Welche bedeutung hat ein seiltänzer

Im Kreml zu Moskau, wo sich in dieser Woche die Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union zum XXI. Parteitag versammeln, wird ein Ereignis von beträchtlicher Bedeutung erwartet: Auf dem Parteikongreß wird sich erweisen,

- ob Nikita Chruschtschew bereits Chancen hat, Alleinherrscher zu werden, oder

- ob die politischen Entscheidungen in der Sowjet-Union weiterhin, wie der Amerika-Besucher Mikojan jüngst formulierte, »nicht von einer Person, sondern von einer Gruppe von Personen und vor allem vom Zentralkomitee unserer Partei getroffen« werden.

Die sowjetischen Parteiorganisatoren bemühten sich in den vergangenen Monaten emsig; dem XXI. Kongreß ein geschichtliches Gepräge zu geben. Sie haben ihrer Zusammenkunft nicht nur den offiziellen Namen »Parteitag der Erbauer des Kommunismus« verliehen, sondern nannten auch die erste sowjetische Mondrakete »XXI. Parteitag«. Die Zusammenkunft in Moskau, so mutmaßte die »Neue Zürcher Zeitung«, soll offenbar »den Anbruch einer neuen Epoche in der Sowjetgeschichte verkünden«.

In der Tat könnte der Moskauer Parteikongreß eine Ära der sowjetischen Innenpolitik besiegeln: die Ära der nachstalinschen Kollektivregierung. Ob diese Ära am Ende ist, wird sich allerdings erst aus dem Schicksal des Zentralkomitees der KPdSU ablesen lassen, jenes neben dem Parteitag wichtigsten Gremiums der sowjetischen Führung, das im nachstalinschen Rußland eine bedeutende Rolle gespielt hat. Nikita Chruschtschew verdankt nicht zuletzt dem Zentralkomitee seine gegenwärtige Stellung in Partei und Staat.

In der Macht des Zentralkomitees manifestierte sich die neue sowjetische Regierungsform nach dem Tode des Diktators Stalin. Der Gewaltherrscher hatte das Land mit einer kleinen Gruppe Vertrauter regiert, die alle wichtigen Posten im Ministerrat und im Politbüro, dem Vorgänger des heutigen Parteipräsidiums, besetzt hielten. In diesem System aber

war kein Platz für das eigentliche Parlament der Partei, die 133 stimmberechtigten und die 122 stimmlosen Vertreter des Zentralkomitees. So wenig es den Diktator danach gelüstete, alle vier Jahre - wie in den Statuten vorgeschrieben - den Parteikongreß einzuberufen, so gering war sein Verlangen nach den Parteidemokraten des ZK.

Erst nach dem Tode Josef Stalins wuchs das Zentralkomitee in die Rolle hinein, die man ihm schon früher - allerdings nur theoretisch - zugestanden hatte: Forum der politischen Willensbildung in der UdSSR zu sein. Das ZK konnte nun endlich seinen Einfluß auf die Partei- und Staatsführung geltend machen, die Tätigkeit der bisher sakrosankten Minister kritisieren und Mißstände in Partei, Staat und Armee aufgreifen.

Am deutlichsten wurde die »Vorrangstellung des Zentralkomitees« (Neue Zürcher Zeitung) in den dramatischen Junitagen von 1957, als eine Gruppe im 17köpfigen Parteipräsidium versuchte, Chruschtschew zu entmachten. Als am Abend des 17. Juni das Präsidium auf Antrag des Chruschtschew-Rivalen Malenkow völlig überraschend beschloß, eine neue Parteiführung unter Ausschluß Chruschtschews zu wählen, flüchtete sich der Partei-Boß in den Schoß des Zentralkomitees.

Der Moskauer Korrespondent des italienischen KP-Organs »L'Unità«, Giuseppe Boffa, hat später aufgrund sowjetischen Informationsmaterials beschrieben, wie sich immer mehr ZK-Funktionäre in den Korridor vor dem Sitzungssaal des Parteipräsidiums schoben und lärmend verlangten, an den Beratungen teilzunehmen. Als endlich 107 Vertreter des Zentralkomitees versammelt waren, holte Chruschtschew zum entscheidenden Gegenschlag aus: Das ZK stellte sich hinter den alten Parteichef und zitierte die »parteifeindliche« Malenkow-Gruppe vor das eigene Tribunal.

Das war der Höhepunkt der ZK-Macht, zugleich aber auch der Beginn ihres Verfalls. Denn schon in den nächsten Monaten machte der Sieger Chruschtschew deutlich, daß er keineswegs von der Gnade eines Parteiparlaments abhängig sein will. Bereits bei der Dezember-Tagung des ZK im vergangenen Jahr zeigte sich, daß Chruschtschew das Parteiparlament wieder zu einem bloßen Akklamationstheater degradieren will.

Zu dieser Tagung brachte Chruschtschew sogar »Menschen aus dem Volke« mit, die an der Sitzung zum höheren Ruhm des Parteichefs teilnahmen, ohne Mitglieder des Zentralkomitees zu sein. Gleichzeitig wurde bekannt, daß sich Chruschtschew mit dem Plan trägt, die Mitgliederzahl des ZK beträchtlich zu vergrößern, wodurch das kommunistische Parteiparlament unbeweglicher würde. Zudem sollen die Technokraten im Zentralkomitee, deren sachlich-skeptische Widerspenstigkeit Chruschtschew keineswegs zu schätzen scheint, durch Nur - Parteifunktionäre abgelöst werden.

Die Position des ZK auf dem XXI. Parteitag könnte sehr wohl ein Fingerzeig dafür sein, ob Chruschtschew sich zum Alleinherrscher aufschwingen will. Denn der Parteitag muß ein neues ZK wählen, und aus der Zusammensetzung des Zentralkomitees wird man erkennen können, welches Eigengewicht Chruschtschew dem Parteiparlament, dieser Keimzelle der sowjetischen Kollektivregierung, künftig noch einräumen will. Er hat es zweifellos zur Zeit in der Hand, das ZK mit seinen Anhängern zu besetzen.

Gleichwohl ist es unwahrscheinlich, daß Nikita Chruschtschew demnächst die Rolle Stalins übernehmen wird. Dazu ist seine Stellung in der Partei noch nicht stark genug. Die Chronik der nachstalinschen Karriere Chruschtschews zeigt, daß er unentwegt seine Stellung, wie am 17. Juni

1957, gegen Konkurrenten verteidigen muß

- stets gewärtig, von einer neuen Rivalengruppe abgehalftert zu werden.

Der englische Ost-Experte Edward Crankshaw weiß außerdem einen soziologisch-historischen Grund dafür zu nennen, daß dem Parteichef vermutlich der Mantel Stalins verwehrt werden wird: »Stalin war eine einzigartige Persönlichkeit, die in einer außergewöhnlichen Periode sowjetischer Geschichte wirkte. Am Ende seiner Zeit hatte sich die sowjetische Gesellschaft schon in ganz unerwarteten Richtungen entwickelt, und es bedurfte seiner ganzen persönlichen Autorität, um die Gesellschaft der Sowjet-Union einigermaßen in den vorgeschriebenen Bahnen zu halten.«

Und weiter: »Chruschtschew dagegen muß sich ständig neuen (gesellschaftlichen) Kräften anpassen, Kräften, die er nicht liquidieren kann, wenn die Sowjet-Union das Tempo ihrer Fortschritte beibehalten soll. Er hat sich mit allen möglichen, gut entwickelten Interessen zu arrangieren.« Schließt Crankshaw optimistisch: »Stalin war eine Dampfwalze. Chruschtschew aber ist ein Seiltänzer und das russische Volk hält die Enden des Seils in der Hand.«

Kölner Stadt-Anzeiger

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