nicht mehr, wofür ich noch leben soll, sagt er. Wieso er sich nach ein, zwei Wochen doch dazu entschließt, über die Korridore zu gehen, wieder anständig zu essen und sich den Seitenscheitel selbst zu ziehen, das kann er heute nicht mehr genau sagen. Vielleicht war mein Körper einfach skeptisch. Vielleicht sei es aber auch der Wille gewesen, nicht zu sterben ohne Antworten auf ein paar Fragen: Wo will ich beerdigt werden? Wer soll erben? Wem muss ich noch Lebewohl sagen? Zwei Ärzte kümmern sich im Haus Hörn um die Gäste. Sterbende können Morphium, Kochsalzlösung und Abführmittel bekommen. Senger bittet um Stift und Papier. Als er die Todesanzeige geschrieben und den Sarg ausgesucht hat, beginnt er den Ablauf seiner Beerdigung zu planen. Er bittet einen befreundeten Priester, die Rede zu schreiben. Nach der Lesung soll Jesu, meine Freude gesungen werden. Der Sarg soll die ganze Zeit über geschlossen bleiben. Wegen der gelben Haut, er hat ja Leberkrebs. Als Letztes wählt Senger den Stein für sein Urnengrab aus. Weißen Carrara-Marmor. Bald hat er, nach einem Monat im Hospiz, seine Habseligkeiten verteilt und seine Beerdigung bis ins kleinste Detail geplant. Nun kann er kommen, der Tod. Senger frühstückt jetzt immer an dem langen Tisch im Aufenthaltsraum. Manchmal setzen sich andere Gäste zu ihm. Eine FOTO: THEKLA EHLING 110 DER SPIEGEL 36 / 2014

111 Ich wusste ja nicht mehr, wofür ich noch leben soll. Priester Senger bei der Vorbereitung der Abendmesse im Seniorenheim Kettenraucherin, die jeden Tag schmaler wird. Eine Alte, die stundenlang reglos aus dem Fenster starrt. An vielen Tagen aber sitzt er allein an dem Tisch. Allmählich sterben die anderen Gäste dahin. Senger hat nicht den Eindruck, dass er schwächer wird. Er nimmt das hin, fraglos, er hat ja keine Erfahrung mit dem Sterben. Er weiß, dass der Tod ihn bald holen wird, das gehört sich auch so, und eigentlich will er sich auch nicht weiter damit beschäf - tigen. Die Ärzte kommen seltener in sein Zimmer. Haben Sie Veränderungen bemerkt?, immer wieder die gleiche Frage. Damit kann ich nicht dienen, antwortet Senger. Er hat jetzt viel zu tun. Mit dem Sterben kommen die Abschiede. Senger muss Hände schütteln, er muss umarmen, trösten. Einem jungen Mann nimmt er die Beichte ab. An manchen Tagen sind 15 Menschen gleichzeitig in seinem Zimmer viele kennen den Priester in Aachen. Als eine Freundin extra aus Berlin anreist, ist es Senger ein bisschen unangenehm, dass er nicht wie ein Todkranker aussieht. Und auch im Gespräch fürchtet er, den Erwartungen, die Menschen an einen Sterbenden noch schlimmer: an einen sterbenden Priester stellen, nicht gerecht zu werden. Denn angesichts des eigenen Todes helfe der Glaube leider doch nicht, sagt Senger. Er wisse eben auch nicht genau, was danach komme. Der Sohn einer Bekannten schenkt ihm ein Kinderbuch übers Sterben, Leb wohl, lieber Dachs. Zwischen den Seiten steckt ein Abschiedsbrief. Es ist einer der kurzen Momente, in denen Senger einen Kloß im Hals verspürt. Die vielen Abschiedsbriefe rühren ihn; er bewahrt sie in einem großen Karton auf. Wieso schreiben manche Menschen erst, wenn sie Lebewohl sagen wollen? Im Juli 2013, er lebt seit fast drei Monaten im Hospiz, ziehen die Nachmieter in seine Dreizimmerwohnung. Der Patient hat jetzt nichts mehr außer ein paar Kleidungsstücken und zwei Bildern an der Wand. Man müsse miteinander reden, sagt ihm die Hospizleiterin. Die Not wen dig - keits bescheinigung müsse überprüft werden, sagt sie. Senger schweigt. Die Möglichkeit, dass ein Irrtum vorliegt, diesen Gedanken findet er unpassend. Er empfängt weiterhin Besuch, versucht weiterzumachen wie bisher. Aber eigentlich weiß er: Als jemand, der vielleicht weiterlebt, ist er hier fehl am Platz. Als er weitere zwei Monate später bei einem Radiologen in die Röhre geschoben wird, denkt er an die Bekannten, die ihn heute im Hospiz besuchen wollten. Hof- DER SPIEGEL 36 /

112 Wissenschaft fentlich glauben sie nicht, er sei gestorben, wenn sie das Zimmer leer vorfinden. Die Diagnose ist eindeutig. Der Hospizarzt ist so gerührt, dass er einen Leserbrief an eine Zeitung schickt. Er schreibt: An dem Tumor hatte sich nichts geändert. Und so lautete der Befund nun, dass es sich doch um eine gutartige Geschwulst handeln müsse. Ich konnte dem Patienten also mitteilen, dass er jetzt und an diesem Tumor sicherlich nicht sterben werde. Fast sieben Monate hat Senger auf den Tod gewartet. Sieben Monate immer wieder letzte Worte. Und jetzt: Fehlalarm. Das kann ja mal passieren, sagt Senger. Bei seinem Einzug ins Hospiz war er 77 Jahre alt. Das ist ein Alter, in dem es sich sterben lässt, ohne grundsätzliche Fragen zu stellen. Warum jetzt? Warum ich? 112 DER SPIEGEL 36 / 2014 Sterbezimmer im Aachener Hospiz Wenn er darüber nachdenke, sagt Senger, sei der Weg ins Hospiz eigentlich einfacher gewesen als der Weg hinaus. Für jemanden, der noch wenige Wochen zu leben hat, gibt es inoffizielle To-do-Listen. Abschied nehmen, Dinge klären, über das Leben reflektieren. Testament schreiben, Entschuldigung sagen, Danke sagen. Ein Resozialisierungsprogramm für jemanden, der aus dem Hospiz entlassen wird, existiert dagegen nicht. Es war eine Reise zurück ins Nichts, sagt Senger. Als Priester hat er immer anderen Menschen die Welt erklärt. Was richtig ist. Was Leben ist. Was Tod ist. Wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Als er das Hospiz verlässt, muss er all diese Fragen für sich selbst beantworten; mit 78 Jahren beginnt er also, sein Leben neu zu ordnen. Im Frühjahr 2014 sitzt Hans Senger in seinem Zimmer in einem Aachener Altenheim. Noch einmal eine Wohnung suchen, einen Hausstand aufbauen, das wollte er nicht mehr. Eigentlich sei die Dreizimmerwohnung sowieso zu groß für ihn gewesen, sagt er. Eigentlich habe er zu viele Dinge besessen. Die Reste seines alten Lebens, des Lebens vor der Krebsdiagnose, hat er an die Wand gehängt. Eine Bleistiftzeichnung, die einen Mann in Pluderhosen zeigt. Daneben: die Jünger Jesu, ein schlichter Druck. Er hat sein Zimmer karg eingerichtet. Das Regal und den Schreibtisch erhielt er gratis von einem Sozialwerk. Die Bücher, das kleine Holzpferd, die Flasche Weihwasser im Regal, all das haben ihm Freunde und Bekannte in seinem zweiten Leben geschenkt. Er findet, dass das reicht. Ich hänge nicht an den Dingen, sagt er. Er glaubt, dass seine Rückkehr ins Leben mindestens genauso lange dauern wird wie der Abschied. Man geht nicht in ein Hospiz, kommt wieder raus und lebt einfach weiter, sagt Senger. Er sagt immer man, wenn er eigentlich ich meint. Er braucht diese Distanz zu sich selbst, ist kein Mann der großen Gefühle, wie er selber sagt. Das erleichtere das Leben und das Sterben. Senger freut sich, dass es auch im Altenheim Pflegekräfte gibt. Er hat sich im Hospiz daran gewöhnt, nicht alles selbst machen zu müssen. Er schätzt es, dass seine Tischnachbarn nicht mehr so schnell wegsterben. Und es gefällt ihm, dass es Tischdecken im Speisesaal gibt. Das Hospiz sei schon schön gewesen, aber auf einen Tisch gehöre eine Tischdecke. Alles im Leben muss seine Ordnung haben. Vor der Zeit im Hospiz hat der Priester noch regelmäßig die Messe gehalten. Jetzt predigt er manchmal während der Abend - messe im Altenheim. Und ärgert sich ein bisschen, dass er all die Bücher mit den Bibelversen weggegeben hat. Hans Senger ist ein höflicher Mann. Er will nicht schlecht über den Arzt reden, der den Leberkrebs diagnostiziert hat; deswegen will er dessen Namen auch nicht öffentlich nennen. Senger versteht nicht, wieso es jetzt von allen Seiten heißt, er solle den Mediziner verklagen, wegen Fehldiagnose. Die Zeit, die ihm bleibt, wolle er doch nicht vor Gericht verbringen. Der Arzt selbst sagt, er habe keine Fehler gemacht. Der Tumor sei bösartig, und früher oder später würden sich erste Symptome zeigen. Senger treibt die Frage nach einer Erklärung nicht um, er will seine Ruhe. Vielleicht sei es ja einfach nur Glück gewesen, dass er für diesmal davongekommen ist. Oder ein Wunder. Ich möchte damit nichts mehr zu tun haben, sagt er. Vivian Pasquet FOTO: THEKLA EHLING

113 FOTO: REX FEATURES / ACTION PRESS Psychopath im Cockpit? Katastrophen Das Schicksal von Flug MH 370 bleibt ungeklärt. Jetzt behaupten zwei Autoren: Die Boeing wurde zum Opfer eines Selbstmörders. Was geschah wirklich an Bord von MH 370? Ein halbes Jahr nach dem fast spurlosen Verschwinden der malaysischen Boeing 777 hat niemand eine seriöse Antwort auf diese Frage doch jetzt haben zwei Neuseeländer ein Buch zum Rätselflug vorgelegt*. Der Journalist Geoff Taylor und der Pilot Ewan Wilson haben alles zusammengetragen, was sie an glaubwürdiger Information finden konnten. Weil das in diesem Fall so viel nicht ist, füllen sie den Rest mit plausibler Spekulation. Das Resultat ist ein Szenario, das auch von offiziellen Ermittlern in Kuala Lumpur als ein mög - licher Hergang untersucht wird, aber an einem Detail krankt: Es gibt dafür nicht einen einzigen Beleg. Taylor und Wilson halten eine technische Ursache für ausgeschlossen, auch an eine Entführung glauben sie nicht. Der Selbstmord des Piloten erscheint als die einzig seriöse Option, schreiben sie. Kapitän Zaharie Ahmad Shah, 53, frustriert unter anderem von einer kriselnden Ehe, habe 238 Menschen und sich selbst getötet, um sich ein Denkmal zu setzen. Und das ging, glauben die Autoren, wie folgt: Copilot Fariq Abdul Hamid, 27, hatte den Start ausgeführt. Er war neu auf diesem Flugzeugtyp und darum entsprechend angestrengt. Kurz vorm Verlassen des malaysischen Luftraums hat Kapitän Zaharie seinen Kollegen angewiesen, eine Pause einzulegen und sich die Füße zu vertreten. Jetzt war Zaharie allein im Cockpit. Um 1.19 Uhr verabschiedete er sich von der Flugsicherung mit den Worten Goodnight, Malaysian Three Seven Zero. Dann, so das Szenario, setzte er sich eine Sauerstoffmaske auf. Um 1.21 Uhr hat er den Transponder abgeschaltet. Er änderte den Kurs, und * Ewan Wilson, Geoff Taylor: Goodnight Malaysian 370. Wilson Aviation, Hamilton; 256 Seiten; ca. 20 Euro. Kapitän Zaharie Minuten später führte er einen plötzlichen Druckabfall in fast Meter Höhe herbei. In der Kabine, wo die meisten Passagiere schliefen, ging die Notbeleuchtung an, aus der Decke fielen die Sauerstoffmasken. In einer Atmosphäre von Panik und Schlaftrunkenheit, so denken sich die Buchautoren das, wiesen die Flugbegleiter die Menschen an, die Masken aufzusetzen. Wem das nicht gelang, der verlor bald das Bewusstsein. Nach vier bis sechs Minuten trat der Tod ein. Wer durch eine Maske atmete, hatte Sauerstoff für 12 bis 22 Minuten. Nur der Crew standen bessere Masken zur Verfügung, die ihnen bis zu 70 Minuten Atemzeit erlaubten. Sie müssen alles versucht haben, die durchschusssichere Cockpittür zu öffnen, ohne Erfolg. Die Sauerstoffmasken der Piloten sind die leistungsfähigsten an Bord. Zaharie hatte mehr Luft als seine Opfer, vielleicht hat er den korrekten Kabinendruck später auch wiederhergestellt. Er war jetzt, nehmen die Autoren an, der einzige Leben - dige in einem Geisterflieger voller Leichen. Er flog Richtung Süden, zwischen 3.21 Uhr und 3.41 Uhr gab er die letzte Kursänderung ein. Als das Kerosin ausging, glauben Wilson und Taylor, ging Zaharie in den Gleitflug über. Er könnte die antriebslose Maschine noch rund 180 Kilometer weit in jede Himmelsrichtung gesteuert haben was bedeuten würde, dass die Helfer, die jetzt nach dem Wrack fahnden, ihr Suchgebiet drastisch ausweiten müssten. Vielleicht hat Zaharie sogar eine perfekte Wasserung versucht wie ehedem Captain Chesley Sullenberger auf dem Hudson. Das Flugzeug könnte als Ganzes versunken sein, was erklären würde, warum bisher keine Wrackteile aufgetaucht sind. Bei Zaharie diagnostizieren die Autoren eine psychopathische Grausamkeit und eine vollkommene Abwesenheit von Menschlichkeit und Ehre. Die Tat sehen sie als postmortalen Triumph eines kranken Hirns, als ein Signal an seine Familie, an Malaysia Airlines, an die Welt: Versucht s doch, findet mich! Das einzige Indiz für diese Version ist dürftig. Zaharie hatte offenbar keine Termine in seinem Kalender nach dem 8. März. Er führte jedoch auch zuvor kein ausgeprägtes Sozialleben. Zaharies Familie und Freunde sind in ihrem Urteil so klar wie die beiden Buchautoren. Sie halten die Selbstmord/Massenmord-Theorie für abwegig. Marco Evers SPIEGEL TV REPORTAGE MONTAG, 1. 9., UHR SAT.1 Ernsthaft lustig Die Schau spielerin Annette Frier Annette Frier, Hauptdarstellerin der Fernsehserie Danni Lowinski, ist das beste Antidepressivum des deutschen Fernsehens. Sie ist komisch, ohne sich über andere Leute lustig zu machen, und auch wenn ein Darstellerin Frier Thema ernst ist, verliert sie nie die Leichtigkeit. SPIEGEL-TV-Autorin Jutta Lang hat die Schauspielerin mehrere Monate lang begleitet. SPIEGEL GESCHICHTE SONNTAG, 7. 9., UHR SKY Die digitalen Revolutionäre Sie waren entschlossen, das Un - mögliche möglich zu machen: Eine Gruppe von Männern schloss sich zusammen und startete in die digitale Welt sie nannte sich Fairchild-Acht. Es war eine Zeit, in der der Vietnamkrieg, Rassen - unruhen und der Kalte Krieg die öffentliche Stimmung in Amerika beherrschten. Die Männer aber konzentrierten sich auf die Herstellung von Mikroprozessoren. Die spek - takuläre Geschichte der Intel-Gründer schildert nicht nur die radikale Veränderung in der Computerwelt, sondern auch den Beginn eines neuen Zeitalters. SPIEGEL TV MAGAZIN SONNTAG, 7. 9., UHR RTL Der Traum vom Profi Die Fußball - akademie von Hoffenheim; Rechtsfreier Raum Leben in einer Berliner Favela; Die Killer warten schon Blutrache in Albanien. DER SPIEGEL 36 /

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115 Titel ILLUSTRATION: ANDREAS KLAMMT / DER SPIEGEL An einem Samstag in Berlin vergeudet Martin Liebmann seine Zeit. Das aber zu Schnäppchenpreisen. Ein gutes Gespräch würde der hochgewachsene Mann schon für 50 Cent führen, ein Buch für 3,99 Euro lesen, Tagträumen bietet er für konkurrenzlose 5 Euro an. Nur Nichtstun ist etwas teurer Liebmann verlangt dafür 17,50 Euro. Pro Stunde. Dafür tut er es wirklich gern. Kommen Sie näher, ruft Liebmann vom Trottoir der Bergmannstraße aus den Kreuzbergern zu, die Richtung Marheineke Markthalle laufen, heute ist der Internationale Tag des Zeitgewinns. Vor seinem weiß gedeckten Biertisch hat er ein Klappschild aufgestellt: Lassen Sie un - nütze Dinge von anderen erledigen, steht darauf. In der gesamten Zeit können Sie dringende s lesen, durch Staus verursachten Zeitverlust kompensieren, Ihren Facebook-Account checken, telefonieren, konsumieren oder einfach in Ihrem Hamsterrad weiter laufen. Ein junger Mann mit zwei Kindern kommt vorbei, bleibt kurz stehen, stutzt: Das ist ironisch gemeint, oder? Martin Liebmann, 46 Jahre alt, Kinnbart und Schalk in den Augen, grinst. Er liebt es, die Leute aus dem Takt zu bringen. Und sei es nur für wenige Sekunden. Man erwartet das von ihm. Als Vorstand des Vereins zur Verzögerung der Zeit hat man so seine Pflichten. Den rund 700 Mit - gliedern geht es darum, in einer sich immer weiter beschleunigenden Welt zwischendurch mal innezuhalten und zu fragen: warum so hastig? So mühten sich Zeitverzögerer aus der Schweiz über Jahre, das Städtchen Rorschach zu verlangsamen, indem sie beispielsweise den Hafenplatz mit Liegestühlen vollstellten oder massenhaft Haartrockner in die Innenstadt trugen, um das Stadtklima zu beeinflussen. Martin Liebmann wiederum, der seit genau zehn Jahren mit von der Partie ist, rief einmal vor dem Kloster Frauenwörth im Chiemsee den Unesco-Tag des Fotofastens aus. Weil an schönen Tagen Tausende Touristen über die Insel hasten und vor lauter Knipserei keinen Blick mehr fürs Ganze haben, forderte Liebmann die Gäste auf, nur ein Bild pro Kamera zu schießen. Anschließend, sagt er, hätten sich etliche Menschen bei ihm bedankt der Besuch habe ihnen völlig neue Perspektiven eröffnet. Manche waren zu Tränen gerührt. Wir alle, sagt Liebmann, seien inzwischen wie gehetztes Wild. Ständig gelte es, noch mehr in noch weniger Zeit zu pressen. Wir haben eine Diktatur der Ökonomie, die sich in alle Lebensbereiche gefressen hat. In der Erziehung, in der Wissenschaft, in der Arbeitswelt, überall gehe es um optimierte Prozesse, größere Effizienz, mehr Ertrag. Nicht mal mehr unsere Freizeit sei freie Zeit, sondern eine, die der moderne Uhr-Mensch minutiös plane, in der er alle Tätigkeiten nach ihrem Nutzwert unterteile. Innehalten oder Trödeln seien fast schon frivole Aktivitäten, für die es sich zu rechtfertigen gelte. Der Verein hält dem entgegen, dass es unmöglich sei, jeden Alltagsprozess beliebig weiter zu verdichten. Man versucht inzwischen ja sogar, den Reifeprozess unserer Kinder zu beschleunigen, sagt Liebmanns Lebensgefährtin Michaela Schmoczer. Und vielleicht können wir wirklich eine Raupe schneller schlüpfen lassen. Aber ich habe meine Zweifel, dass dann ein fertiger Schmetterling dabei herauskommt. Der Uhr- Mensch Alltag Essen im Gehen, simsen beim Fahren, Multitasking, Deadlines: Der moderne Mensch spart immer mehr Zeit und hat immer weniger. Wissenschaftler erforschen das paradoxe Phänomen, während Geplagte versuchen, ihm zu entkommen. Die schrulligen Zeitverzögerer, die ihren Klub einem Philosophieprofessor aus Österreich verdanken, stellen das Tempodiktat konsequent infrage. Welche unserer Grundannahmen sind falsch? Hat das ganze Gehetze auch ein Ziel? Was bringt es, 500 Freunde auf Facebook, aber niemanden zum Reden zu haben? Und wenn die Zeit des modernen Menschen tatsächlich immer knapper bemessen ist: Wer oder was stiehlt sie ihm dann? Zeitnot ist in Industriegesellschaften ein Virus, das alle Schichten Männer wie Frauen, Kinder wie Alte, Arme wie Reiche befallen hat. Mehr Zeit zu haben ist inzwischen einer der dringlichsten Wünsche des Durchschnittsbürgers westlicher Prägung. Das gilt vor allem für Deutschland, das Robert Levine schon vor der Jahrtausendwende in seiner vergleichenden Studie Eine Landkarte der Zeit neben Japan, Irland und der Schweiz in der Spitzengruppe der gehetztesten Nationen verzeichnete. Als das Meinungsforschungsinstitut Forsa nach den Vorsätzen der Deutschen fürs Jahr 2013 fragte, fiel 59 Prozent der Teilnehmer zuallererst Stress vermeiden und abbauen ein. Etwa die Hälfte der Befragten wünschte sich mehr Zeit für Freunde und die Familie. Für jeden fünften Bundesbürger ist nach Angaben der Techniker Krankenkasse Stress fast ein Dauerzustand. Am stärksten betroffen ist die Sandwich- Generation der Mitte 30- bis Mitte 40-Jährigen, die sich zwischen Kindern und Karriere aufreiben. Eine überwältigende Mehrheit der Menschen im Land ist sich sicher: Früher war alles gemütlicher. Es ist schon seltsam: Wir sparen in unserem Alltag immer mehr Zeit, und doch haben wir anscheinend immer weniger davon. So hat die durchschnittliche Schlafdauer des modernen Menschen seit dem 19. Jahrhundert um zwei Stunden und seit den Siebzigerjahren um 30 Minuten abgenommen. Zudem verkürzt der Mensch zunehmend die Zeit, die er braucht, um von A nach B zu gelangen, die Gehgeschwindigkeit nimmt stetig zu. Der britische Psychologe Richard Wiseman hat in 32 Städten der Erde untersucht, in welchem Tempo Passanten sich fortbewegen. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Geschwindigkeit innerhalb eines Jahrzehnts um rund zehn Prozent zugenommen hat. Auch in allen anderen Alltagsbereichen hat der Mensch sein Leben beizeiten durchgetaktet und von Verschnaufpausen befreit. Er spart Zeit fürs Lernen, indem er seinen Kindern den nötigen Stoff fürs Abitur auf dem Gymnasium nicht mehr in neun, sondern in acht Jahren eintrichtert. Er spart Zeit beim Essen, indem er Fast, Instant oder Convenient Food, also Fertiggerichte, in sich hineinstopft. Und die Produktion dieses Essens beschleunigt er immer weiter, indem er beispielsweise Turbomais züchtet oder die Mastzyklen von Hühnern, Schweinen, Rindern stetig verkürzt. So ist der Weg des Hühnchens von der Schale bis zur Nugget-Fritteuse inzwischen kaum länger als 30 Tage und es wird weiter optimiert. Der Mensch spart Zeit im Umgang mit anderen Menschen, indem er sich mit ihnen nicht erst kompliziert verabredet, sie irgendwo trifft und dann womöglich noch stundenlang mit ihnen redet. Das geht viel ein facher übers Smartphone, das ihn auch gelehrt hat, Sprachprozesse zu verkürzen: Tippt er rofl (rolling on the DER SPIEGEL 36 /

116 Titel floor laughing), omfg (oh my fucking god) oder n1 (nice one) und schickt ein putziges Emoticon hinterher, weiß jeder, wie es ihm geht. Zumindest ungefähr. Er spart Zeit bei der Arbeit, wo Controller und Unternehmensberater längst jeden Prozess dem höchsten Effizienz - standard unterwerfen. Und viele arbeiten ja auch, theoretisch, nur noch 35 Stunden die Woche ein Witz, wenn man bedenkt, dass unsere Vorfahren vor genau 100 Jahren noch 57 Stunden malochten. Was wiederum lächerlich wenig war im Vergleich zu 1825, als es die Menschen auf sage und schreibe 82 Wochenarbeitsstunden brachten. Und so geht es weiter. Der Mensch spart Zeit an der Supermarktkasse, die er inzwischen vielerorts selbst bedient. Er spart Zeit in der Liebe, der sich immer mehr Zeitgenossen über speed dating oder Partnerbörsen im Internet nähern, wo potenzielle Traumfrauen und -männer von Algorithmen für ihn vorsortiert wurden. Er spart Zeit beim Entspannen, indem er statt eineinhalb Stunden Yoga 20 Minuten Power Yoga macht. Er spart Zeit beim Beten, indem er Kurzandachten be - sucht oder rasch an der Autobahnkirche Rast macht. Selbst nach dem Tod hat Homo sapiens nichts zu vergeuden, manche ersparen ihren Hinterbliebenen posthum jede Menge Zeit: In den Vereinigten Staaten bieten inzwischen etliche Bestattungsunternehmen drive-through-funerals an. Wer eher nicht so gern mit Toten in einem Raum ist oder nur mal eben in der Mittagspause Abschied nehmen will, der kann im Jeep am Sarg vorbeidefilieren. Carl Eggleston, ein Bestatter aus Virginia, denkt bereits an weitere Serviceleistungen für Trauernde in Zeitnot: Liveübertragungen von Beerdigungen im Internet. Egglestons PR-Motto: Erlebe den Unterschied. So horten wir Stunde um Stunde. Und trotzdem ist unser Zeitkonto permanent überzogen. Am Ende unserer Zeit ist stets noch zu viel zu erledigen. Fast allen geht es wie dem Filmemacher und Autor Florian Opitz, der in seinem Buch Speed schreibt: Meine Tage kommen mir vor wie ein einziger Wettlauf gegen die Uhr. Den Startschuss dieses Wettrennens gibt entweder der Wecker oder unser Sohn Anton. Und ab dann renne ich. Bis ich abends wieder müde ins Bett falle. Dazwischen hetze ich durch einen Tagesordnungspunkt nach dem anderen. Mails checken vor dem Frühstück, Frühstück machen, Anton wickeln und anziehen, noch mal Mails checken, Anton in die Kita bringen, ins Büro oder in den Schneideraum fahren. Auf dem Weg dahin beim Radfahren die wichtigsten Telefonate erledigen, im Büro sofort wieder ins Netz und Mails checken, telefonieren, ein ziemlich unrea- 116 DER SPIEGEL 36 / 2014 Wir haben eine Diktatur der Ökonomie, die sich in alle Lebensbereiche gefressen hat. Martin Liebmann, Verein zur Verzögerung der Zeit listisches Arbeitspensum abarbeiten, Mails checken und beantworten, dazwischen immer wieder SPIEGEL ONLINE, Mittagessen im Stehen, und dann ist es gerade mal Uhr. Ständig auf dem Handy erreichbar und immer im Netz, frage ich mich manchmal, ob ich inzwischen verhaltensauffällig geworden bin. Was Opitz da beschreibt, ist der Normalzustand des Durchschnittsmenschen, sofern er in einem entwickelten Land zu leben das Privileg hat. Auf den Straßen und Plätzen in Berlin, Hamburg, München oder Dresden trifft man immer seltener auf Mitbürger, die einfach nur auf einer Parkbank sitzen und ihren Gedanken nachhängen, ziellos umherschlendern oder sich mit anderen angeregt unterhalten. In dieser Hinsicht verhaltensauffällig ist ledig - lich eine kleine Gruppe Zwangsentschleunigter zumeist Arbeitslose oder anderweitig durchs Zeitraster Gefallene, die nicht im Stechschritt über die Bürgersteige marschieren, nicht ohne Unterlass ins Headset brabbeln, nicht in Schlangenlinien Rad fahren und dabei Textnachrichten ins Handy tippen, die absolut keinen Aufschub dulden. Die große Mehrheit folgt dem Motto, das der ehemalige Vorstandschef von Micro - soft, Steve Ballmer, im Jahr 2013 für eine Entwicklerkonferenz seines Unternehmens ausgegeben hat: Schneller! Schneller! Noch schneller! Aber so sehr der Mensch auch rennt, er kommt doch nie an. Ja, komischer noch: Irgendwie scheint das Ziel, sofern er denn eines hat, in immer weitere Ferne zu rücken. Wie kann das sein? Das seltsame Paradox, immer mehr Zeit zu sparen und immer weniger zu haben, können Soziologen einfach erklären. Je mehr die Menschen ihre Alltagsprozesse optimieren, desto größer wird die Zahl ihrer Handlungsoptionen. Beispiel Reisen: Jedes Land, jede Region, jeder Berg ist inzwischen relativ mühelos und für vergleichsweise wenig Geld zu erreichen, die Zahl der möglichen Reiserouten daher ins Unermessliche gestiegen. Schon ist manchem die Welt nicht mehr genug und Weltraumtourismus eine nicht mehr weit entfernte Option. Mit der wachsenden Auswahl aber steigt in einer Zeit, in der Alles! Sofort! die dominierende Maxime ist, die Notwendigkeit, sich ranzuhalten wenn man vor den ersten Anzeichen von Arthrose oder Gicht den Kilimandscharo erklommen, die Anden überquert und den Ärmelkanal durchschwommen haben will. Ganz ähnlich ist es mit dem technischen Fortschritt, der den Alltag erleichtern soll. Aber tut er das wirklich? Der Soziologe Hartmut Rosa hat so seine Zweifel, er illustriert sie in seinem Buch Beschleunigung und Entfremdung am Beispiel der digitalen Kommunikation: Zwar lasse sich eine deutlich schneller schreiben als ein herkömmlicher Brief. Ich vermute jedoch, dass Sie inzwischen 40, 50 oder gar 70 s pro Tag lesen und schreiben. Daher benötigen Sie weitaus mehr Zeit für Kommunikation als vor der Erfindung des Internets. Dasselbe sei schon mit etlichen technischen Errungenschaften passiert, zum Beispiel vor über einem Jahrhundert bei der Einführung des Autos. Das ist zwar schneller als die Kutsche, dafür fahren die Menschen unendlich viel mehr mit ihnen herum oder stehen im Stau. Dass im Fall der -Kommunikation Zeit wirklich Geld ist so das Bonmot von Benjamin Franklin, belegt auf eindrucksvolle Weise eine Studie, welche die US- Unternehmensberatung Bain jüngst vorlegte. Demnach verbringen Führungskräfte im Schnitt vier Stunden pro Woche mit dem Schreiben und Beantworten überflüssiger s, macht zwei Arbeitstage pro Monat. US-Unternehmen verlören auf diese Weise zig Millionen US-Dollar im Jahr. Von Twitter und Tumblr, WhatsApp und YouTube war dabei noch nicht einmal die Rede. So hasten mehr und mehr Menschen schnappatmend durch ihren Arbeitsalltag und sogar durch ihre Freizeit, die allen Segnungen der Moderne zum Trotz ebenfalls immer enger bemessen ist. Folgt man dem soeben veröffentlichten Freizeitmonitor der gemeinnützigen Stiftung für Zukunftsfragen, dann hatten die Deutschen im Jahr Stunden und 3 Minuten freie Zeit täglich, vier Jahre später sind es FOTO: SPIEGEL ONLINE

117 ILLUSTRATION: ANDREAS KLAMMT / DER SPIEGEL noch 3 Stunden und 56 Minuten. Besonders drastisch zeigt sich der Verlust von Eigenzeit bei Familien, die es nicht mal mehr auf 3 Stunden bringen und bei Jugendlichen, denen binnen vier Jahren 36 Minuten pro Tag abhandenkamen. Es gibt eben einfach zu viel zu tun. Und weil das ja doch irgendwie stressig ist, muss man zwischendurch noch schnell ein paar Ratgeber lesen, wie das mit der Zeit besser zu managen ist. Don t hurry, be happy, Mehr Zeit für das Wesentliche, Noch mehr Zeit für das Wesentliche heißen die Bücher, die eine Markt- und Zeitlücke gefüllt haben. Und wem das nicht reicht, der kann in einem schicken Hotel irgendwo in den Bergen ein Entschleunigungs- oder Do-no thing-wochenende buchen, Zeitlupenseminare oder Business-Qigong-Kurse besuchen, sich ayurvedisch ertüchtigen oder von einem Coach Effizienztipps geben lassen. Was dagegen gar nicht geht, ist einfach mal nichts zu tun. Zeit zu nutzen ist ein Muss, sie einfach vergehen zu lassen, ein Vergehen. Dass Nichtstun für zahllose Menschen offenbar wirklich ein Horrorszenario ist, wiesen erst jüngst Forscher um den Psychologen Timothy Wilson von der Universität Virginia nach. Die Wissenschaftler setzten Probanden aller Altersklassen einzeln in einen Raum und forderten sie auf, 6 bis 15 Minuten lang still zu sitzen und ihren Gedanken nachzuhängen. Die Mehrheit reagierte mit deutlichen Anzeichen von Unwohlsein. In einer weiteren Versuchsanordnung räumten die Forscher den Testpersonen nun die Möglichkeit ein, sich selbst während der 15-minütigen Ruhezeit einen leichten Elektroschock zu verpassen. Das Ergebnis, über das die Fachzeitschrift Science in ihrer Juli-Ausgabe berichtete, war verblüffend: Zwei Drittel aller Männer und ein Viertel aller Frauen verpassten sich mindestens einmal lieber selbst einen Schlag, als einfach still zu sitzen. Ein Mann brachte es sage und schreibe auf 190 Elektroschocks. Wieso der Mensch auch dann, wenn ihn keiner dazu zwingt, nicht lockerlassen kann und stattdessen den Druck auf sich weiter erhöht, hat nach Ansicht des Soziologen Rosa einen weiteren Grund in der Säkularisierung westlicher Gesellschaften. Da heute immer weniger Menschen an Jenseits oder Wiedergeburt glaubten, sei für sie auch die Vorstellung obsolet geworden, es im nächsten Leben anders oder besser machen zu können. Stattdessen ahne der moderne Mensch, dass er alles, was er erledigen will, in 70, 80, 90 Jahren geschafft haben muss. So werde Beschleunigung zum Ewigkeitsersatz. Zu dumm nur, dass dieses Alles, das es zu erledigen gilt, fortwährend mehr wird. Man könnte hierin eine der Tragödien des modernen Menschen sehen, schreibt Rosa. Während er den Eindruck hat, in einem unbarmherzigen Hamsterrad gefangen zu sein, wird sein Lebens- und Welthunger nicht befriedigt, sondern zunehmend frustriert. Was aber trotzdem niemanden daran hindert, weiter auf die Tube zu drücken. Die Menschen unterteilen ihren Alltag in immer kleinere Zeithäppchen, sind überall und nirgends zugleich, hinken ständig ihren oftmals realitätsfernen Ansprüchen hinterher und stressen sich mit Deadlines, die bisweilen sogar im Wortsinne welche sind: Der Herzinfarkt, sagt Karlheinz Geißler, Professor für Wirtschaftspädagogik, sei in vielen Fällen tatsächlich ein Zeitinfarkt. DER SPIEGEL 36 /

118 Titel Der Mensch gönne sich zunehmend seltener Pausen, weil er sie für verlorene Zeit halte. Mit Interesse, so der Münchner Zeitforscher, habe er bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien registriert, dass die Nachspielzeit nach 90 Minuten trotz brutaler Hitze immer länger geworden sei. Das Signal lautet: Pausen werden bestraft. Dabei sei der Mensch ein Pausenwesen, so Geißler, ihr Entzug eine Form von Folter. Was aber auch Arbeitgeber nicht daran hindert, die Zeit, die ihre Angestellten scheinbar vertrödeln, noch genauer zu vermessen. Die britische Supermarktkette Tesco zum Beispiel rüstete Mitarbeiter mit smarten Armbändern aus, die ungeheuer hilfreich sind beim Scannen von Waren oder von Menschen: Nach einem Bericht des Independent bekamen jene Angestellten Ärger, die aufs Klo gegangen waren, ohne an ihren elektronischen Handfesseln zuvor die Pausenfunktion aktiviert zu haben. Andere Unternehmen experimentieren ebenfalls mit intelligenten Geräten, um jederzeit zu wissen, wo sich Untergebene aufhalten und mit wem sie unnötig ihre Zeit verplempern. Dass die dauernde Beschleunigung nicht noch viel mehr Menschen krank macht, liegt daran, dass der Homo sapiens von Natur aus ganz gut darin ist, sich lebensfeindlichen Bedingungen anzupassen. Das Schnitttempo in Actionfilmen wie der 118 DER SPIEGEL 36 / 2014 Bourne -Trilogie oder Elysium hätte Menschen noch vor 30 Jahren in Scharen aus den Kinos und vor die Kloschüsseln getrieben. Fußballübertragungen wie je - ne der WM 1974, mit ihren endlos mo - notonen Aufzählungen Beckenbauer, Breitner, Beckenbauer, Overath wirken auf Fernsehzuschauer des 21. Jahrhunderts wie radikalentschleunigte Realsatire. Der Mensch verschiebt die Grenzen seiner Beschleunigungsfähigkeit von Jahr zu Jahr. Die Frage allerdings ist: Geht das stets so weiter? Und sollte man das wollen? Was bei all dem Gehetze nämlich verloren geht, ist die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, nachzudenken, zu verstehen. Vor allem Arbeitsprozesse haben sich derart verdichtet, dass selbst hochspezialisierte Fachkräfte oft nicht mehr erklären können, was genau sie da eigentlich von morgens bis abends, und oft noch am Wochenende, tun. Der Arbeitsmediziner Michael Kastner nennt das Dynaxität, ein Wortbastard aus Dynamik und Komplexität. Wir müssen immer schneller immer mehr machen und blicken immer weniger durch, so Kastner. Animation: Wie die innere Uhr uns täuscht spiegel.de/app362014zeit oder in der App DER SPIEGEL So kann kaum noch ein Mensch ernsthaft behaupten, er verstünde etwa, was bei internationalen Börsengeschäften im Einzelnen vor sich geht, deren Tempo sich in den vergangenen Jahren vertausendfacht hat. Transaktionen finden automatisiert und weltumspannend in Mikrosekunden statt, mit realen Auswirkungen, die verheerend sein können und zuletzt auch waren. Wer kontrolliert sie? Die Politik? Wohl kaum. Als 2008 das globale Bankensystem kollabierte, mussten Regierende weltweit binnen Tagen entscheiden, ob und wie sie die zumeist privatwirtschaftlichen Institute retten wollten. Auch in Deutschland ging es um Hunderte Milliarden Euro. Das Parlament winkte die Rettungsaktion schließlich durch. Gleichzeitig räumten Abgeordnete ein, dass sie etwa beim Euro-Rettungsschirm die notwendigen Unterlagen zum Teil gar nicht gelesen und wenn, dann nur in Ansätzen verstanden hatten. Vermutlich ist der Erfolg der Christdemokratin Angela Merkel, die im neunten Jahr ihrer Kanzlerschaft noch unangefochtener ist als im ersten, auf eine ihrer herausragenden Eigenschaften zurückzuführen: Niemand im politischen Betrieb Deutschlands versteht es besser, in hektischen Zeiten Ruhe auszustrahlen und das vielleicht trügerische Gefühl zu vermitteln, die Lage im Griff zu haben. Ob sie das ILLUSTRATION: ANDREAS KLAMMT / DER SPIEGEL

119 FOTO: URBAN ZINTEL Die Frage ist nicht, wie viel Geschwindigkeit wir erreichen, sondern wie viel gut ist für ein gutes Leben. Hartmut Rosa, Soziologe wirklich hat, ist nicht mehr ausschlaggebend. Hauptsache, das Volk denkt, dass es so ist. Eigentlich brauchte die Politik mehr Momente der Entschleunigung, Reflexionsschleifen, um über grundlegende Entscheidungen nachzudenken, sagt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Aber weil sie die nicht hat, wird in Berlin und anderen Hauptstädten Politik inzwischen oft nur simuliert, ist der Streit zwischen Politikern offenbar endlos wichtiger als der Widerstreit von Interessen, jazzen fast alle Medien das dröge Geschäft des Regierens regelmäßig zum Western- Showdown hoch: wer gegen wen? Wer sind die Guten, wer die Bösen? Und wer steht am Ende noch? Das Ergebnis ist, so sieht es Voßkuhle, eine lagerübergreifende Weigerung, in Alternativen zu denken und diese in den gesellschaftlichen Debatten sichtbar werden zu lassen. Gedacht war das mal anders. Demokratie bedeutet eigentlich: sich Zeit zu nehmen für das Abwägen unterschiedlicher Interessen, den Austausch von Argumenten. Es ist ein mühsamer, aufwendiger und langwieriger Prozess, Wahlen abzuhalten, Menschen zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und zu erklären. Demokratie brauche eine menschenmögliche Geschwindigkeit, und die gibt es nicht mehr immer, beklagte der ehema - lige Vizekanzler Franz Müntefering in einem Cicero-Interview. Wenn ein Parlament keine Zeit mehr hat zu diskutieren, zu befragen, auch mal nachzudenken und dann zur Entscheidung zu kommen; wenn das alles nicht mehr geht, dann werden die autokratischen Systeme gewinnen, die auf niemanden Rücksicht nehmen. Auf einem G-8-Gipfel, so der Sozialdemo - krat, habe mal ein russischer Kollege zu ihm gesagt: Wir gewinnen. Weil wir schneller sind. Aber der Westen hat längst dazugelernt und drückt in allen Lebensbereichen weiter aufs Tempo. Die Politik beschleunigt sich und lässt dabei die Menschen auf der Strecke. Die Medien fügen sich dem Echtzeitterror und generieren Nachrichten, noch bevor es welche gibt. Die Wirtschaft erfindet Dinge neu, noch bevor die alten ausgereift sind. Wer ein iphone 5 ergattert hat, kann sich im Apple-Store gleich wieder hinten anstellen; bis er drankommt, gibt es schon das iphone 6. Mode- und Trendzyklen werden stetig kürzer. Das neue Jahrtausend sah bereits ein Revival der Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre und kann sich jetzt nur noch selbst einholen. Der Mensch stößt an seine Grenzen und sucht sie ständig zu erweitern, mit Pillen oder Neuro-Enhancern. Auf die Idee, das Hamsterrad zu stoppen, kommt anscheinend kaum jemand. Der gehetzte Mensch sorgt einzig und allein dafür, dass ihm nicht vorzeitig die Puste ausgeht mit allen erdenklichen Mitteln. So beobachtet etwa das Bundeskriminalamt seit Jahren mit Erstaunen, dass in Deutschland weniger Heroin sichergestellt wird, während der Konsum von Crystal Meth durch die Decke geht registrierten die Behörden erstmals mehr erstauffällige Konsumenten des kristallinen Meth amphetamin als von Heroin. Als Wach macher und vermeintlicher Leistungssteigerer ist Crystal offenbar die Droge der Zeit. Beschleunigung, sagt Hartmut Rosa, sei eine neue, abstrakte Form des Totalitarismus: Sie durchdringe alle Lebensbereiche, übe Druck auf jeden Einzelnen aus, es sei nahezu unmöglich, sie zu bekämpfen. Dabei, so der Soziologe, dürfe doch nicht immer wieder die Frage sein, wie viel Geschwindigkeit wir irgendwie erreichen können. Die Frage müsse lauten: Wie viel Geschwindigkeit ist gut für ein gutes Leben? Diese Frage ist nicht neu. Aber sie wurde zu unterschiedlichen Zeiten erstaunlich unterschiedlich beantwortet. Sokrates nannte die Muße Schwester der Freiheit. Im Gegensatz zum Arbeitssklaven war der Müßiggänger ein schöpferischer Mensch, frei im Denken und in der Lage, sich in aller Ruhe philosophisch zu betätigen. Muße, der Begriff stammt vom alt - hochdeutschen muoza ab, bedeutet Gelegenheit, Möglichkeit. Die Möglichkeit, sich frei von permanenten Zwängen zu entfalten. Müßig zu sein im ursprünglichen Sinne hieß nicht, nichts zu tun, sondern sich ohne Fremdbestimmung wichtigen Dingen widmen zu können. Lange Zeit war das gesellschaftlich anerkannt. Dann kam Luther. Von Ledig- und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben, befand der Reformator. Und: Der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen. Die Muße widmete Luther kurzerhand zur Sünde um, Acedia (Trägheit) machte als eines der sieben Hauptlaster im europäischen Mönchtum Kar riere. Die protestan tische Ethik, urteilte der Soziologe und Ökonom Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. In dessen späterer Ausprägung hieß es in den Worten des sozialdemokratischen Lutheraners Gerhard Schröder: Es gibt kein Recht auf Faulheit. Womit die Muße endgültig auf eine Stufe mit Dämmerschlaf, Prekariatsfernsehen und Sozialschmarotzertum degradiert worden war. Wer heute etwas auf sich hält, rennt bis zur Besinnungslosigkeit. Allmählich jedoch dämmert einer wachsenden Zahl von Menschen, was beim ziellosen Rumhetzen so alles auf der Strecke bleibt: Genuss, Erkenntnis, Freundschaften, die eigene Gesundheit, Spaß und die Möglichkeit, sich über das Woher und das Wohin beizeiten den einen oder anderen Gedanken machen zu können. Langsamkeit sollte eine Dimension unseres Lebens darstellen, findet der italienische Journalist und Soziologe Carlo Petrini, der mit Slow Food eine über - aus erfolgreiche Anti-Hetz-Kampagne ins Leben gerufen hat. Die Slow-Food- Doktrin besagt, dass jeder Mensch ein Recht auf Genuss hat und dass Qualität ihre Zeit braucht. Und das, sagt Petrini, gelte längst nicht nur für unser Essver - halten. Im Gründungsmanifest von Slow Food heißt es denn auch: Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche gegen die univer - selle Bedrohung des,fast Life zu verteidigen. Gegen diejenigen sie sind noch die schweigende Mehrheit, die die Effizienz mit Hektik verwechseln, setzen wir den Bazillus des Genusses und der Gemütlichkeit. Und langsam, aber sicher so scheint es geht die Saat auf. Es gibt inzwischen Slow Citys in 29 Staaten in der ganzen Welt, vor allem in Italien, wo die Bewegung ihren Anfang nahm. Das Ziel der Kommunen ist es, Autos, Fast-Food- und Supermarktfilialen aus der Innenstadt zu verbannen, alte Stadtstrukturen zu erhalten und die Lebensräume mit einem Netz von Spazierwegen zu verbinden. Angestrebt wird eine Rückkehr zu mehr Muße. Städte, die weniger als Einwohner haben und mindestens die Hälfte der Ent- DER SPIEGEL 36 /

120 Titel 120 Der Mensch gönnt sich immer seltener Pausen. Dabei ist Pausenentzug eine Form von Folter. Karlheinz Geißler, Zeitforscher schleunigungskriterien erfüllen, können sich zertifizieren lassen. In Deutschland war Hersbruck in Mittelfranken die erste Kleinstadt mit Tempobremse, elf weitere Gemeinden folgten. Es gibt Slow Travel, Slow Money, Slow Living. Sogar für Slow Sex können sich manche Menschen inzwischen erwärmen. Dabei geht es um Lusterlebnisse, die im Orgasmus nicht den Höhe-, sondern allenfalls den Endpunkt einer stundenlangen Beschäftigung mit dem Körper sehen. Der Mann müsse beim Slow Sex nicht einmal eine Erektion haben, zumindest nicht die ganze Zeit, sagt die Sexualtherapeutin Diane Richardson. Wenn der Penis rausrutscht, schiebt man ihn wieder rein. Welche seltsamen Blüten die Lust an der Langsamkeit treiben kann, zeigt ein Trend, der in Norwegen seinen Anfang nahm. Um das 100-jährige Bestehen der Zugverbindung von Bergen nach Oslo gebührend zu feiern, übertrug das nationale Fernsehen im November 2009 die gesamte Fahrt live aus der Zugführerperspektive. Siebeneinhalb Stunden passierte gar nichts. Und 1,2 Millionen Norweger schauten gebannt zu. Aus der einmaligen Reality-Sause ist nahezu ein Dauerbrenner geworden. Die Norweger beglückten ihr Volk bereits mit einem achtstündigen Strickabend, einer Nationalen Feuerholznacht und der kompletten Schiffsreise von Bergen nach Kirkenes, hoch oben am Polarmeer mit 134 Stunden die langatmigste TV-Sendung aller Zeiten. Der Rhythmus des konventionellen Fernsehens wird immer schneller, sagt Langsam-TV-Erfinder Rune Møklebust. Da bieten wir Entspannung und Authentizität. Inzwischen hat die US-Firma LMNO die Rechte an der Sendung erworben und schickt sich an, noch in diesem Jahr die Amerikaner medial zu entschleunigen. Deutschlands Fernsehmacher lassen sich dagegen noch Zeit. Aber auch die Deutschen scheinen allmählich den Müßiggang als Lebensart wiederzuentdecken. Vor allem junge, gut ausgebildete Akademiker fragten bei Einstellungsgesprächen immer häufiger nach Sabbaticals und Auszeiten statt nach hohen Gehältern, wundern sich Unternehmerverbände. Gewerkschaften präsentieren Umfragen, wonach eine Mehrheit die Nase voll hat von immer fle xibleren Arbeitszeiten. Der Streit darüber, glaubt IG-Metall-Boss Detlef Wetzel, werde eines der ganz großen Themen der nächsten Jahre. Ein Indiz für die Sehnsucht nach Entspannung ist auch der verblüffende Erfolg der Zeitschrift Landlust, die 2012 erstmals eine Auflage von einer Million übertraf. Den gehetzten Städter zieht es, zumindest in der Theorie, raus aus dem Überfluss an Reizen, Wahlmöglichkeiten, Kaufoptionen. Er träumt sich aufs Land, wo er Erholung und Gemächlichkeit zu wittern meint. Oder er holt sich das Land in die Stadt, züchtet Bienen auf dem Mietskasernendach und beackert Brachen mit derartiger Hingabe, dass im Handumdrehen blühende Kleinstlandschaften daraus werden. Die Kultivierung des Bodens und die Kultivierung des Geistes seien wesensgleiche und nicht nur ähnliche Tätigkeiten, sagt der Literaturwissenschaftler Robert Harrison. Eine machtvolle Gegenströmung zum herrschenden Gehetze sei das alles noch nicht, glaubt der Zeitforscher Geißler. Aber immerhin: Die Leute suchen offenbar individuelle Fluchten, und wer weiß, vielleicht wird irgendwann eine kollektive Bewegung daraus. Von Zeit zu Zeit soll es die ja geben. Martin Liebmann, der Vorstand der Zeitverzögerer, ist jedenfalls optimistisch. Mehr Muße sei der Schlüssel zu einem glücklicheren Leben. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel. Dem australischen Wissenschaftler John Mainstone beispielsweise kann beim besten Willen niemand Hektik vorwerfen. Mehr als 50 Jahre lang betreute der Physiker an der Universität von Queensland in Brisbane den langsamsten Laborversuch der Welt. Dort wollte man beweisen, dass Pech sich zwar anfühlt wie ein Feststoff, tatsächlich aber über die Eigenschaft einer Flüssigkeit verfüge. Wiewohl John Mainstone seit 1961 das Experiment betreute, war es ihm nie vergönnt, einen Tropfen fallen zu sehen. Einmal befand er sich auf Dienstreise, einmal hatte man zwar eine Webcam installiert, die aber just am Tag des Tropfenfalls den Dienst quittierte wagte Mainstone die Voraussage, dass es noch vor Jahresende wieder mal so weit sein würde. Aber bevor der nächste Tropfen fiel, verschied er an einem Herzinfarkt. Jörg Schindler Der Text basiert auf einem Kapitel des soeben erschienenen Buches des SPIEGEL- Redakteurs Jörg Schindler Stadt, Land, Überfluss Warum wir weniger brauchen als wir haben. (S. Fischer, Frankfurt am Main; 272 Seiten; 14,99 Euro). FOTO: XXPOOL / THOMAS DASHUBER / AGENTUR FOCUS; ILLUSTRATION: ANDREAS KLAMMT / DER SPIEGEL

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122 Ausstellungen Schönheit des Strengen Mode ist ein Ausdruck ihrer Zeit. Eleganz wiederum ist etwas anderes. Der deutschstämmige Fotograf Horst P. Horst, von dem dieses Zitat stammt, suchte sein Leben lang nach dem, was von den Moden bleibt. Das Londoner Victoria and Albert Museum ehrt Horst nun 15 Jahre nach seinem Tod in einer umfassenden Retrospek tive (vom 6. September bis zum 4. Januar). Sie zeigt nicht nur Horsts Mode - fotografien und seine Porträts von Stars wie Marlene Dietrich oder Bette Davis, die er für die Vogue gemacht hat und durch die er berühmt geworden ist. Auch seine Aktstudien und Reisereportagen sind Gegenstand der Ausstellung. Horst stammte aus Weißenfels an der Saale und ging 1930 nach Paris, um bei Le Corbusier eine Ausbildung als Architekt zu machen. Doch ihn faszinierte die Modewelt in der französischen Hauptstadt, und so wurde er Fotograf, entwickelte eine große Vorliebe für klare Konturen und präzise Kompositionen. Sein berühmtestes Bild Mainbocher Corset nahm Horst 1939 in Paris auf, unmittelbar vor seiner Emigration in die USA. Es zeigt eine Frau von hinten, deren Korsett halb aufgeschnürt ist, und gilt als Schlüsselwerk des Perfektionisten. Doch die Pose entstand aus der Not heraus: Das Mädchen weinte die ganze Zeit, deshalb habe ich sie von hinten aufgenommen, räumte Horst später ein. red Horst-Werk Mainbocher Corset, 1939 Autoren Sex in Auschwitz Das letzte Wort, das die berüchtigte Auschwitz-Aufseherin Irma Grese ihrem Henker zurief, war angeblich ein barsches Schnell!. Das letzte Wort, mit dem ihr literarisches Alter Ego Ilse Grese ihren Liebhaber, einen SS- Offizier, zum Sex auffordert, ist ein ebenso patziges Schnell. Solche Späße finden sich im soeben in Großbritannien veröffentlichten Skandalroman The Zone of Interest. Autor Martin Amis, 65, gilt laut New York Times Schriftsteller Amis als Meister der neuen Widerwärtigkeit, in seinem jüngsten Werk wird er diesem Ruf gerecht. Als Schauplatz hat sich Amis das Konzentra - tionslager Auschwitz ausgesucht. Die Hauptrollen spielen ein Lagerkommandant, ein SS-Führer, der nicht nur Ilse Grese, sondern auch der blonden Gattin des Kommandanten nachstellt, und ein Jude, der als Leiter des Sonderkommandos Zeuge des Massenmords wird. Die SS- Leute erweisen sich als skrupellose Karrieristen, die nach Feierabend darüber räsonieren, wie man die Juden noch schlimmer behandeln könnte: Immerhin essen wir sie nicht, sagt der eine. Aber das wäre ihnen auch egal, so der andere, es sei denn, wir äßen sie lebendig. Der Zynismus der Nazi- Akteure erinnert stark an den der Monty-Python- Charaktere, sie tragen Namen wie Frithuric Burckl und Orbart Seisser und entsprechen damit in etwa dem, was britischer Humor noch immer für typisch deutsch hält. Der Autor selbst will angeblich mit seiner wilden Collage aus Satire, Sex und Holocaust zur Aufklärung des Letzteren bei - tragen und wundert sich nun, dass seine Verlage in Deutschland (Hanser) und Frankreich (Gallimard) auf eine Ver öffentlichung dankend ver zichtet haben. dy FOTOS: CONDÉ NAST / HORST ESTATE (O.); GUILLEM LOPEZ / INTERTOPICS / PHOTOSHOT (U.) 122 DER SPIEGEL 36 / 2014

123 FOTO: EVERETT COLLECTION / ACTION PRESS; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL Kino in Kürze Angestellter des Todes Jeden Tag geht er in die Wohnungen gerade Verstorbener und macht sich ein Bild von dem Leben, das sie geführt haben. John (Eddie Marsan), Hauptfigur des Films Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit, kümmert sich in London als sogenannter funeral officer um die Beerdigung von Menschen, die keine Verwandten mehr haben. Für die Pfarrer schreibt er die Grab reden und ist der Einzige, der sie sich anhört. In seinem großartigen, todtraurigen und dann wieder Hollywood Pornoprozess Harvey Weinstein, Produzent und Verleiher von Filmen wie Der englische Patient oder Django Unchained, kämpft seit Jahren gegen Hollywoods rigides System der Altersfreigabe. Selbst bei dem oscarprämierten Film The King s Speech musste er für das US-Kino das Wort fuck tilgen lassen, damit auch Jugendliche unter 17 den Film sehen können. Weinstein hält die Regeln, nach denen die US-Filmindustrie die Freigaben festlegt, für Zensur. Nun hat er einen juristischen Sieg errungen. Ein New Yorker Gericht befand im Rahmen eines Urheberrechtsstreits, die Darstellung eines oralen Geschlechtsakts in der von Szene aus Lovelace überraschend beglückenden Melodram erzählt Regisseur Uberto Pasolini, wie ein Verwaltungsakt zur Herzensangelegenheit werden kann. Selten wirkte Akribie auf der Leinwand so berührend wie hier. Mit der Gewissenhaftigkeit eines guten Buchhalters versucht John, das Leben der fremden Toten zu rekonstruieren, weil er etwas bewahren möchte, was ebenso kostbar wie zerbrechlich ist: mensch - liche Würde. Dieser stille, unsentimentale und gerade deshalb gefühlvolle Film zeigt, dass man Menschen auch nach ihrem Tod nicht alleinlassen sollte. lob Weinstein verliehenen Produktion Lovelace sei keine Pornografie. Der Film beruht auf der Lebensgeschichte von Linda Lovelace, die in den Siebzigerjahren durch den Pornoklassiker Deep Throat zum Star wurde. In Love - lace gibt es eine Schlüsselszene, in der zu sehen ist, wie die Titelheldin (gespielt von Amanda Seyfried) vor ihrem Arzt kniet und ihn befriedigt. In der Szene sei keine Nacktheit zu sehen, argumentierte der Richter Thomas Griesa, vielmehr werde deutlich, wie Lovelace manipuliert worden sei. Was Griesa nicht sagte: Einst hatte sogar ein US-Präsident behauptet, Oralverkehr sei gar kein Sex, nämlich Bill Clinton nach seiner Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky. lob Kultur Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht Problemlösung in Moll In seinem Tagebuch über Chopin und die Welt ( Play It Again, Vintage Books) erzählt der Chefredakteur des britischen Guardian, wie er am 15. März 2011 in einem beinahe verlassenen Hotel in Tripolis Quartier nimmt. Etwa 800 Betten, rote Teppiche und viel Gold; weder Mobil - funkempfang noch Internet, aber in allen Räumen zeichnen Monitore jede Bewegung auf. Es ist einer jener Tage, in denen schwer zu entscheiden ist, ob einer der Kriege oder Fukushima gerade die Topmeldung ist. Alan Rusbridger ist nach Libyen gereist, um den entführten Reporter Ghaith Abdul-Ahad freizubekommen. Verhandlungen mit Beratern und einer blonden PR-Spezialistin aus Los Angeles, die für den Gaddafi-Sohn Saadi arbeitet; eine Verabredung für den nächsten Vormittag. Im Dunst von Rührei und gegrillten Tomaten, der zart aus dem Frühstücksraum herüberweht, setzt sich Rus - bridger in der Halle an den tschechischen Petrof-Flügel, der seine besten Jahre hinter sich hat, und spielt die ersten Seiten der Ballade Nr. 1 von Chopin. Es ist seit Tagen der erste Moment völliger Versunkenheit; später erinnert er sich daran, dass Murray Perahia ihm einmal gesagt hat, diese Ballade handle von Revolution und Exil. Rusbridger hatte sich acht Monate zuvor entschieden, dieses Stück Musik zu erobern und darüber Tagebuch zu führen. Er sah nicht voraus, dass in ebendieser Zeit vom 6. August 2010 bis zum 13. Dezember 2011 der Arabische Frühling, der Tsunami in Japan, die Unruhen in Großbritannien, der Abhörskandal von News of the World sowie WikiLeaks seine Zeit ebenfalls in Anspruch nehmen würden. Der unschuldige Entschluss, die Ballade Nr. 1 zu lernen, zieht eine Reihe von Entscheidungen nach sich, die er nicht vorausahnte: Alan Rusbridger nimmt Unterricht bei verschiedenen Lehrern, befragt Neuro physiologen zum manuellen Gedächtnis, organisiert einige Benefizkonzerte, interviewt Pianisten, kauft einen neuen Flügel und baut dafür ein kleines Gebäude auf dem Grundstück seines Ferienhauses, was umfangreiche Erdbewegungen und kleinere Überschwemmungen nach sich zieht. Die britische Bereitschaft zum Spleen zeigt sich hier als reine Gnade: Aus einem Problem nämlich diese schwierigen 8.31 (Martha Argerich) bis 9.37 (Lang Lang) Minuten am Piano zu meistern werden immer mehr, und sie bilden mit denen aus der übrigen Welt ein Gleichgewicht des Schreckens, das immer neu ausbalanciert werden kann, weil es Probleme unterschiedlicher Art sind, die Muskeln der Seele, des Geistes und des Körpers beanspruchen. Vor allem aber hilft der Spleen Rusbridger, bei sich und lebendig zu bleiben, urteilsfähig und voller Geistesgegenwart. Allein deshalb kann er sich wundern über den Zustand der Welt und die bizarren Situationen, in die er gerät. (Und macht nicht das, worüber wir uns wundern, die größte Gemeinsamkeit im Gedanklichen aus? Weil es all das voraussetzt, worüber wir uns eben nicht wundern?) An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Dirk Kurbjuweit an der Reihe, danach Claudia Voigt. DER SPIEGEL 36 /

124 So mögen wir es in Berlin Stadtplanung Die Bar 25 war lange Zeit der partywütigste Ort der Hauptstadt. Was passiert, wenn ihre ehemaligen Betreiber nun ein ganzes Viertel bauen und dort einen modernen urbanen Hippietraum verwirklichen? Von Philipp Oehmke Das ist jetzt heute sein 56. Termin auf irgendeinem Amt, hat Juval Dieziger vorhin ausgerechnet, und eigentlich hatte er sich sein Leben einmal anders vorgestellt. Dieziger ist Clubbesitzer, früher hat er die Bar 25 betrieben und damit maßgeblich dafür gesorgt, dass Berlin von Brooklyn über Barcelona bis Tokio für seine exzessiven Nächte bekannt wurde, die oft von Freitag bis Montag dauerten. Er trägt einen zotteligen, grau-schwarzen Bart, der ihm fast bis auf die Brust reicht, krause schwarze Haare schauen unter einem Käppi hervor, sein T-Shirt hat Löcher. Er sieht aus wie der Kapitän eines gestrandeten Seeräuberschiffs. Ein Taxi steht bereit, Dieziger wartet auf seinen Partner Christoph Klenzendorf, mit dem er vor zehn Jahren die Bar 25 eröffnet hat und später den fast genauso legendären Club KaterHolzig. Zusammen müssen sie zum Baustadtrat vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Es wird um Abstandsflächen gehen, um nervige Lärmgutachten und um Baugenehmigungen. 124 DER SPIEGEL 36 / 2014 Denn, inzwischen mit vierzig, wollen Dieziger und Klenzendorf nicht mehr nur einen Club betreiben. Sie wollen ihr eigenes Stadtviertel bauen, mitten in Berlin, hier am Holzmarkt, gleich am Ufer der Spree zwischen Mitte und Friedrichshain. Dieses Stadtviertel wird die erste Heimat für einen Lebensstil sein, der sich bisher nur in einer Schattenwelt gezeigt hat, in den Clubs, in den Nächten und an speziellen, nicht für jeden zugänglichen Orten. Nach 25 Jahren Clubkultur bekommt diese Schattenwelt nun einen Platz in der Oberwelt, in bester Lage. Das Grundstück ist so groß wie zweieinhalb Fußballfelder. Klenzendorf und Dieziger haben zusammen mit einigen anderen im Frühjahr 2012 die Genossenschaft Holzmarkt gegründet, sie haben sich von einer Schweizer Pensionskasse das Geld besorgt und dann das Grundstück gekauft: für deutlich mehr als zehn Millionen. Es war eine der begehrtesten Freiflächen der Stadt. Die Genossen haben Investoren und Hedgefonds ausgestochen, was an ein Wunder grenzt. Business-Hippies wurden sie von da an genannt. Aber jetzt müssen sie bauen, und da beginnen die Probleme. Ein Technologiezentrum wollen sie errichten für Firmengründer, ein Studentenwohnheim, ein Dorf mit Geschäften, einen Markt, einen Uferwanderweg, Hallen für Musikstudios und Werkstätten, ein Restaurant, einen Club, ein Hotel, eine Fischzucht, Gemüseanbau und natürlich, weil alle älter geworden sind, eine Kita. Endlich kommt Klenzendorf. Zu dem Termin beim Baustadtrat trägt er kurze Jogginghosen und Wanderstiefel. Im Taxi versucht Dieziger, ihm zu erklären, worum es auf dem Bezirksamt gehen soll, was nicht gelingt, weil Klenzendorfs Telefon ständig klingelt. Dinge von vergangener Nacht müssen besprochen werden, und er kann sich heute, an so einem Dienstag, irgendwie schlecht konzentrieren. Vorn auf dem Beifahrersitz redet Mario Husten am Handy eindringlich auf den Anwalt der Gruppe ein. In ihrem neuen Club hat es einen Wasserschaden gegeben, FOTO: SC ARCHITEKTEN

125 Computersimulation des Dorfes am Holzmarkt und natürlich stellt die Versicherung sich quer. Husten war in einem früheren Leben Manager eines großen Zeitschriftenverlags und zuständig für das Osteuropa-Geschäft. Klenzendorf und Dieziger haben ihn vor zwei Jahren dazugeholt, weil er schnell denkt, überzeugend redet und weiß, was mit dem Begriff Controlling gemeint ist. Scheiße, im Moment ist echt der Wurm drin, ruft Husten ins Taxi, als er auflegt. Dieziger blickt aus dem offenen Taxifenster. Haben sie sich übernommen? Früher haben sie einen Zwischennutzungsvertrag klargemacht, einen Wohnwagen auf das Gelände gefahren, Musik angestellt, Getränke verkauft, ein paar Bretterbuden und eine Tanzfläche gebaut, die richtigen Leute an die Tür gestellt, die richtigen Dealer hineingelassen, und weil sie das gut konnten, wurden spektakuläre Clubs daraus. Es war eine neue Kultur des Feierns. Der Exzess war nicht mehr der Ausnahmezustand des Lebens, er war sein Kern. In die Bar 25 gingen die Gäste nicht für ein paar verlorene Stunden in einer Samstagnacht, sondern blieben dort oft tagelang bis Montagnachmittag. Wer hineinging, hieß es, kam so schnell nicht mehr heraus. Das Gelände hatten sie damals für relativ wenig Geld von der Berliner Stadtreinigung gemietet, die es hatte brach liegen lassen. Es war klar, irgendwann würde die Stadtreinigung das Grundstück verkaufen, an einen Investor, der Luxuswohnungen oder Bürotürme darauf bauen würde, wie es an den umliegenden Spreegrundstücken auch geschieht. Als der Verkaufsprozess Ende 2010 beginnen sollte, musste die Bar 25 nach langem Hin und Her ausziehen. Dieziger und Klenzendorf zogen auf die andere Seite der Spree, genau gegenüber, in eine Fabrikruine und machten darin für zweieinhalb Jahre den Club mit Restaurant namens KaterHolzig auf. Aber eigentlich wollten sie ihr altes Grundstück zurück. Vielleicht könnten sie es ja kaufen? Vielleicht würde die Stadt es ihnen günstig überlassen? Sie wussten ja, wie wichtig sie mit ihren Clubs für die Außenwirkung des Wowereit-Berlins waren. Sie begannen mit einem Konzept. In dem Konzept ging es plötzlich auch um die Frage, wie man mit dieser Clubkultur alt werden kann. Christoph Klenzendorf ist gerade mit seiner Freundin und seiner 15-jährigen Tochter aus Mallorca wiedergekommen. Die Freundin nennt sich Steffi-Lotta, sie war die Concierge der Bar 25, eine Frau mit Fantasiezirkus-Klamotten und rauer Stimme. Optisch war sie das Gegenmodell zu dem Türsteher des Technoclubs Berghain, Sven Marquardt, einer über und über tätowierten Gestalt, aber leicht rein kam man bei Steffi-Lotta auch nicht. Klenzendorf ist jetzt 40. Er macht das nun seit 20 Jahren: feiern, mehrere Nächte hintereinander wach bleiben, Drogen. Drogen waren ein fester Bestandteil des Lebenskonzepts, für das die Bar 25 stand. Ecstasy vor allem, LSD, auch Kokain. Anders hätte dieses tagelange Durchmachen ja gar nicht funktioniert. Nirgendwo gab es an einem Sonntagabend verstrahltere Gestalten zu besichtigen als in der Bar 25. Klenzendorf hat das Gefühl, dass diese Ära vielleicht zu Ende geht, dass eine neue DER SPIEGEL 36 /

126 Kultur Generation kommt, die anders ist. Neulich haben sie noch einmal den zehnjährigen Geburtstag der Bar 25 und gleichzeitig die Eröffnung des neuen Clubs am Holzmarkt gefeiert, wieder tagelang. Klenzendorf war danach noch lange angeschlagen, aber auch selig. Da war es wieder, das Familien - gefühl. Sie sind viele, nur deswegen können sie diese Herkules-Aufgabe schaffen, glaubt Klenzendorf, circa zehn GmbHs haben sie noch unter der Genossenschaft angesiedelt, geleitet von Freunden und Weggefährten. In Polen, kurz hinter der Grenze, in einem Dorf namens Garbicz, haben sie im August für ein paar Tage noch einmal eine Art Bar 25 in einem Wald an einem See aufgebaut, ein Musik- und Performancefestival für 3000 Menschen. Am Ende ist dieses Feiern der Ursprung von allem. Daran müssen wir uns immer erinnern, auch wenn wir jetzt etwas anderes machen. Dieses andere spielt im Bezirksamt. In einem Büro im achten Stock wollen sie nun dem Baustadtrat Hans Panhoff er - klären, dass es ihnen zu anstrengend und ineffizient ist, immer von Behörde zu Behörde zu laufen: Bauaufsicht, Stadtplanung, Umweltamt, Tiefbau, Denkmalschutz Einzeltermine mit jedem, und die einen wissen oft nicht, was die anderen machen. Die Holzmarkt-Leute haben die Behördenprozesse analysiert und würden sie gern optimieren. Dieziger und Klenzendorf reden gleich auf den Stadtrat ein. Der hebt die Hände. Er sagt, er habe gestern zum ersten Mal wieder zu Hause geschlafen, bis zum Vortag stand er unter Polizeischutz und wurde versteckt, weil er für eine von Flüchtlingen besetzte Schule in Kreuzberg die Polizei gerufen hatte, als die Lage zu eskalieren drohte. Jetzt wird er von Linken bedroht. Die Besprechung mit diesen Hippies gehört also eher zum angenehmen Teil seiner Arbeit, ihm gefällt ihr Mut, immer wieder Es ist der Techno Spirit der frühen Neunziger, der hier am Holzmarkt erwachsen wird und plötzlich Kitas braucht. nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstehen. Es gibt vieles, was nicht zu verstehen ist Verschachtelungen, Verordnungen, Abkürzungen hat Panhoff in Kreuzberg selbst ein Haus besetzt, heute ist er Bezirksstadtrat für die Grünen. Er hat den Holzmarkt-Leuten das Du angeboten. Irgendwie sieht er in diesen jungen Männern, die in seinem Büro stehen, auch eine Waffe gegen das, was er die Investorenpolitik der Stadt nennt, den Ausverkauf der besten Grundstücke an Projektentwickler, die dann Glasbüros bauen und Penthäuser mit Wasserblick. Das Grundstück am Holzmarkt gehörte der Stadtreinigung. Der Liegenschaftsfonds war verpflichtet, es meistbietend zu verkaufen. Niemand hatte geglaubt, dass ein paar Clubbetreiber, die in ihrem Leben viele Drogen genommen hatten, eine Chance haben würden in einem Bieterverfahren gegen Projektentwickler und Großinvestoren. Aber eine Schweizer Pensionskasse, die Stiftung Abendrot, die aus der Antiatomkraftbewegung hervorgegangen war, erklärte sich bereit, das Grundstück zu kaufen und der Holzmarkt-Genossenschaft für 75 Jahre als Erbpacht zur Verfügung zu stellen. Klenzendorf, Dieziger und Husten begannen, potenzielle Mitbieter zu suchen, sie zu analysieren. Wer wäre bereit, wie viel zu bieten? Sie selbst sprachen nie über die wahre Höhe ihres Gebots. Sie hatten inzwischen auch Andreas Steinhauser in ihrer Genossenschaft, der Chaos Computer Club kam und ihnen verbot, irgendwem die wahre Summe zu nennen, geschweige denn zu mailen. Möglicherweise haben die Holzmarkt-Genossen kurz vor Bieterschluss bewusst eine zu niedrige Summe lanciert, auf jeden Fall haben sie in letzter Minute ihr Angebot noch einmal erhöht und alle überboten. Jetzt müssen sie schnell bauen. An die Schweizer Pensionskasse zahlen sie Erbbauzins, mehr als Euro im Jahr, sie brauchen also Einnahmen. Deswegen haben sie auf dem östlichen Teil des Grundstücks die sogenannte Pampa eröffnet, ein Gelände zum Rumhängen, Trinken, es gibt Essensbuden und ein temporäres Theater. Sie haben schnell ein Gebäude hochgezogen, es mit Holz verkleidet, darin ihren neuen Club eröffnet und ihn Kater Blau genannt. Und in einem ausgebauten S-Bahn-Bogen, mit einer Holzterrasse zur Spree, haben sie ihr Restaurant aufgemacht, das jetzt schon, wie das Restaurant im KaterHolzig, jeden Abend ausgebucht ist, Hauptgerichte kosten bis zu 30 Euro, und es gibt teuren Wein. Vor dem Restaurant ankert ein alter Schleppkahn, dessen Deck auch noch Terrasse ist. Von hier aus blickt man in der Abendsonne die Spree hinab bis zum Rathaus, dem Fernsehturm, dem Alten Stadthaus. Hier empfangen Klenzendorf, Dieziger und Husten all jene, die sie sprechen wollen in diesen Tagen, und das sind viele: Russische Investoren, die auf der anderen Uferseite schräg gegenüber auf einem Grundstück bauen wollen, fragen sie um Rat; die Besitzer einer alten Eisfabrik wollen gern zusammenarbeiten. Spezialisten tragen moderne Energiekonzepte vor und hoffen auf den Auftrag, genauso potenzielle Bauträger. Es ist ein merkwürdiges Bild, wie diese Männern in karierten Buttondown-Hemden und Pferdelederschuhen die anderen Männer in ihren kurzen Hosen und Zottelbärten umgarnen. Dem Vortrag eines Experten für Holzbauweise hatten Klenzendorf und Husten begeistert zugehört, doch als Klenzendorf den Mann in einer Mercedes S-Klasse davonfahren sah, war er weniger überzeugt. Um sie herum, auf beiden Seiten der Spree, befindet sich das Eldorado des neuen Berlin, jenes Berlin, das ein bisschen sein will wie New York oder London. Auf dem Gelände ihres ehemaligen KaterHolzig-Clubs entstehen Luxuslofts, Baulärm weht jeden Tag hinüber. Dann gibt es ein Grundstück, das dem gescheiterten Karstadt-Investor Nicolas Berggruen gehört und auf dem sich im Moment noch ein Technoclub für Touristen befindet. Im Südosten der Rohbau des Hochhauses Living Levels, in dem einige von Berlins teuersten Wohnungen entstehen. An diesem Abend ist ein Reporter des Wall Street Journal zu Besuch. Er hat gehört, dass die Holzmarkt-Leute jetzt womöglich auch noch der untergehenden amerikanischen Metropole Detroit aus der Misere helfen wollen. Mario Husten ist vor einiger Zeit mit einer Delegation von Berliner Clubbesitzern dorthin gereist, sie haben Vorträge gehalten und sich Gebäude angeguckt, in denen man vielleicht etwas machen könnte. Dimitri Hegemann, der 1991 mit dem Tresor einen der Pionierorte der Berliner Clubkultur geschaffen hat und an diesem Abend auch auf dem Kahn am Holzmarkt sitzt, zeigt ein Foto vom total heruntergewirtschafteten Wurlitzer Building in Detroit. Das wär s, sagt Hegemann, da könnte man etwas Schönes machen. Der Reporter aus Amerika guckt erschrocken. Doch, sagt Hegemann, that s how we like it in Berlin! Der Reporter sieht sich auf dem Kahn um. Hegemann muss es wissen. Er hat schon Anfang der Neunziger die Detroiter DJs nach Berlin in seinen Club ge - holt und hier zu Stars gemacht. Aber warum, fragt der Amerikaner noch einmal, sollte Berlin sich um Detroit scheren? Natürlich weil die altgewordenen Berliner in Detroit, in dieser verlassenen Stadt mit ihren leer stehenden Ruinen, das Berlin der frühen Neunzigerjahre wieder - erkennen; jenes Berlin, in dem man ein Gebäude im Ostteil entdeckte, sich irgendwo den Schlüssel besorgte, am nächsten Tag eine Anlage reinstellte und einen Club aufmachte. Dieses Berlin gibt es schon lange nicht mehr, aber den Geist davon will Klenzendorf in einer aktualisierten Ver - sion am Holzmarkt konservieren. Es ist auch der Techno Spirit der frühen Neunziger, der hier am Holzmarkt erwachsen wird und plötzlich Kitas braucht: das Gemeinschaftsgefühl von damals, das Hippieske und die Furchtlosigkeit, irgend - etwas zu machen, was dann irgendwie funktionieren wird. 126 DER SPIEGEL 36 / 2014

127 Investoren Klenzendorf, Husten, Dieziger: Sesshaftigkeit ist verpönt, Eigentum soll es nicht geben FOTO: STEFFEN JÄNICKE / DER SPIEGEL Dieses Irgendetwas kostet jetzt allerdings mindestens 100 Millionen, wenn sie all ihre Pläne hier verwirklichen wollen. Sicher, sie haben mit der Bar 25 über die Jahre durchaus Geld verdient, allerdings mit ihren tagelangen Partys auch immer wieder verschleudert. Im Moment zahlen Dieziger und Klenzendorf sich nicht einmal Gehälter, es wird eng. In ihrer Genossenschaft haben sie inzwischen mehr als 120 Mitglieder. Jedes Mitglied musste einen Anteil von Euro erwerben, manche haben auch mehrere gekauft. Das ergibt einen einstelligen Millionenbetrag. Den Rest müssen sie sich leihen. Husten sagt, sie hätten keine Probleme, Banken zu finden, die ihnen Geld geben wollen. Das Eckwerk aber muss jetzt gebaut werden, ein Ensemble aus fünf Hochhäusern mit bis zu zwölf Geschossen, möglichst aus Holz Holzhochhäuser, wer hat so etwas schon einmal gesehen?, durch das der Uferwanderweg hindurchführen soll. Auf dem Dach werden sie Fische züchten, mit deren Kot, vereinfacht gesagt, wiederum Gemüse gedüngt wird. In den Plänen sehen die Gebäude gut aus. Aber es gibt bisher noch keine Baugenehmigung. Also muss Mario Husten wieder zum Amt. Klenzendorf und Dieziger haben keine Lust. Husten nimmt den Anwalt mit und den Architekten Jan Kleihues vom Büro Kleihues + Kleihues und Wolfram Putz vom Büro Graft. Kleihues hat die BND-Zentrale in Berlin entworfen, Putz baut sonst für Brad Pitt. Jetzt sitzen sie mit ihren Plänen in einer Amtsstube in Kreuzberg vor drei Damen von der Bauaufsicht und Stadtplanung. Die Damen berlinern und tragen Frisuren in bunten Farben. Die Pläne der Architekten seien schön. Aber sie wichen zu sehr von dem Bebauungsplan ab. Die Damen reden von Bauordnungsrecht und vom Planungsrecht, von Brandschutz, Feuerwehraufzügen und Sicherheitstreppenhäusern. Husten redet von der Fischzucht auf dem Dach und davon, dass es keine individuellen Kühlschränke geben wird, auch Waschmaschinen wären verboten, stattdessen werde es eine Wäscherei geben, und niemand solle länger als 900 Tage im Eckwerk wohnen. Sesshaftigkeit sei verpönt, Eigentum solle es auch nicht geben. Äh, ja, sagen die Damen von der Bauaufsicht. Nicht, dass sie das nicht alles sehr interessant fänden. Aber möglicherweise müsste hier ein neuer Bebauungsplan erstellt werden. Mario Husten blickt zu Baustadtrat Panhoff, der die Sitzung leitet. Wirklich? Ein neuer Bebauungsplan kann Jahre dauern. Jahre hat Husten nicht, bis dahin wären sie pleite. Panhoff zögert. Er könnte Abweichungen vom Bebauungsplan zulassen. Aber so schafft er Präzedenzfälle, und plötzlich wollen dann alle Antragsteller, was er seinen Freunden vom Holzmarkt zugesteht. Panhoff schlägt einen Kompromiss vor: einen Änderungsbeschluss des Bebauungsplans. Er verspricht, das Verfahren zu beschleunigen, damit schnell durch alle Gremien zu kommen, sodass der neue Beschluss im Oktober vielleicht schon vorliegen kann. Es ist ein Teilsieg für Husten. Am Abend soll noch ein weiterer kleiner Sieg vorbereitet werden. Die Holzmarkt-Leute treffen sich mit Jony Eisenberg in einem Restaurant. Eisenberg ist der gefürchtete Rechtsanwalt der linken Berliner Szene, er vertrat ehemalige RAF- Terroristen genauso wie Jürgen Trittin. Sie wollen mit ihm ein Problem besprechen. Von der anderen Uferseite, von dem Touristenclub, schallt wieder der Bumbum- Techno herüber, eine blöde Situation, sie haben sich ja selbst jahrelang um Lärmschutz nicht besonders gekümmert. Aber sie haben hier Größeres vor und haben jetzt Sorge, dass die Lärmbelästigung auf sie zurückfallen könnte, wo sie doch gerade versuchen, alles richtig zu machen. Sie fragen den Anwalt Eisenberg, ob er nicht etwas gegen diesen Technolärm tun könne. DER SPIEGEL 36 /

128 Kultur Humor, um zu überleben Kino Der kanadische Regisseur David Cronenberg hat immer abseits der großen Filmindustrie gearbeitet, nun macht er sich in seinem neuen Werk über Hollywoods Hysterie lustig. Der Filmemacher David Cronenberg, 71, erscheint in gelöster Stimmung zum Interview in Cannes über seinen neuen Film Maps to the Stars. Früher sei er immer angespannt gewesen, bevor ein Film gestartet sei, heutzutage aber bewerteten die Kritiker ein Kinowerk im Internet sofort nach den Pressevorführungen. Er wisse also schon, mit welchen Reaktionen er zu rechnen habe: mit überwiegend positiven. Maps to the Stars startet am 11. September in Deutschland. Regisseur Cronenberg bei der Premiere von Maps to the Stars *: Ultimative Unabhängigkeit SPIEGEL: Herr Cronenberg, Sie haben sich erfolgreich von den großen Hollywood- Studios ferngehalten, haben als unabhängiger Regisseur gearbeitet. Nun ist ausgerechnet Hollywood das Thema Ihres neuen Films: In der Satire Maps to the Stars zeigen Sie die Deformation durch den Ruhm. Hatten Sie eine Rechnung offen? Cronenberg: Nein, ich war nie besessen von Hollywood. Manchmal konnte ich mich über Hollywood amüsieren, aber nichts dort hat mich je besonders berührt oder verletzt. Ich bin in den letzten 40 Jahren immer wieder da gewesen und habe an etlichen Treffen teilgenommen, um die Finanzierung von Filmen zu besprechen. Oft musste ich lachen, weil es unglaublich komisch ist, wenn mächtige Leute in Hollywood unfassbar lächerliche Dinge von sich geben und dann auch noch erwarten, dass man sie ernst nimmt. Selbst Menschen, die intelligent und belesen sind, werden von Hollywood vergiftet, sobald sie in eine höhere Position kommen. Sie glauben dann all diese Studio-Plattitüden, dass das amerikanische Publikum ganz anders sei als das europäische alle Leidenschaft, alles Verständnis für Film und Kunst geht zusammen mit der Moral über Bord. SPIEGEL: Dennoch wollten Sie lange Zeit keinen Film darüber drehen. Warum nicht? Cronenberg: Es gab schon sehr viele Filme über Hollywood. Aber als mir Autor Bruce Wagner vor ungefähr zehn Jahren das Skript zu Maps to the Stars gezeigt hat, war ich begeistert. Es hätte aber genauso gut von der Wall Street oder vom Silicon Valley handeln können, es musste nicht zwingend um Hollywood gehen. SPIEGEL: Wo liegen die Gemeinsamkeiten? Cronenberg: Wenn Leute mit viel Geld und Macht aufeinandertreffen, um gemeinsam etwas zu unternehmen, wird es immer in- * Mit den Schauspielern Mia Wasikowska und Robert Pattinson am 19. Mai in Cannes. FOTO: KERLAKIAN / FACE TO FACE 128 DER SPIEGEL 36 / 2014

129 FOTO: DANIEL MCFADDEN & CAITLIN CRONENBERG / MFA teressant. Es gibt dann die Gierigen, die Verzweifelten, die Ängstlichen. All das würde man auch in einer Geschichte über das Football-System finden. Unser Film ist also nur zum kleinen Teil eine Analyse Hollywoods. Wir zeigen nicht, worum es beim Filmemachen wirklich geht, dazu hätte ich keine Lust gehabt. Mir gefiel der komödiantische Tonfall des Drehbuchs. Man braucht Sinn für Humor, um zu überleben. SPIEGEL: Waren Sie nie versucht, in Hollywood groß herauszukommen? Angeblich waren Sie Anfang der Achtzigerjahre für die Regie des Star Wars -Films Die Rückkehr der Jedi-Ritter im Gespräch. Cronenberg: Ja, aber nur für ungefähr zwei Sekunden: Es gab ein Telefonat mit Produzent George Lucas, das war alles. Ich hätte auch gern Basic Instinct 2 gedreht, und mit Tom Cruise und Denzel Washington wollte ich für das MGM-Studio den Robert-Ludlum-Roman Der Matarese-Bund verfilmen. Ich war also immer wieder versucht, aber es hat sich nie ergeben. Manchmal war es meine Schuld, manchmal nicht: Bevor Der Matarese-Bund realisiert werden konnte, ging MGM pleite. SPIEGEL: Worin hätte der Reiz gelegen, bei einer Hollywood-Produktion mitzumachen? Cronenberg: Ich hätte mehr Geld verdient als mit jedem anderen Film, und ich hätte ein Budget zur Verfügung gehabt, von dem ich als unabhängiger Regisseur nur träumen kann. Der Preis, den man dafür zahlt, ist allerdings die Einschränkung kreativer Freiheit. An einem bestimmten Punkt war ich tatsächlich bereit, diesen Deal zu machen. Es gibt viele Filmemacher, die das getan haben, es geht aber nicht immer gut. Denken Sie an den Schweden Lasse Hallström, der 1985 mit Mein Leben als Hund seinen Durchbruch erlebt hat. Er kam nach Hollywood und arbeitete drei Jahre lang an Peter Pan, bis Steven Spielberg übernahm und Hook daraus machte: drei Jahre vergeudet! Du lässt dich auf Hollywood ein, und am Ende stehst du ohne einen Film da, das ist das Schlimmste. Oder es kommt ein fürchterlicher Film dabei heraus, wie bei Ihrem Landsmann, dem jungen Regisseur, der mit seinem ersten Film Das Leben der Anderen so einen Erfolg gehabt hat SPIEGEL: Sie meinen Florian Henckel von Donnersmarck und seinen zweiten Film, die Hollywood-Produktion The Tourist? Cronenberg: Ja, genau! Eine Katastrophe, ein schrecklicher Film, der seiner Karriere überhaupt nicht förderlich war. Ich hoffe, er wurde zumindest gut dafür bezahlt. SPIEGEL: In Ihren frühen Filmen haben Sie entstellte Körper und Gesichter gezeigt. Und nun Hollywoods Schönheitswahn. Darstellerin Wasikowska: Moral über Bord Cronenberg: In subtiler Form dreht sich Maps to the Stars auch um Körperlichkeit. Eine der Hauptfiguren im Film ist die eines alternden Filmstars, gespielt von Julianne Moore. Denken Sie zum Beispiel an die existenziellen Sorgen um ihre Attraktivität, die sich diese Figur macht. Auch der Kinderstar, ein Junge, ahnt: Wenn er in die Pubertät kommt, verändert sich sein Körper, er ist nicht mehr niedlich, die Stimme spielt ihm Streiche. SPIEGEL: Der Kinderstar, den Sie zeigen, ist eine böse Parodie auf Popidole wie Justin Bieber. Er tyrannisiert seine Eltern. Ist er so despotisch, weil er spürt, dass seine Zeit als Star begrenzt ist? Cronenberg: Ich glaube, das ist das Schicksal vieler Kinderstars. Aber was bekommen die denn durch ihre Eltern auch vermittelt? Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter ist gleichzeitig Ihre Agentin, Ihr Vater ist Ihr Manager, und das meiste Geld, das die Familie erwirtschaftet, stammt von Ihnen, dem Kind. Sie spüren diese Macht, und Sie spüren die Angst Ihrer Eltern, wenn Sie plötzlich nicht mehr funktionieren, Drogen nehmen, Unfug anstellen und dadurch Jobs verlieren. Dieser Druck ist enorm. SPIEGEL: Sie zeigen in Maps to the Stars die Schattenseiten des Ruhms. Warum sind wir immer noch so fasziniert von Hollywood-Stars, obwohl sie schon so oft im Kino entzaubert wurden? Cronenberg: Ein Teil davon ist sicherlich der Glanz der Vergangenheit, der goldenen Ära, die ist noch sehr präsent in den Köpfen der Menschen. Und natürlich, das darf man nicht vergessen, kommen auch immer noch extrem populäre Filme aus Hollywood. Keinem anderen Land ist es gelungen, das Kino derartig zu dominieren. SPIEGEL: Haben Sie keine Lust, mal einen aufwendigen Superheldenfilm zu drehen? Cronenberg: Nein, niemals! Eine Journalistin fragte mich vor einiger Zeit dasselbe. Sie sagte: Jetzt, da Batman bewiesen habe, dass Superheldenfilme die ultimative Kunstform im Kino sind ob ich da nicht versucht sei. Ich wurde wütend: Superheldenfilme sind keine avancierte Kunstform, es sind Kinderfilme, die für pubertierende Jungs gemacht werden! Unabhängig davon, wie fortgeschritten die Technologie ist, bleibt das Diskurs-Level auf der geistigen Höhe eines 15-Jährigen. Es gab dann eine irrsinnige Aufregung darüber, weil es so dargestellt wurde, als hätte ich den Regisseur der letzten Batman -Filme, Christopher Nolan, kritisiert. Aber das war nicht mein Punkt. SPIEGEL: Sie könnten ja einen anspruchsvolleren Superheldenfilm drehen. Cronenberg: Trotzdem würde ich in einen kreativen Käfig gezwängt werden. Wenn man 250 Millionen Dollar für einen Film ausgibt, gibt es eine Menge Leute, die sich Sorgen machen. Als ich 2012 Cosmopolis drehte, war Robert Pattinson, der die Hauptrolle spielte, erstaunt darüber, dass ich alle Entscheidungen am Set allein traf. Ich sagte zu ihm: Rob, es gibt nur uns, wir beide machen diesen Film. Er hatte bis dahin nur Studioproduktionen gekannt, bei denen man mit den Bossen abstimmen muss, ob man die Farbe eines Pullovers ändern darf. Mein Budget für Maps to the Stars betrug 30 Millionen Dollar, wenig im Vergleich zu großen Produktionen. Aber ich hatte totale Freiheit. SPIEGEL: Vor Cosmopolis einer Adaption von Don DeLillos Roman haben Sie lange kein eigenes Drehbuch geschrieben. Stattdessen erscheint nun Ihr erster Roman Verzehrt eine Kriminal- und Liebesgeschichte. Macht es mehr Spaß, Literatur zu schreiben? Cronenberg: Drehbuchschreiben ist kein literarisches Schreiben. Die meisten Autoren sind keine herausragenden Schriftsteller, aber sie können Dialoge. Literarisches Schreiben wäre auch hinderlich beim Verfassen eines Skripts, denn man will ja nicht zu genau das Gesicht einer Figur beschreiben, weil man nicht weiß, wer für die Rolle ausgewählt wird. Einen Roman zu bauen war für mich, wie Regie zu führen: Ich suche die Besetzung aus, bestimme die Kostüme und sogar die Orte. Die ultimative Unabhängigkeit. Ein großes Vergnügen! SPIEGEL: Planen Sie eine Verfilmung? Cronenberg: Ich hatte nicht den Hinter - gedanken, einen Roman zu schreiben, aus dem dann auf jeden Fall ein Film wird. Aber ich habe es fünf Produzenten zum Lesen gegeben, die es nun alle verfilmen wollen. Ich bin nicht sicher, ob ich das wirklich möchte. Mir ging es um das literarische Erlebnis. Interview: Andreas Borcholte Video: David Cronenbergs neuer Film Maps to the Stars" spiegel.de/app472012bbi oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 36 /

130 Der Geschmack von Blut Übersetzungen Philipp Meyers Roman Der erste Sohn spielt in der gewalttätigen Welt des Wilden Westens. In den USA ist er zum Bestseller geworden. Die deutsche Fassung hingegen kam bei den Lesern nicht an. Ein Erklärungsversuch. Von Martin Doerry Der Bauch eines frisch getöteten Bisonkalbs enthält die schönsten Leckereien. Ein kräftiger Schnitt in den Magen des Kalbs fördert zunächst Klumpen von geronnener Milch zutage, die Vorspeise sozusagen. Dann ein erster Hauptgang, die Leber des Jungtiers; sie wird herausgeschnitten und in Stücke aufgeteilt, den Inhalt der Gallenblase drückt man als Soße darüber aus. Und am Ende das Fleisch selbst, ebenfalls roh, ein erwachsener Comanche isst davon etwa fünf Pfund und das in wenigen Minuten. Solche Einblicke in die kulinarische Praxis der Indianer gewährt der amerikanische Romancier Philipp Meyer in seinem jüngsten Bestseller Der erste Sohn, der im Mai auf Deutsch erschienen ist*. Meyer, 40, erzählt darin von den Abenteuern eines jungen Siedlers, der im Jahr 1849 von Comanchen verschleppt wurde und drei Jahre lang unter den Indianern lebte, irgendwo in den Weiten der Prärie im westlichen Texas. Eli, der junge Mann, hatte am Anfang natürlich erhebliche Probleme mit dieser Art der Ernährung: Ich versuchte, die Milch zu schlucken, musste mich aber auf der Stelle übergeben. Mit der blutigen Leber ging es dann schon etwas besser: Ich hatte immer gedacht, Blut schmecke metallisch, doch das tut es nur, wenn man * Philipp Meyer: Der erste Sohn. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans M. Herzog. Knaus-Verlag, München; 608 Seiten; 24,99 Euro. kleine Mengen trank. Tatsächlich schmeckt es nach Moschus und Salz. Meyer beschreibt das Leben Elis und der Indianer mit dem kalten Blick des Ethnologen. Während seine Leser Mitleid mit dem hilflosen Teenager empfinden dürften, berichtet er sachlich-nüchtern vom Alltag der gar nicht so edlen Wilden. Er schildert ihren symbiotischen Umgang mit der sie umgebenden Natur, ihre brutalen Kriegszüge gegen andere Stämme und ihre Überfälle auf weiße Siedler, die ihren Abenteuer - mut in der Regel mit dem Verlust des Skalps büßen müssen. Doch Meyer belässt es nicht beim Indianerroman, sondern erzählt bis fast in die Gegenwart hinein. Eli, 1836, im Gründungsjahr des Staates Texas, geboren und 130 DER SPIEGEL 36 / 2014

131 Kultur FOTO: ELIZABETH LIPPMAN deswegen der erste Sohn, begründet eine ziemlich gewalttätige Familiendynastie, die zuerst mit Viehzucht und später mit ihren Ölfeldern unermesslich reich wird und dann doch zerfällt. Die Kritiker haben das Buch im vergangenen Jahr euphorisch begrüßt und jene Soundbites geliefert, die für eine erfolgreiche Werbung zwingend notwendig sind: Die Washington Post schwärmte von der Great American Novel ; ein meisterhafter Roman, meinte auch der Rezensent der New York Times. Philipp Meyer selbst versicherte glaubhaft, dass er diesmal zu Recherchezwecken sogar Büffelblut getrunken habe ( Es schmeckte grauenhaft ), zudem ließ er sich ein paarmal mit Pfeil und Bogen bewaffnet fotografieren. Lohn der Mühe: gute Plätze in den amerikanischen Bestsellerlisten. Nur beim Rennen um den Pulitzerpreis musste sich Der erste Sohn von Donna Tartts Der Distelfink geschlagen geben. Nun also der Sprung nach Europa. Der Knaus-Verlag, ein Label des Buchkonzerns Random House, hat die Rechte erworben und das Buch von Hans M. Herzog, einem erfahrenen Übersetzer, ins Deutsche übertragen lassen. Und die Kalkulation schien aufzugehen. Fast nur Superlative, kein einziger Verriss: Meyer zähle zu den wichtigsten Chronisten Amerikas, urteilte die Frankfurter Allgemeine, er schildere den Wilden Westen in geradezu fotorealistischer Drastik. Der Roman überzeugt durch die Kraft seiner Narration, durch Antiheroismus und akribische Recherche, lobte die Süddeutsche Zeitung, nur die Welt bemäkelte ein wenig Meyers Faktenhuberei, bescheinigte dem Autor aber sehr wohl, ein lehrreiches und unterhaltsames Buch geschrieben zu haben. Doch diese Rezensionen sind ausnahmslos von Männern verfasst, die bei ihrer Lektüre womöglich nur ihre jugendliche Begeisterung für Karl May nachempfunden und nicht allzu genau hingeschaut haben. Die Leser hingegen sind heute in der Mehrzahl weiblichen Geschlechts. Kurzum: kein Bestseller in Deutschland. Wenn die Verantwortlichen des Knaus- Verlags nach den Ursachen des ausbleibenden Erfolgs forschen wollen, sollten sie sich nicht von den Lobeshymnen der Kritik täuschen lassen. Philipp Meyers Roman ist im Original tatsächlich spannend und gut geschrieben, die deutsche Übersetzung hingegen ist streckenweise dürftig. Zurück zum Bisonkalb. Philipp Meyer schildert auch, was mit den nicht essbaren Überresten eines Tieres, den Knochen und dem Fell, geschieht: Um eine Tierhaut vorzubereiten, spannte man die Haut im Gras auf, mit Pflöcken an den Ecken. Vorzubereiten? Wozu? Was soll das bedeuten? Im Original wird das sofort klar: To prepare a hide Laut Langenscheidts Großem Schulwörterbuch lautet die Übersetzung von to prepare nicht nur vorbereiten, sondern auch präparieren. Und nur das ergibt hier Sinn. Das Fell des Bisons soll präpariert werden, damit es später für einen Mantel oder ein Zelt verwendet werden kann. Nach der Ankunft im Indianerlager wird der entführte Siedler wochenlang als Sklave gequält und gedemütigt. Eines Tages weigert er sich, Wasser zu holen, und wird daraufhin von einer wütenden Indianerin mit einem Tomahawk beworfen. Das Beil trifft ihn nur mit dem hölzernen Griff und nicht mit dem Metallkopf meine größte Glückssträhne seit Monaten, heißt es in der deutschen Ausgabe. Doch es war ein einzelnes Ereignis, keine Kette von ähnlich glücklichen Vorfällen. Das Original lautet denn auch stroke of luck, ein Glücksfall also, keine Glückssträhne. Jahre später ist Eli als Texas Ranger wieder in der Prärie unterwegs. Diesmal schreibt der Übersetzer: Die Badlands hatten sich zu einem einzigen Canyon in einigen Meilen Entfernung verengt. Was aber soll das bedeuten: in einigen Meilen? Das amerikanische Original ist klar: The badlands had narrowed to a single canyon a few miles wide. Mit anderen Worten: Die Badlands hatten sich zu einem wenige Meilen breiten Canyon verengt. Mit Eli zusammen wurde auch ein ursprünglich aus Deutschland stammendes Mädchen entführt, die Indianer nennen es Yellow Hair, weil es so helle Schamhaare hat. Die junge Frau muss Schreckliches ertragen, die Indianer vergewaltigen sie Nacht für Nacht. Schließlich wird sie freigekauft und auf einer Pflanzung östlich der Stadt untergebracht. In Wahrheit wird sie natürlich auf einer Plantage, einer plantation, wie es im Amerikanischen heißt, untergebracht und nicht irgendwo auf einem Mais- oder Baumwollfeld. Auch Eli kommt schließlich frei, gründet eine Familie und genießt die Annehmlichkeiten des Lebens: Ich kam auf den Geschmack, was den Schnaps anging, den ich nie wieder verlor. Wen oder was hat Eli nie verloren? Den Geschmack, den Schnaps? Gemeint ist wohl Folgendes: Er hat angefangen, Schnaps zu trinken, ist auf den Geschmack gekommen und trinkt ihn immer noch gern. Später lebt Eli auf einer großen Ranch; er hasst seine mexikanischen Nachbarn und richtet zusammen mit Gefolgsleuten ein Massaker unter ihnen an. Sein Sohn Peter inspiziert den Tatort, Dutzende Leichen liegen herum. Und Peter ist erschrocken über seine eigene Gefühllosigkeit: Wenn Blut nicht zu deiner Verwandtschaft gehört, könnte es genauso gut Wein oder Wasser sein. Wieso sollte Blut zur Verwandtschaft gehören? Ein ziemlich kryptischer Satz, und doch hört sich das Original täuschend ähnlich an: When blood does not belong to your kin it might as well be wine or water. Wieder wurde allzu wörtlich und damit sinnentstellend übersetzt. Denn Peter erklärt hier nur, dass man allein dann etwas empfindet, wenn das Blut von Verwandten vergossen worden ist. María, die einzige Überlebende des Massakers, kommt Jahre später zurück an den Schauplatz des Verbrechens. Elis Sohn Peter weiß nicht, was er mit ihr machen soll. Vielleicht, so überlegt er, sollte er nur warten, bis einer der Mörder von damals sie draußen ins Gestrüpp zerrte, das letzte ausgefranste Ende abschnitt. Diese Passage ist schon im Original schwer verständlich, hier lautet sie: walk her into the brush, snip the last frayed end. Wahrscheinlich wollte Meyer mit seiner Metapher andeuten, dass DER SPIEGEL 36 /

132 Kultur María als letzte Zeugin des Massakers auch noch umgebracht werden sollte. Aber sicher ist es nicht. Die rein wörtliche Übersetzung klingt jedenfalls absurd. Dieses Problem stellt sich dem Leser immer wieder. Der deutsche Text bleibt mitunter so eng am Original, dass er unverständlich wird oder zumindest grammatisch misslingt. So etwa, wenn Peter über María sagt: Mir wurde klar, dass ich tatsächlich von ihr erwartet hatte zu verschwinden. Im Amerikanischen: I realized I had indeed been expecting her to disappear. Richtig müsste der Satz lauten: Mir wurde klar, dass ich tatsächlich erwartet hatte, sie würde verschwinden. Schließlich kommt Jeannie ins Spiel, Elis Urenkelin, die es an Härte durchaus mit ihrem Vorfahren aufnehmen kann. Jeannie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit Kindern, denen sie ihr Unternehmen nur ungern anvertrauen mag. Nach dem Tod ihres Vaters muss sie zu den Farmarbeitern sprechen und erscheint dort etwas leger in Jeans und Stiefeln, wohl wissend, dass ihre Großmutter damit nicht einverstanden gewesen wäre, aber natürlich war sie auch von ihr gegangen, im Vorjahr schon. Erneut eine zu wörtliche Übertragung:... though of course she was gone as well, dead the previous year, heißt es im Amerikanischen. Sie war also gestorben und nicht nur von ihr gegangen, und nicht etwa auch, sondern ebenfalls, denn ihr Vater war seit Kurzem tot. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, ein Übersetzungsprogramm könnte zumindest die Rohversion des deutschen Textes besorgt haben. Für die Fortführung des Familienunternehmens braucht Jeannie das Testament ihres Vaters. Darauf folgt die Formulierung: Der Familienanwalt zerlegte seine Kanzlei, fand aber nichts. Und im Amerikanischen: Their lawyer tore his office apart but found nothing. Selbstverständlich hat der Anwalt sein Büro nicht etwa kurz und klein geschlagen, sondern einfach nur durchwühlt. Selbst am Schluss des Romans werden dem Leser noch Rätsel aufgegeben. In der Danksagung erwähnt Philipp Meyer all jene, die ihm bei den Recherchen geholfen haben, darunter auch mehrere Vertreter von Traditionsvereinen der Comanchen, und nun wörtlich: was allerdings nicht bedeutet, dass sie dieses Material billigen oder gutheißen. Von welchem Material ist die Rede? Was soll das bedeuten? Im Original lautet die Passage: though this in 132 DER SPIEGEL 36 / 2014 Indianertraditionen Bisonjagd, Skalp, Comanchen-Federschmuck Mit dem kalten Blick des Ethnologen no way implies their endorsement of this material. Wahrscheinlich hat Meyer mit dem Begriff material nur etwas salopp seinen Romanstoff bezeichnet, denn dessen kritischer Tenor dürfte den Comanchen alles andere als gefallen. Vielleicht aber hätte man Philipp Meyer selbst fragen müssen. Das machen Übersetzer heute in solchen Zweifelsfällen, und jeder Autor tut gut daran, auf ihre Fragen zügig zu antworten. In anderen Fällen hätte auch ein aufmerksamer Lektor helfen können. So wird immer wieder der Plural amerikanischer Begriffe ins Deutsche übernommen. Es heißt stets Texas Rangers und nicht Ranger, die Covers von Zeitschriften werden beschrieben und nicht die Cover. Da wird die indirekte Rede mehrmals mit dem falschen Konjunktiv II gebildet, also gäbe statt gebe. Da verlangen Indianer einen Skalp, doch beschied man ihnen, dass sie den nicht mehr bekommen können. Natürlich beschied man eigentlich sie. Und schließlich findet sich auch der wunderbare Satz: Ich hing die Jägerbüchse an einen Nagel. Entweder hing die Büchse am Nagel oder er hat sie hingehängt. In der Umgangssprache mögen solche Fehler weit verbreitet sein; ein literarischer Übersetzer hingegen sollte sie vermeiden. Das gilt allerdings auch für alle übrigen Mitarbeiter des Verlags, die an der Entstehung des Buchs beteiligt waren. Und das sind viele: Lektoren, Verlagsleiter, PR-Leute sie alle lesen den Titel vor der Drucklegung. Im Knaus-Verlag jedenfalls sind die Schwächen der Meyer- Übersetzung und es ließen sich viele weitere Beispiele aufzählen angeblich niemandem aufgefallen. Es hätten sich weder Leser noch Rezensenten beschwert, erklärt die Knaus-Sprecherin Susanne Klein. Der Übersetzer habe zehn Monate Zeit für das Manuskript gehabt, und die redaktionelle Bearbeitung sei von einer erfahrenen freien Lektorin übernommen worden. Das heißt: Ein wesentlicher Teil der Buchproduktion wurde hier ausgelagert, nicht nur die Übersetzung, sondern auch das Lektorat. Der Verlag selbst ist kaum mehr als eine Vertriebsorganisa - tion, eine Auseinandersetzung mit dem Text findet kaum statt. Inzwischen werden viele Neuerscheinungen auf diesem Wege in den Markt gedrückt. Gerade bei Übersetzungen verzichten nicht wenige Verlage auf eine sorgfältige Qualitätskontrolle. Und welcher Leser vergleicht schon Original und Fälschung? Etwa zwölf Prozent aller Bücher, die in Deutschland erscheinen, sind zuvor aus einer anderen Sprache übertragen worden. Eklatant ist das Verhältnis aber bei den sogenannten Schnelldrehern, also jenen Titeln, die für hohe Auflagen und entsprechende Renditen sorgen sollen: Etwa die Hälfte der Belletristiktitel auf den SPIEGEL- Bestsellerlisten der vergangenen Jahre sind Übersetzungen. Das heißt, die Verlage müssen schon vor der Veröffentlichung zumeist hohe Lizenzgebühren zahlen. Die Ladenpreise und Auflagen der Bestseller hingegen sind seit Jahren stabil oder gar rückläufig. Entsprechend hart wird kalkuliert und bei der Herstellung gespart. Zumal sich jeder Titel in einer Flut von neuen Büchern behaupten muss. Die Zahl der Neuerscheinungen ist inzwischen auf ein Niveau geklettert, das einer sorgfältigen Produktion nicht eben förderlich sein kann. Im Jahr 2004 erschienen bereits etwa neue Bücher in Deutschland, im Jahr 2013 waren es sogar schon knapp Titel. Weniger wäre mit Sicherheit mehr. FOTOS: GETTY IMAGES (O.); BRIDGEMANART.COM (2, U.)

133 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere Informationen und Auswahl kriterien finden Sie online unter: Belletristik 1 (1) Dave Eggers Der Circle Kiepenheuer & Witsch; 22,99 Euro 2 (2) Jan Weiler Das Pubertier Kindler; 12 Euro 3 (3) Kerstin Gier Silber Das zweite Buch der Träume Fischer JB; 19,99 Euro 4 (4) Diana Gabaldon Ein Schatten von Verrat und Liebe Blanvalet; 24,99 Euro 5 (5) Donna Tartt Der Distelfink 6 (6) John Williams Stoner Goldmann; 24,99 Euro dtv; 19,90 Euro 7 (7) Kerstin Gier Silber Das erste Buch der Träume Fischer JB; 18,99 Euro 8 (13) Robert Seethaler Ein ganzes Leben 9 (14) Judith Hermann Aller Liebe Anfang S. Fischer; 19,99 Euro Generationenporträt der Menschen in Berlin, die allein schon von der alltäglichen Langeweile überfordert sind Hanser Berlin; 17,90 Euro 10 (10) Frank Schätzing Breaking News Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro 11 (9) Marc Elsberg ZERO Sie wissen, was du tust Blanvalet; 19,99 Euro 12 (11) Isabel Allende Amandas Suche Suhrkamp; 24,95 Euro 13 (8) Jonas Jonasson Die Analphabetin, die rechnen konnte Carl s Books; 19,99 Euro 14 (12) Hanns-Josef Ortheil Die Berlinreise Luchterhand; 16,99 Euro 15 (15) Sarah Lark Der Klang des Muschelhorns Bastei Lübbe; 18 Euro 16 (16) Donna Leon Das goldene Ei 17 (18) Timur Vermes Er ist wieder da Diogenes; 22,90 Euro Eichborn; 19,33 Euro 18 ( ) Graeme Simsion Das Rosie-Projekt Fischer Krüger; 18,99 Euro 19 (19) Veronica Roth Die Bestimmung Letzte Entscheidung cbt; 17,99 Euro 20 (17) Anna Gavalda Nur wer fällt, lernt fliegen Hanser; 18,90 Euro Sachbuch 1 (1) Wilhelm Schmid Gelassenheit Was wir gewinnen, wenn wir älter werden Insel; 8 Euro 2 (5) George Packer Die Abwicklung S. Fischer; 24,99 Euro 3 (2) Ferdinand von Schirach Die Würde ist antastbar Piper; 16,99 Euro 4 (4) Matthias Weik / Marc Friedrich Der Crash ist die Lösung Eichborn; 19,99 Euro 5 (3) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis Diese schrecklich schönen Jahre Gräfe und Unzer; 17,99 Euro 6 (7) Peter Hahne Rettet das Zigeuner-Schnitzel! Quadriga; 10 Euro 7 (9) The Bodleian Library (Hg.) Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944 Kiepenheuer & Witsch; 8 Euro 8 (6) Volker Weidermann Ostende 1936, Sommer der Freundschaft Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro 9 (8) Roger Willemsen Das Hohe Haus 10 (10) Christopher Clark Die Schlafwandler S. Fischer; 19,99 Euro DVA; 39,99 Euro 11 (11) Frank Schirrmacher Ego Das Spiel des Lebens Blessing; 19,99 Euro 12 (19) Andreas Englisch Franziskus Zeichen der Hoffnung C. Bertelsmann; 19,99 Euro 13 (12) Dieter Hildebrandt Letzte Zugabe Blessing; 19,99 Euro 14 (17) Hamed Abdel-Samad Der islamische Faschismus Droemer; 18 Euro 15 (13) Guido Maria Kretschmer Anziehungskraft Edel Books; 17,95 Euro 16 (20) Jim Holt Gibt es alles oder nichts? Rowohlt; 24,95 Euro 17 (16) Peter Sloterdijk Die schrecklichen Kinder der Neuzeit Suhrkamp; 26,95 Euro 18 (14) Christian Wulff Ganz oben Ganz unten C.H. Beck; 19,95 Euro 19 (15) Florian Illies 1913 Der Sommer des Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro 20 ( ) Katja Kessler Silicon Wahnsinn Marion von Schröder; 14,99 Euro Amüsante Tagebuch - gedanken der ehemaligen Klatschreporterin, die mit ihrer Familie für ein Jahr nach Kalifornien zog DER SPIEGEL 36 /

134 Kultur Der proletarische Zauberberg Literatur Der Dichter Lutz Seiler beschreibt in seinem ersten Roman, wie Bewohner der Insel Hiddensee beinahe das Ende der DDR verschlafen. Eine große tragikomische Geschichte. Von Elke Schmitter Dies, Leser, ist kein appetitliches Buch. Es handelt von der Auflösung von Speiseresten im Spül - wasser und von Leichen im Meer, von der Auflösung von Materie, von innerer Zeit und äußeren Grenzen und schließlich von der Auflösung eines Staates in einem langsamen Zerfallsprozess, der dem Aufweichen und Zerfasern eben der Speisereste im Spülwasser gleicht, wie es der Held des Romans, ein nicht ganz schlichter junger Mann namens Ed, an seinem Arbeitsplatz als Abwäscher in einem Ausflugslokal auf Hiddensee erlebt: Anfangs ekelt er sich vor dieser Arbeit, doch irgendwann löst sich der Ekel auf, es bleiben ein waches Bewusstsein für Details und der helle Gleichmut einer fraglosen Unermüdlichkeit. Dies ist kein appetitliches Buch, und es spielt nicht unter noblen, kosmopolitischen Moribunden; sein gastronomisches Angebot ist schmal, seine Kulissen sind armselig, sein Personal ist proletarischen Temperaments und doch ist Kruso * das erste würdige Gegenstück der deutschen Literatur zu Thomas Manns Zauberberg, dem Lebensroman des jungen Hans Castorp am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in dem die alte Welt in einer Orgie aus Dummheit, aus Hass und Gewalt zugrunde geht, während seine Figuren, fernab vom historischen Geschehen, mit Husten, Liebeleien und philosophischem Gezänk beschäftigt sind. Nur dass hier, in Lutz Seilers Kruso, die Deutsche Demokratische Republik und mit ihr die Welt des Kalten Krieges lautlos in sich zusammenfällt sie schmilzt, sie gammelt, sie bröckelt dahin wie die Materie in diesem Roman, aber beinahe unmerklich oder jedenfalls unbemerkt, im Rücken der Protagonisten dieser großen Erzählung über das Ende der letzten Welt. Kruso ist Lutz Seilers erster Roman. Der 51-Jährige war bislang Lyriker und Erzähler der kürzeren Form. Mit den Romanen (ein zweiter ist schon entworfen) hat es so lange gedauert, weil das Scheitern in diesem Genre, wenn es denn vor Drucklegung eingesehen wird, auch viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als bei den kürzeren Formen der Literatur. An einem Vorläufer zu Kruso ist Seiler, wie er erzählt, quälend langsam gescheitert. Sicher nicht an jedem einzelnen Satz, wie man anneh- Autor Seiler, Gasthof Zum Klausner auf Hiddensee: Das Ende der letzten Welt * Lutz Seiler: Kruso. Suhrkamp Verlag, Berlin; 488 Seiten; 22,95 Euro. 134 DER SPIEGEL 36 / 2014

135 FOTOS: JORDIS ANTONIA SCHLÖSSER / OSTKREUZ / DER SPIEGEL men will, weil bei Seiler der einzelne Satz immer Markanz hat ohne Kraftmeierei, immer direkt gebunden ist an eine genaue Beobachtung erlebter Realität und mit großer Zuverlässigkeit melodisch und rhythmisch stimmig ist. Aber doch an der Konstruktion, die bei einem Roman eben halten muss wie die Treppen und Wände in einem Haus, die man vergisst, wenn man darin wohnt. Eine Falltür, ein unzugängliches Speichereck darf es schon geben und so etwas gibt es auch in Seilers Romandebüt. Man muss nicht jeden Winkel ausleuchten können, aber man darf sich die Stirn eben nicht stoßen an der Architektur. Hier geht sie auf, die tragikomische Konstruktion. Sie umfasst Sommer und Herbst des Jahres 1989, und sie spielt, nach ihrem Auftakt im Berliner Ostbahnhof, an einem Ort am äußersten Rand der DDR: auf dieser winzigen Insel, Versteck im See, geheime See, Hiddensee..., einem sagenumwobenen Eiland, bevölkert von trutzigen Immer-schon-hier-Gewesenen Der Naturalist Gerhart Hauptmann hatte behauptet, auf der Insel hießen alle Menschen Schluck und Jau, eigentlich gäbe es nur diese beiden Familien, von Gestrandeten, Aussteigern, Künstlern und von Grenzschützern selbstverständlich, von Polizei und Staatssicherheit. Denn von hier aus, vom Strand am offenen Meer, wo man an etwa 30 Tagen im Jahr die dänische Insel Møn am Horizont ausmachen kann, finden auch immer wieder Fluchtversuche statt. Hier gilt es, mit Nachtsichtgerät, mit Suchscheinwerfern und Maschinenpistolen die realsozialistische Grenze vor ihrer Perforation durch potenzielle Ausbrecher zu schützen. Aus diesem Grund war Hiddensee ein exklusiver Urlaubsort: für ordentliche Ferien nur gesinnungstreuen Bürgern zugänglich, für alle anderen ein ersehntes Tagesziel. Damals wie heute entstiegen Gruppen meeresfroher Ausflügler am Hafen Kloster einem weißlackierten Doppeldecker mit Gedeckverköstigung, flanierten durch den idyllischen Ort und nahmen den Anstieg zur Steilküste auf einem gut zwei Kilometer langen Plattenweg, um dort oben, auf der Terrasse des Gasthofs Zum Klausner, Fisch zu essen oder einen Eisbecher zu verzehren, umtost von Meeresrauschen und dem Wind im landschaftstypischen Mischwald. Und noch heute lässt sich gut nachfühlen, welch berauschendes Gefühl von Freiheit und Unbelangbarkeit hier entstanden sein muss, in diesem Haus mit holzverklei - detem Giebel und Anbauten: Auf den ersten Blick erinnerte es an einen Mississippidampfer, einen gestrandeten Schaufelraddampfer, der versucht hatte, durch den Wald das offene Meer zu erreichen. Ringsum ankerten einige kleinere Blockhütten, die das Mutterschiff wie Rettungsboote umgaben. Der Gasthof Zum Klausner, den es also wirklich gibt, wird in Kruso zum lite - rarischen Ort, hier strandet und landet schließlich der Held dieses Romans, der Germanistikstudent Edgar Bendler aus Halle. Seine Freundin ist fort, sein Kater verschwunden, sein Leben am toten Punkt. Als Unter-unter-unter-Mieter einer Wohnung zum Hof, ein Kummer aus Moder und Kohle, als letzter Name auf der Tür unter Stengel, Kolpacki, Augenlos und Rust machte er vorläufig Schluss mit seiner Existenz, verbrannte seine Gedichtmanuskripte. Er schraubte die Sicherungen heraus und stellte sie sorgsam auf den Zähler, schob den Schlüssel unter die Matte und ging. Wissen war nicht sein Problem. Und Prüfungen ebenfalls nicht. Das Leben ist das Problem. Der begabte Student Edgar Bendler weiß nicht, wohin mit sich in der verwalteten Welt; er ist nicht dafür, er ist nicht dagegen, es ist schlimmer als das: Er gehört nicht dazu. Also macht er sich auf in die Fremde, wie alle Taugenichtse vor ihm, die sich nicht vollends niederschlagen ließen von der Depression der Adoleszenz: Er geht auf Pilgerfahrt, zu jenem legendären Ort, an dem andere Gesetze gelten, so hat er es gehört, an dem die Märchen und Mythen des Festlands haften, weil dieser Ort so unbegreiflich weit fort ist von jeder banalen Realität wie vor gut einem Jahrhundert der Zauberberg für alle Flachlandbewohner, wie man in den Schweizer Bergen die Kolonnen der Normalität charakterisierte. Zwei erfolglose Tage bringt Bendler hinter sich mit der Suche nach Arbeit als saisonale Aushilfskraft, zwei Nächte dämmert er unter freiem Himmel dahin, bis er im Küstengebüsch eine Treppe findet, die ihn zum Ort seiner Zuflucht bringt. Am Ende zählte Ed fast dreihundert Stufen (jede dritte verfault oder zerbrochen), verteilt über verschiedene Abschnitte und Absätze bis auf das fünfzig oder sechzig Meter hohe Kliff. Der Direktor dieses Instituts zur Versorgung von Tagestouristen empfängt ihn freundlich, stellt sibyllinische Fragen und lässt ihn wissen, dass er sich zu bewähren hat in dieser verschworenen Gemeinschaft, gesund und befreit von der Vergangenheit. Die Bewährung besteht in Zwiebelschälen und Schweigen, bis Crusoe zurückkehrt, der dann die Entscheidung fällt, ob die Aushilfskraft Edgar Bendler in die Truppe aufgenommen wird. Kruso, den der gebildete Direktor Crusoe nennt, ist die Macht hier oben auf dem Kliff; ein Charismatiker, ein Dichter und Sonderling, aber auch ein gewiefter Verschwörer, der die Aussteiger, die Illegalen und die Suchenden auf dieser Insel um sich zu sammeln und zu schützen weiß. Vor Krusos Augen muss Ed bestehen, dessen Vertrauen muss er gewinnen. Wie das geschieht, wie die Verbindung der beiden Jungmänner sich knüpft bis zur Blutsbrüderschaft, ist das eine große Thema dieses deutschen Bildungsromans. Nähe zwischen diesen Männern stiftet die Literatur mit ihren wilden, gequälten Seelen Rimbaud, Artaud und Trakl, Nähe stiften Verlorenheit und der Verlust einer großen Liebe. Nähe stiftet die Situation, das Leben hart an der Grenze zum Meer, das Freiheit und Todesgefahr bedeutet, und an der Grenze zu vielem, was in diesem Staat verboten oder gefährlich war. Nähe stiftet aber auch ein Ethos, das alle im Klausner Der begabte Student Edgar ist nicht dafür, nicht dagegen, es ist schlimmer als das: Er gehört nicht dazu. teilen und das Stolz auf die Arbeit der Hände einschließt, aufs Durchhalten, auf die Erschöpfung nach vollbrachtem Dienst und auf die Entgrenzung im Feiern danach ein proletarisches Ethos. Und eben darin findet Ed wieder zu sich zurück. Die niederste Arbeit, die er im Klausner verrichtet und der Seiler wenig appetitliche, jedoch großartige Beschreibungspassagen widmet, das Abspülen des Geschirrs, hilft ihm heraus aus seiner Depression: durch die sinnliche Überwältigung von Hitze und üblen Gerüchen, von schmerzenden Füßen und ertaubenden Händen, durch Konzentration auf das Unmittelbare und durch das gewissermaßen sachliche Vergehen der Zeit. Und erst als er wieder bei sich ist, als das Dumpf-Depressive der Müdseligkeit weicht, kann er das soziale Glück spüren, Teil dieser Truppe zu sein, diesen Funkenflug einer unfassbaren Brüderlichkeit. Und er kann, inmitten dieser familiären Horde, wieder zu einer Persönlichkeit werden, die handelt und liebt, die schwärmt und reflektiert, die ihrer Witterung vertraut und kämpft. Kruso ist ein Buch über Ost und West, der Westen ist hier kein Ort der Verheißung, sondern eher eine Gefahr des Flachdenkens und der Vereinnahmung durch den Konsum. Der Tippelschritt der Bedürfnisse, vom Schokoriegel zum Eigenheim, kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks, wie es bei Nietzsche heißt, ein Leben in diesem Rhythmus ist nicht das Ziel der hier miteinander Verschworenen. Der Westen hat hier überhaupt nur einen, aber besonderen Platz: Er thront unerreichbar auf einem Bord in der Küche und spricht ohne Unterlass; es ist ein altes Radio, Viola genannt, auf die DER SPIEGEL 36 /

136 Kultur Frequenz des Deutschlandfunks eingestellt und längst schon ohne funktionierende Tastatur. Und lange schon vor dem Ende allen Geschehens verstummt diese letzte Verbindung nach draußen, ist das Radio zerschlagen von einem im Zorn geworfenen Glas. Nun gibt es keine Nachrichten mehr von anschwellenden Demonstrationen, von Picknicks an offenen Grenzen, vom Ende der alten Welt, nun gibt es nur noch den Osten im letzten Kampf der Selbstverteidigung. Dieser Osten, wie Seiler ihn auferstehen lässt, ist nicht ohne Brutalität. Ein Jahr vor Eds Ankunft auf Hiddensee haben Wildschweine den Garten des Klausner ver - wüstet und sich an den Pilzen und heiligen Kräutern gütlich getan, die zu orgiastischen Zwecken dort angebaut waren. Danach, so berichtet Kruso, fühlten die Schweine sich vollkommen frei, frei von allem. Sie sind etliche Runden geschwommen, rund um die Insel, und haben Gefechtsalarm ausgelöst. Die vermeintlichen Flüchtlinge wurden exekutiert, ihr Blut färbte den Sand. Koch-Mike hat natürlich versucht, ein bisschen frisches Fleisch für den Klausner abzustauben, aber da führte kein Weg rein; Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt: Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen sie existieren einfach nicht. Die DDR ist brutal, vor allem aber banal: Gedanken grau wie Uniformen. Sie ist ein Gefängnis der Planerfüllung, der Abstumpfung und Trostlosigkeit. Der wahre Osten, der Rettung verheißt, wie der russischstämmige Kruso sie für alle Menschen ersehnt, Ein fesselnder Roman über eine Truppe sinnsuchender Männer in einem Augenblick historischer Turbulenz. ist ein metaphysisches Gelände, in dem die verlorene Seite des Daseins, der Sinn des Lebens gehütet wird. Um diesen Osten kämpfen die Letzten der Truppe auf diesem Zauberberg, während in ihrem Rücken tobt, was Geschichte heißt. Im Epilog zu Seilers tragikomischem Roman über den Zerfall der alten Welt forscht der Erzähler dem Schicksal seiner Figuren nach. Was ist aus Kruso geworden, der, hochfiebernd und schwer krank, in einer mythisch-expressionistischen Szene von einem russischen Schiff geborgen und fortgebracht wird? Was geschah mit Flüchtlingen wie dem Abwäscher, dessen Zimmer mit den grauen Laken Ed übernommen hat? Wer registrierte die Leichen, die an der dänischen Küste geborgen wurden? Diese Menschen, sagt Seiler im Rückblick auf seine Recherche, gingen im Grunde dreimal verloren: einmal vor ihrer Flucht, wenn sie alle Spuren verwischten, um niemanden zu belasten. Einmal auf ihrer Flucht, im Meer. Und schließlich als Tote, die ohne Namen bestattet werden mussten. In vielen Details gibt Seilers Roman ein realistisches Bild der DDR in den letzten Jahren, aber darin erschöpft sich sein Anspruch nicht. Kruso ist auch ein gut durchkomponierter, fesselnder Roman über eine verschworene Truppe sinnsuchender Männer und (sehr weniger) Frauen in einem Augenblick historischer Turbulenz. Vor allem aber ist Kruso eine gleichnishafte Erzählung über die Gegenwärtigkeit des Erlebens, über Lebenszeit und Weltzeit, wie der Philosoph Hans Blumenberg die Spannung zwischen dem historischen Geschehen und der persönlichen Erfahrung nennt. Und wie jede große Dichtung gibt der Roman mehr Rätsel auf, als er löst nur dass es nicht nur quälende, sondern auch beglückende Rätsel sind.

137 Dumas-Werke Evil is Banal (1984), Phil Spector (2011), Waterproof Mascara (2008), Models (Detail, 1994): Seltene Intensität FOTOS: MARLENE DUMAS COURTESY STEDELIJK MUSEUM AMSTERDAM, THE NETHERLANDS So brutal, fies, schön! Ausstellungskritik Eine Schau in Amsterdam würdigt die furchterregenden Menschenbilder der Künstlerin Marlene Dumas. Da hängen sie jetzt alle, die Porträts von Lebenden und Leichen. Die Dargestellten haben eine erschreckende Präsenz. Als könnten sie auch wieder auferstehen aus ihrem Schattenreich der Ölfarben. Da wäre Jesus am Kreuz, da wäre die Hollywood-Ikone Marilyn Monroe während der Autopsie, der Terrorist Osama Bin Laden, der so milde blicken kann, die Popsängerin Amy Winehouse, deren bläuliches Gesicht wie schon erkaltet wirkt. Phil Spector mit und ohne Perücke. Vor ein paar Jahren wurde er, der legendäre Musikproduzent, zu einer langen Haftstrafe verurteilt, weil er eine Nachtklubschönheit umgebracht hatte. Es ist viel Sterben und Morden vorhanden im Werk von Marlene Dumas, einer der besten Malerinnen der Welt. Selbst Kleinkinder können wie tot wirken oder haben die Ausstrahlung von Schwerverbrechern. Die Ausstellung, die ihr das Stedelijk Museum in Amsterdam von dieser Woche an widmet, macht aber deutlich, dass ihre Kunst auch von der Schönheit, von der fast schon brutalen Kraft der Malerei zeugt. Dumas ist 61 Jahre alt, sie lebt seit vielen Jahren in den Niederlanden. Ihr Heimatland ist Südafrika. Sie wuchs zwischen Weinbergen nahe Kapstadt auf, sprach lange nur Afrikaans. Ihre Familie empfand sich als europäisch, obwohl schon der Vater und der Großvater in Afrika zur Welt gekommen waren die Townships brannten, junge Schwarze wurden verhaftet, gefoltert zog die junge Künstlerin nach Europa. Sie sei damals, so sagt sie es heute, nicht in der Lage gewesen, in ihrer Kunst auf das politische System der Apartheid einzugehen. Sie war auf der Suche nach einem Stil, beschäftigte sich mit formalen Fragen. Doch sie fand auch ihr Thema: die Rätsel des Menschseins, die Frage, was Menschen mit anderen Menschen machen. Dumas zeigte im Laufe ihrer bisherigen Karriere Tragisches, Undurchdringliches, Pornografisches, Politisches. Im vergangenen Jahr malte sie nach einer alten Magazinabbildung die Witwe von Patrice Lumumba, dem ersten Ministerpräsidenten der Republik Kongo, der 1961 gefoltert und ermordet worden war. Unklar ist bis heute, welche Rolle die ehemalige Kolo - nialmacht Belgien dabei gespielt hat. Lumumbas Witwe Pauline lebte weiter und litt, auf dem Bild ist sie zwischen mehreren Männern zu sehen. Ihr Oberkörper ist nackt, als Zeichen der Trauer. Alle Menschenbilder, die Dumas malt, sind von einer seltenen Intensität, die kaum ein anderer zeitgenössischer Künstler erzeugt, obwohl die Farbe dünn ist und den Eindruck hinterlässt, sie sei mit einer gewissen Flüchtigkeit aufgetragen worden. Oft zeigt die Künstlerin Gesichter wie in Nahaufnahme. Doch sind all diese Personen überhaupt noch menschliche Wesen? Konturen können sich auflösen. Stirn, Augen, Wangen verschwimmen und geraten in einen Zustand des Entstelltseins, des Thrillerund Maskenhaften. In Amsterdam ist eine Versammlung von Geistern zu sehen, und vielleicht aber das ist der einzige Kritikpunkt hätten ein paar Gespenster weniger auch gereicht. Die Malerin hat immer ihre Erfolge gehabt. Sie wurde gleich zweimal zur Documenta in Kassel eingeladen, zurzeit beteiligt sie sich an der Kunstschau Manifesta, die deshalb besondere Beachtung findet und umstritten ist, weil ein westlicher Kurator sie in Putins reaktionärem Russland stattfinden lässt. Dumas schickte kleine Provokationen nach Sankt Petersburg, lässige Porträts schwuler russischer Persönlichkeiten, ein Bildnis des Komponisten Peter Tschaikowski zum Beispiel. Man nimmt diese Künstlerin ernst, man bewundert sie, aber sie hat selten die Anerkennung erhalten, die ihr zusteht. Die große Retrospektive in Amsterdam holt das jetzt nach, und diese Schau wird später noch in die Tate Modern nach London weiterziehen, dann in die Fondation Beyeler nach Basel. Oft malt Dumas nach bereits existierenden Abbildungen, fotografischen Vorlagen, Zeitungsfotos, Filmstills. Sie nimmt die innige, fast archaische Beziehung der Menschen zu Bildern aller Art ernst. Der Mensch malt, lange bevor er schreibt, das betont sie. Ihre Allegorie eines Malers sieht so aus: ein kleines blondes Mädchen mit grimmigem, fast fiesem Blick und blutverschmierten Händen. Als Modell diente damals ihre Tochter. Wenige Tage vor der Eröffnung der Ausstellung erscheint die Künstlerin selbst im Museum. Sie wirkt ausgesprochen fröhlich. Im vergangenen Jahr behauptete der deutsche Künstler Georg Baselitz in einem Gespräch mit dem SPIEGEL, Frauen könnten nicht malen. Dumas hat sich damals, wie viele, geärgert. Fast zur selben Zeit wie sie wird nun auch Baselitz mit einer großen Ausstellung gewürdigt, und zwar im Haus der Kunst in München. Dumas wurde von den Münchnern gefragt, ob sie nicht öffentlich über die Malerei von Baselitz sprechen wolle. Hätte sie gemacht, sie hat Humor, aber ihr fehlt die Zeit. Sie ist gefragter denn je und wird es auch bleiben. Ulrike Knöfel DER SPIEGEL 36 /

138 Impressum Ericusspitze 1, Hamburg, Telefon Fax (Verlag), (Redaktion) HERAUSGEBER Rudolf Augstein ( ) CHEFREDAKTEUR Wolfgang Büchner (V. i. S. d. P.) STELLV. CHEFREDAKTEURE Klaus Brinkbäumer, Clemens Höges MITGLIED DER CHEFREDAKTION Nikolaus Blome (Leiter des Hauptstadtbüros) ART DIRECTION Uwe C. Beyer GESCHÄFTSFÜHRENDER REDAKTEUR Rüdiger Ditz Politischer Autor: Dirk Kurbjuweit DEUTSCHE POLITIK HAUPTSTADTBÜRO Stellvertretende Leitung: Christiane Hoffmann, René Pfister. Redaktion Politik: Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Horand Knaup, Ann-Katrin Müller, Peter Müller, Ralf Neukirch, Gordon Repinski Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus Dettmer, Cornelia Schmergal, Gerald Traufetter. Reporter: Alexander Neu - bacher, Christian Reiermann Meinung: Dr. Gerhard Spörl DEUTSCHLAND Leitung: Alfred Weinzierl, Cordula Meyer (stellv.), Dr. Markus Verbeet (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldungen). Redaktion: Michael Fröhlingsdorf, Hubert Gude, Carsten Holm, Charlotte Klein, Petra Kleinau, Guido Kleinhubbert, Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Andreas Ulrich, Wolf Wiedmann- Schmidt, Antje Windmann. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Dr. Thomas Darnstädt, Gisela Friedrichsen, Beate Lakotta, Bruno Schrep, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Redaktion: Sven Becker, Markus Deggerich, Maximilian Popp, Sven Röbel, Jörg Schindler, Michael Sontheimer, Andreas Wassermann, Peter Wensierski. Autoren: Stefan Berg, Jan Fleischhauer, Konstantin von Hammerstein WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Michael Sauga (Berlin), Susanne Amann (stellv.), Marcel Rosenbach (stellv., Medien und Internet). Redaktion: Markus Brauck, Isabell Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann-Kathrin Nezik, Jörg Schmitt. Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar Hawranek, Michaela Schießl AUSLAND Leitung: Britta Sandberg, Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Manfred Ertel, Jan Puhl, Sandra Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Ralf Hoppe, Susanne Koelbl, Dr. Christian Neef, Christoph Reuter WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Dworschak, Katrin Elger, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech KULTUR Leitung: Lothar Gorris, Susanne Beyer (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Philipp Oehmke, Tobias Rapp, Katharina Stegelmann, Claudia Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Romain Leick, Elke Schmitter, Dr. Susanne Weingarten KULTURSPIEGEL: Marianne Wellershoff (verantwortlich). Tobias Becker, Anke Dürr, Maren Keller, Daniel Sander GESELLSCHAFT Leitung: Ullrich Fichtner, Matthias Geyer, Barbara Supp (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Özlem Gezer, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ansbert Kneip, Katrin Kuntz, Dialika Neufeld, Bettina Stiekel, Jonathan Stock, Takis Würger. Reporter: Uwe Buse, Jochen-Martin Gutsch, Guido Mingels, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk SPORT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger. Redaktion: Rafael Buschmann, Lukas Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, Annette Großbongardt (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria Schnurr MULTIMEDIA Jens Radü; Alexander Epp, Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Riedmann CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Anke Jensen (stellv.), Katharina Lüken (stellv.) SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels PRODUKTION Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon, Petra Gronau, Martina Treumann BILDREDAKTION Michaela Herold (Ltg.), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Parvin Nazemi, Peer Peters, Karin Weinberg, Anke Wellnitz SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt (stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia Pfauter, Julia Saur, André Stephan, Michael Walter LAYOUT Wolfgang Busching, Jens Kuppi, Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Sonderhefte: Rainer Sennewald TITELBILD Suze Barrett, Arne Vogt; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg Besondere Aufgaben: Stefan Kiefer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND BERLIN Pariser Platz 4a, Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Tel , Fax ; Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft Tel , Fax DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Dresden, Tel , Fax DÜSSELDORF Frank Dohmen, Barbara Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße 8, Düsseldorf, Tel , Fax FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Martin Hesse, Simone Salden, Anne Seith, An der Welle 5, Frankfurt am Main, Tel , Fax KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, Karlsruhe, Tel , Fax MÜNCHEN Dinah Deckstein, Anna Kistner, Conny Neumann, Rosental 10, München, Tel , Fax STUTTGART Jan Friedmann, Büchsenstraße 8/10, Stuttgart, Tel , Fax REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Cambridge, Massachusetts, Tel BRÜSSEL Christoph Pauly, Christoph Schult, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel , Fax KAPSTADT Bartholomäus Grill, P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Tel LONDON Christoph Scheuermann, 26 Hanbury Street, London E1 6QR, Tel , Fax MADRID Apartado Postal Número , Madrid, Tel MOSKAU Matthias Schepp, Glasowskij Pereulok Haus 7, Office 6, Moskau, Tel , Fax NEW YORK Alexander Osang, 10 E 40th Street, Suite 3400, New York, NY 10016, Tel , Fax PARIS 12, Rue de Castiglione, Paris, Tel , Fax PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, Peking , Tel , Fax RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca, Rio de Janeiro-RJ, Tel , Fax ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, Rom, Tel , Fax SAN FRANCISCO Thomas Schulz, P.O. Box , San Francisco, CA 94133, Tel TEL AVIV Julia Amalia Heyer, P.O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 61083, Tel , Fax TOKIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya Minami B, Suginami-ku, Tokio , Tel WARSCHAU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL Warschau, Tel , Fax WASHINGTON Markus Feldenkirchen, Marc Hujer, Holger Stark, 1202 National Press Building, Washington, D.C , Tel , Fax DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Axel Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Susmita Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann- Wiesner, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt-Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer Staudhammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller LESER-SERVICE Catherine Stockinger NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Anzeigen: Norbert Facklam Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2014 Mediaunterlagen und Tarife: Tel , Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass Druck: Prinovis, Ahrensburg / Prinovis, Dresden VERLAGSLEITUNG Matthias Schmolz, Rolf-Dieter Schulz GESCHÄFTSFÜHRUNG Ove Saffe Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter Service Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, Hamburg Fax: Hinweise für Informanten Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informationen zukommen lassen wollen, finden Sie unter der Webadresse Hinweise, wie Sie die Redaktion erreichen und sich schützen. 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Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn Telefon: Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e.v. Telefon: Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde Telefon: Abonnementspreise Inland: 52 Ausgaben 218,40 Studenten Inland: 52 Ausgaben 153,40 inkl. sechsmal UNISPIEGEL Auslandspreise unter Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben 202,80 (der Anteil für das E-Paper beträgt 171,60) Befristete Abonnements werden anteilig berechnet. Kundenservice Persönlich erreichbar Mo. Fr Uhr, Sa Uhr SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Hamburg Telefon: Fax: Abonnementsbestellung bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an: SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Hamburg oder per Fax: , Ich bestelle den SPIEGEL für 4,20 pro gedruckte Ausgabe für 3,90 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper beträgt 3,30) für 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper beträgt 0,48) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Eilboten - zustellung auf Anfrage. 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139 FOTOS: CENTRAL PRESS / GETTY IMAGES (O.L.); BERLINER VERLAG / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.L.); JUSTIN LANE / DPA (M.); PHOTOSHOT (U.R.) RICHARD ATTENBOROUGH, 90 Kaum jemand im Filmgeschäft genoss so viel Respekt wie er, als Schauspieler, Regisseur und Produzent. Das Kino war für ihn ein Ort, an dem man die Welt verbessern konnte. Diese Überzeugung vertrat der in Cambridge geborene Attenborough mit so viel Understatement, guter Laune und jungenhaftem Charme, dass er nie pathetisch wirkte. Seine Filme erzählten oft von Freiheitskämpfen und beschrieben sie als harte, meist ziemlich langwierige Arbeit. Der britische Offizier, den er 1963 in dem Kriegsgefangenendrama Gesprengte Ketten spielte, und der Titelheld in Attenboroughs Oscar-gekrönter Regiearbeit Gandhi (1982) brauchten vor allem eines: Ausdauer. Wie die großen Männer, über die er Filme drehte, strahlte er eine unangestrengte Souveränität aus. Der Drehbuchautor William Goldman beschrieb voller Hochachtung, wie Attenborough für den Kriegsfilm Die Brücke von Arnheim (1977) eine der bis dahin teuersten und aufwendigsten Szenen der Kinogeschichte drehte, ohne die Ruhe oder gar die Contenance zu verlieren. Er war schon lange ein Sir, bevor ihm dieser Titel 1976 verliehen wurde. Im Laufe seines Lebens engagierte er sich für zahlreiche karitative Organisationen. Richard Attenborough starb am 24. August in London. lob BENNO PLUDRA, 88 Seine kleinen Helden gehörten zur Kindheit in der DDR wie der Sandmann oder der Ostseeurlaub. Vor allem ein kleiner Hund, der auf einer Eisscholle trieb, berührte die Kinderseelen: Bootsmann auf der Scholle war eines der belieb - testen Kinderbücher der DDR. Pludras Weg war der eines mustergültigen Sozialisten. Nach dem Krieg wurde das Arbeiterkind Lehrer, Pludra studierte an der Arbeiter-und-Bauernfakultät. Seit 1951 schrieb er vor allem Kinderbücher und lieferte den Beweis, dass ein bekennender Sozialist durchaus die Individualität des Menschen und nicht nur den Klassenstandpunkt im Blick haben kann. Sein Thema waren die zeitlosen Schwierigkeiten der Kleinen in der Welt der Großen. Dafür wurde Pludra nicht nur in der DDR, sondern auch im vereinten Deutschland geehrt. Er wird auch zukünftig seinen Platz in den Bücherregalen finden und in den Herzen der Kinder. Benno Pludra starb in der Nacht zum 27. August in Potsdam. stb PHILIPPINE DE ROTHSCHILD, 80 Es gibt Familiennamen, die ihrem Träger eine solche biografische Bürde auferlegen, dass er ihr ein ganzes Leben lang nicht entkommt. Philippine hat den Ausbruch in jungen Jahren versucht, sie wollte keine Rothschild wie die anderen sein. Mit 25 begann sie unter dem Künstlernamen Philippine Pascal eine Theaterkarriere an der Comédie-Française, die sie drei Jahrzehnte mit großem Erfolg weiterverfolgte. Nie konnte die lebenslustige Schauspielerin vergessen, dass sie als Kind dem Tod knapp entronnen war. Ihre Mutter Elisabeth war 1944 nach Ravensbrück deportiert worden und kam nicht zurück. Die zehnjährige Philippine blieb verschont, weil ein deutscher Offizier Erbarmen zeigte. Als der Vater 1988 starb, holte die Familienpflicht sie aus der Welt des Theaters zurück in die ehrwürdige Tradition des Hauses Rothschild. Madame la Baronne, wie sie fortan nur genannt wurde, übernahm die Leitung des berühmten Weinguts und Handelsunternehmens Château Mouton Rothschild mit seinem Bordeaux-Spitzengewächs. Mit Energie und Charisma schlüpfte sie in die Rolle der großen Dame der mehr als hundertjährigen Weindynastie. Philippine de Rothschild starb am 23. August in Paris. lck WOLFGANG BAYER, 71 Bei seinen Kollegen im Ber - liner SPIEGEL-Büro genoss er einen legendären Ruf: Wie kein Zweiter beherrschte Wolfgang Bayer die journa - listische Kunst, stets die rich - tigen Informanten zu kennen und ihnen Geschichten zu entlocken, die Zeitgeschichte schrieben. So enthüllte Bayer, Nachrufe der 1966 zum SPIEGEL stieß, die Stasi-Affäre des Westber - liner Innensenators Heinrich Lummer und spürte Originalfragmente des verschollenen Bernsteinzimmers auf. Um seine zahlreichen Scoops machte Bayer, ganz Zeitungsmann alter Schule, nie viel Aufhebens. Er habe halt Reporterglück gehabt, sagte er mit sonorer Stimme. Bayer dachte nach, bevor er schrieb und brauchte mitunter nicht mehr als die Rückseite einer Visitenkarte, um die Dramaturgie einer Titelgeschichte zu skizzieren, die er dann druckreif formuliert in die Maschine diktierte. Nach 40 SPIEGEL-Jahren ging Bayer 2006 in den Ruhestand und widmete sich seiner Passion, dem Segeln. Wolfgang Bayer starb am 26. August in Berlin. srö AHMED SAIF AL-ISLAM, 63 Er war einer der hartnäckigsten und furchtlosesten Streiter für Menschenrechte in Ägypten. Seit Anfang der Achtzigerjahre protestierte er gegen die Menschenrechtsverlet - zungen unter Präsident Husni Mubarak, schon 1983 kam er deshalb für fünf Jahre ins Gefängnis, wo man ihn folterte. Das hielt ihn nicht davon ab, noch in der Haft sein Jura - studium abzuschließen, um sich nach seiner Freilassung als Rechtsanwalt weiter gegen Folter und Diskriminierung einzusetzen. Gegen Mubarak begehrte er bis zu dessen Sturz 2011 auf. Sein Sohn Alaa Abd al-fattah, ein bekannter Blogger, wurde wegen seiner Teilnahme an Protesten gegen die Militär - regierung zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Ahmed Saif al-islam starb am 27. August in Kairo nach einer Herz - opera tion. lot DER SPIEGEL 36 /

140 Personalien Ramses im Glück Oben ohne Er war Kapitän der schwedischen Fußballnationalmannschaft, Starspieler des FC Arsenal in London und warb in Unterwäsche für den Modehersteller Calvin Klein. Fredrik Ljungberg, 37, galt in jüngeren Jahren als Stilikone, auch wegen seiner zahlreichen Tätowierungen und, heute schwer vorstellbar, wegen seiner Frisur. Während seine Kollegen mit immer neuen Autos angaben, machte Ljungberg mit seinem Kopf auf sich aufmerksam: Ich begann, meine Haare zu färben erst lila, dann blau, dann dunkelrot. Die Experimente gefielen einem Kosmetikkonzern: Der Schwede wurde als Werbebotschafter für Haarpflegemittel verpflichtet. Doch dann verlor seine Mannschaft ein wichtiges Spiel, und Ljungberg rasierte sich aus Frust den Schädel kahl, wie er jetzt in einem Interview erzählte. Keine gute Idee. Der Kosmetikkonzern löste den Werbevertrag umgehend auf. Und deshalb, so Ljungberg, trage ich immer noch Glatze. red Seit Kindertagen wird der ehemalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, 60 (CSU), von Freunden manchmal Ramses genannt, wie der Pharao im Alten Ägypten. Auch beruflich sucht er die Nähe zu arabischen Despoten. Als Minister warb Ramsauer in Syrien kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs für die deutsche Industrie. Dem Emirat Katar und Saudi-Arabien stattete er ebenfalls Besuche ab. Seit Ramsauer nur noch Abgeordneter im Bundestag ist, nutzt er seine außenpolitische Expertise für lukrative Nebentätigkeiten. Er ist neuer Präsident der Deutsch-Arabischen Handelskammer Ghorfa und damit Nachfolger des Sportfunktionärs Thomas Bach. Nach Angaben des Bundestags bekommt Ramsauer für den Handelskammer- Job bis zu Euro pro Jahr. Er selbst will sich zur genauen Summe nicht äußern. Ramsauer legt aber Wert auf die Fest - stellung, dass die Abgeordnetentätigkeit eindeutig im Mittelpunkt der gesamten beruflichen Tätigkeit stehe. sve Einer sieht alles Vor vier Jahren machte seine Reise in den Sudan weltweit Schlagzeilen: Hollywoodstar George Clooney, 53, wollte mit seiner Prominenz auf den Bürgerkrieg in Afrika aufmerksam machen. Später half Clooney dabei, das Satellitenprogramm SSP zu finanzieren, das Krisengebiete in aller Welt überwachen soll. Jetzt zieht der Oscar-Preisträger eine Bilanz seines Engagements. Wie kann es sein, dass jeder mein Haus auf Google Earth findet und man mich immerzu fotografieren kann, aber Kriegsverbrecher meist im Verborgenen bleiben?, fragte Clooney bei einem Gespräch mit dem Hollywoodbranchenblatt Variety. Wir wollen ein bisschen für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. SSP-Bilder wurden mittlerweile als Beweismittel vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verwendet, und einige Paramilitärs haben ihre Aktionen in die Nacht verlegt, um der Satellitenüberwachung zu entkommen. Das Morden in der Region gehe jedoch weiter, sagte Clooney, weil die Täter kaum politischen Druck spürten. Aufgeben wolle er trotzdem nicht. Es ist einfach ein Wahnsinnsspaß, wenn sich Kriegsverbrecher aufregen, dass man mit unfairen Mitteln arbeiten würde, sagt Clooney, das ist der Traum eines jeden Schauspielers. mwo FOTOS: FARAG / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (O.); MICHI ISHIJIMA / IMAGO (M.L.); UPI PHOTO / EYEVINE (M.R.); LAN HONGGUANG / AP / DPA (U.L.); AGF / REX / ACTION PRESS (U.R.) Xi Jinping, 61, chinesischer Staatspräsident, hat bei seinem Kampf gegen korrupte Parteigenossen einen Scheinsieg errungen. Üppige Bankette und luxuriöse Dienstreisen sind seit Xis Amtsantritt für Staatsdiener tabu. Die staatliche Fluggesellschaft China Southern hat jetzt auf den Trend zur Bescheidenheit reagiert und auf Inlandsflügen ihre erste Klasse abgeschafft. Tatsächlich wurde die First Class nur umbenannt in Business Class. Am Service und an den Preisen werde sich nichts ändern, so die Airline. Aber kein Genosse muss sich jetzt mehr vorwerfen lassen, er fliege First. red Franziskus, 77, Papst, bricht erneut mit einer Tradition. Vier Jahrhunderte lang suchten die Päpste in den heißen italienischen Sommern Kühle und ungestörte Ruhe in ihrem Rückzugsort Castel Gandolfo, 25 Kilo - meter von Rom entfernt in den Albaner Bergen. Der neue Hausherr hat nun die Gartenanlagen des 55 Hektar großen Refugiums für Besucher geöffnet gegen eine satte Gebühr. Gruppen bis zu 15 Personen zahlen 450 Euro. Den Touristen solle die Möglichkeit gegeben werden, die Pracht und die Herrlichkeit der Natur zu genießen. kro 140 DER SPIEGEL 36 / 2014

141 FOTOS: FREDERIC J. BROWN / AFP (O.); MUELLER-STAUFFENBERG / EVENTPRESS / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.L.); REUTERS (U.R.) Dienstlich intim Die meisten Schauspieler sprechen nicht gern über Sexszenen, es ist ihnen zu peinlich. Wenn doch, betonen sie gern, wie professionell es bei den Dreharbeiten zugehe: keine Gefühle, alles Technik. Die Amerikanerin Lizzy Caplan, 32, kann daher als Ausnahme gelten: In einem Interview redete sie jetzt recht offen über das heikle Thema. Caplan verkörpert in der großartigen Fernsehserie Masters of Sex (dienstags, ZDF neo und auf Sky) die Forscherin Virginia Johnson, eine historische Person: Johnson und der Frauenarzt William Masters be gannen in den Fünfzigerjahren, das Sexualleben der Amerikaner zu ergründen. Weil es anfangs nicht genug Testpersonen gab, schliefen auch Masters und Johnson miteinander, rein dienstlich natürlich; Messgeräte dokumentierten ihre körper lichen Reaktionen. Solche intimen und unfreiwillig komischen Momente für Masters of Sex nachzustellen falle ihr mittlerweile leicht, sagt Caplan. Das sei aber nicht immer so gewesen: Als sie sich vor einigen Jahren für eine Rolle in der Serie True Blood vor der Kamera ausziehen musste, habe sie sich furchbar geschämt. Um ihre Hemmungen zu überwinden, half sie mit Wodka nach. Alles Technik. mwo Jörg Kachelmann, 56, Wetterexperte, hat einen juristischen Teilsieg gegen die Bild-Zeitung errungen. In dem Streit ging es um eine private Mail, mit der sich Kachelmann von einer Freundin getrennt und aus der Bild zitiert hatte. Das Zitat sei unzulässig, entschied 2011 das Oberlandesgericht Köln. Jetzt nahm das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde des Springer-Verlags gegen die Kölner Entscheidung nicht an, wie Kachelmanns Anwalt Ruben Engel (Kanzlei Höcker) bestätigt. Kachelmann selbst fordert von Springer wegen mehrerer Berichte 2,25 Millionen Euro Entschädigung. bra Wladimir Putin, 61, russischer Präsident, könnte etwas für seine Sympathiewerte tun: Auch er wurde jetzt als Kandidat für die Ice Bucket Challenge nominiert. Seit Wochen läuft weltweit eine Kampagne, bei der sich Prominente mit Eimern voller Eiswürfel überschütten lassen und damit um Spenden für die Erforschung der Nervenkrankheit ALS werben. Putin war vergan - gene Woche von US-Regisseur David Lynch für die kalte Dusche vorgeschlagen worden. Eine Nominierung soll innerhalb von 24 Stunden angenommen werden. Der Präsident ließ die Frist verstreichen. red DER SPIEGEL 36 /

142 Hohlspiegel Rückspiegel Zitate Die Stuttgarter Zeitung zum SPIEGEL-Bericht Schein und Sein über die desaströse Ausstattung der Bundeswehr (Nr. 35/2014): Großplakat des Landesbunds für Vogelschutz in der Nürnberger Innenstadt Aus der Nordwestschweiz: Immer mehr Personen erreichten ein hohes Alter, was mit einem erheblichen Sterberisiko einhergehe. Kleinanzeige im Lippstädter Patriot Aus der Nürtinger Zeitung: Wie es zu dem Unfall am Freitag kommen konnte, ist noch unklar, die Polizei geht von einem Unfall aus. Schild in einem Edeka-Markt in Elmshorn Aus der Dillenburger Dill-Zeitung:,Vor so einer tollen Kulisse als Kapitän die eigene Mannschaft in einem Spitzenspiel in Führung zu bringen ist schon ein tolles Gefühl, bekamen die Ohren von Bellinghausen einige Minuten nach dem Match Besuch von den Mund winkeln. Aus der Neuen Westfälischen Aus der Würzburger Wochenzeitung Prima Sonntag Jens Flosdorff, der Sprecher von Vertei - digungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), kommuniziert an diesem Montag auf verlorenem Posten. Weder bestätigen noch dementieren will er den Bericht des Magazins DER SPIEGEL, wonach die große Überzahl von verschiedenen Hubschraubertypen und Flugzeugen der Luftwaffe nicht einsatzfähig seien. Damit ist klar, dass mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in dem erschreckenden Befund steckt, wonach nur 8 Kampfjets vom Typ Eurofighter, ein Dutzend Transporthubschrauber und 21 Transall-Transportflugzeuge aus dem Bestand der Bundeswehr derzeit voll einsatzbereit sind. Da hilft es von der Leyens Pressemann auch nicht weiter, dass er aus Sicherheitsgründen nichts über einzelne Waffensysteme sagen will und betont, dass die Ausrüstung der Bundeswehr für den Normalfall ausreichend sei. Hätte er die Sache dementieren können, hätte er dementiert. Die Hamburger Morgenpost über das SPIEGEL-Gespräch Ich bin der Drachentöter mit Tennis-Idol Boris Becker (Nr. 35/2014): Ganz schön scharfe Fragen, ein ratloser und ein angefressener Boris Becker. Er lässt die Provokationen im SPIEGEL-In - terview oft im Raum stehen. Sind Sie pleite? Wovon leben Sie?, so eine Frage. Becker weicht aus: Macht euch keine Sorgen um mich. Mit seinen drei Autohäusern laufe es ja nicht gut Becker kann den Anwurf nicht entkräften und verweist schwammig auf aktuelle Zahlen: Wenn ich Ihnen die heute nenne, würden Sie überrascht sein. Als ihm die Kritik an seiner Autobiografie vor die Nase gehalten wird, reagiert Boris kleinlaut: Das Buch war ein Fehler. Mein Leben als Geschäftsmann, der glücklich verheiratet ist, findet die Öffentlichkeit offensichtlich nicht spannend. Die tageszeitung zum SPIEGEL-Bericht Vergessenes Geheimnis über den Bundesnachrichtendienst (Nr. 35/2014): Der Bundesnachrichtendienst (BND) überwacht nach SPIEGEL-Informationen neben der Türkei seit Jahren noch einen zweiten Nato-Partner: Albanien. Der Balkanstaat sei im Auftragsprofil der Bundesregierung ebenfalls als sogenanntes Kernland aufgeführt. Das bedeute, dass der deutsche Geheimdienst das Land operativ auf - kläre. 142 DER SPIEGEL 36 / 2014